Hannes Lindemann

Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln


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Erste Müdigkeit macht sich bemerkbar. Elga wäscht die Tassen und räumt sie ins Geschirrfach. Ich höre sie in der Kajüte hantieren. Dann kommt ihr kurzer Gruß »Gute Wache«. Sie geht zur Koje. Ich bin allein mit dem segelnden Schiff.

      Mehr Wolken ziehen von Nordosten her. Langsam beginnen sie, einen hohen Wolkenschleier zu bilden. Das kann Wetteränderung bedeuten.

       Nach acht Jahren verfügten wir über das Geld für unsere dreieinhalbjährige Reise. Finanziell hatten wir ein Reservejahr eingeplant, da wir nicht wissen konnten, ob Krankheit oder Politik längere Wartezeiten erforderlich machen würden. Elga hatte ihre Sprachkenntnisse erweitert. Außer Englisch hatte sie sich intensiv mit Französisch, Spanisch und Portugiesisch befaßt. Außerdem besuchte sie einen Kursus für Erste Hilfe.

       Wir verließen unsere Wohnung und zogen an Bord. Zahllose Autoladungen mit Ausrüstungsgegenständen wurden zum Schiff gefahren. Von morgens bis abends wurde besprochen, gekauft, eingepackt und nach Staulisten an Bord wieder ausgepackt. Nachts träumten wir von Kartons, Konservendosen, Ersatzteilen und – mit einiger Beklemmung – von Logarithmen, Höhenstandlinien und Azimutpeilungen. Denn nebenher machten wir noch einen Kursus für die Prüfung zum Sporthochseeschiffer, deren Termin unaufhaltsam näher kam. Unsere Navigationskenntnisse sollten den letzten Schliff erhalten.

       Die Prüfung kam. Wir bestanden sie.

       Zwei Wochen später torkelte »Kairos« über die grau-weißen Brecher und durch die grün-dunklen Wellentäler des Englischen Kanals. Es war ein Hundewetter mit Nebel und Nordostwind Stärke 8. Es hielt fast 20 Stunden an. Als es nachließ, als wir aus den Standlinien einer für Minuten möglichen Sonnenbeobachtung und einer kaum hörbaren Consolfunk-Peilung unseren Standort errechneten, uns dann später an die nächtliche englische Küste herantasteten, da waren Angst und Abschiedsschmerz überwunden. Wir hatten es gewagt.

      Zu Steuerbord im Westen, wo die Wasser der Biskaya grenzenlos in die des Atlantik übergehen, sinkt nun die Sonne blutigrot. Vor dem Glühen des Himmels hängen Schleierwolken. Der Wind verändert sich. Ist er während des Tages in zu- und abnehmendem Schwingen gekommen, so wird er jetzt unruhig hart. Er macht Sprünge und teilt Schläge aus.

      »Elga!« rufe ich. Die vier Stunden meiner Ruderwache sind abgelaufen.

      »Ich komme!« Bald darauf steht sie verschlafen im Niedergang. »Wie geht’s – he?« fragt sie gedehnt. »Was läuft er denn?«

      »Er« bedeutet »Kairos«. Wir haben uns seit seinem Stapellauf noch nicht dazu durchringen können, daß unser Schiff wie üblich eine »Sie« sein soll. »6 Knoten. Wind nimmt zu. Wir müssen reffen für die Nacht. Ja – und Hunger hab’ ich auch.«

      Elga übernimmt die Pinne, während ich das Großsegel reffe. Dann mache ich die Eintragungen für meine Wache im Logbuch: Wind, Strom, Barometerstand, Kurs, Distanz, Segelführung – und übernehme wieder die Pinne. Elga bereitet das Abendessen vor. Es ist bei uns an Bord die Hauptmahlzeit des Tages, der 24 Stunden lang ständig Ruderwachen von uns fordert.

      Im Westen wird das Tageslicht farblos. Dämmerung beginnt zu fallen. Gelb-rot aus Dunst und Wolken über dem östlichen Horizont steigt in diesem Augenblick der fast volle Mond auf. Erst rötlich, dann silbern gießt sein Licht eine schimmernde Bahn auf das schwarz gewordene Meer.

      Elga ißt zuerst. Während ich anschließend meinen Hunger stille, wird mir die Einfachheit unserer neuen Lebensführung bewußt. Wir essen, einfach weil wir Hunger haben. Wir schlafen, einfach weil wir müde sind. Wir wachen, einfach um das Schiff auf Kurs zu halten.

       Auf dem Hafenkai von Dartmouth erinnert eine Bronzetafel an die Schiffe »Mayflower« und »Speedwell«, die im Herbst 1620 mit englischen Kolonisten Dartmouth als Nothafen anliefen, weil die »Speedwell« leckgesprungen war.

