Nancy Farmer

Nebelrache


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      „Das wissen wir, aber gegen den Schlafzauber bist du machtlos. Das ist eben so. Du kannst auch nicht fliegen, egal, wie