       Der Schaden wurde behoben und wiederum vertraut sich eine Handvoll Familien den morschen Planken an. Welch ein Aufbruch: jenseits des Atlantiks in einer unbekannten Welt das zu suchen, was es in der Heimat nicht gab – Freiheit.

       Im Atlantik springt die »Speedwell« wiederum leck und muß umkehren, getreulich begleitet von der »Mayflower«, die in Plymouth zu ihren Passagieren noch die der »Speedwell« übernimmt. Allein, mit überfüllten Decks gelingt es ihr dann, jene Menschen nach Nordamerika zu bringen, die als »Pilgerväter« die Ahnen des nordamerikanischen Volkes wurden. Das war im Herbst 1620.

       Im Sommer 1944 wurden im Hafen von Dartmouth 485 amerikanische Schiffe ausgerüstet und bemannt. Sie brachen auf und nahmen an der Invasion teil als Bruchteil jener Kraft, die über den Atlantik zurückkam, um in Europa das zu retten, wofür ihre Urväter mit zwei Schiffen aufgebrochen waren: Freiheit.

      Elga weckt mich um Mitternacht zur Wachablösung. Es kostet mich Anstrengung, Müdigkeit und Traumerinnerungen abzuschütteln. Das gelbe Licht der Petroleumlampe fällt schwankend auf Kartentisch und Seekarte, in die unsere Kurslinie eingezeichnet ist. Ich stoße die Niedergangsluke auf. Draußen fällt milchiges Mondlicht durch hohen Dunst. Schwarz-silbern wogt die See.

      »Hallo, Faulpelz!« sagt Elga.

      »Was läuft er denn?« frage ich lahm.

      »Fünfeinhalb.«

      »Bist du müde?«

      »Ja.«

      »Ich komme.« Eilig ziehe ich Hemd, Hose und Pullover an und will an Deck klettern.

      »Heh, Seemann, deine kleinen Schuhe!« ruft Elga.

      »Ach ja.« Ich ziehe meine Seestiefel an.

      Über uns die Segel sind windgefüllt, offen wie suchende Hände. »Kairos« rollt schäumend. Seine Formen sind schön, fest eingefügt in eigene und fremde Bewegung.

      »Kurz vor der Morgendämmerung muß das Feuer an der spanischen Küste durchkommen«, sagt Elga.

      »Ja. Punti Candel-sowieso.«

      »Punta Candelaria«, sagt Elga sehr gedehnt und lacht.

      »Marsch, ins Bett!«

      Sie klettert durch den Niedergang hinunter. Ihr Schatten beugt sich über den Kartentisch. Sie trägt ins Logbuch ein: Wind, Strom, Barometerstand … karges Spiegelbild unendlicher, nie wiederkehrender Variationen, die unser Leben himmlisch oder höllengleich gestalten können.

      Das Licht in der Kajüte erlischt, die See wird laut.

       Wir standen ein letztes Mal auf dem Steilufer der englischen Küste. Regenböen zogen über das Land wie über das Meer. Das Land wurde fruchtbar unter ihrem Zuge. Über dem Meere aber löschten sie den Horizont aus und schufen urweltlichen Raum. Fernes Sonnenleuchten ließ einen Regenbogen entstehen.

       Der Mensch wird seinen Ordnungssinn in diesem Raum nicht sichtbar machen können. Er kann das Land beackern und bewohnen, wird ernten. Das Meer kann er nur heimatlos befahren und braucht die ganze Kraft seiner Seele dazu.

       »Wenn es kommt« – so steht geschrieben – »daß ich Wolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen in den Wolken sehen. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allen lebenden Seelen.«

       Genügt also ein Regenbogen, um Mut in der Heimatlosigkeit zu geben? – Wir liefen von Falmouth aus zur Biskayaüberquerung. Doch Schauerböen aus Südwest und West drängten uns dicht an die französische Küste. Abgekämpft blieben wir schließlich in atemloser Flaute liegen. Mit Motorkraft liefen wir den Hafen von Brest an.

      Der sinkende Mond wird jetzt vom Dunst verschluckt. Wie aus Watte steigt im Osten schwaches Tageslicht auf, fließt über ein farbloses Meer. Noch immer kein Zeichen des Feuers von Punta Candelaria voraus. Der Wind weht stark und feucht. Er singt im Rigg. Wachablösung.

      Ich mache meine Logbuch-Eintragung. Das Barometer fällt.

      »Wenn der Wind weiter zunimmt, weck mich zum Reffen.«

      »Ja.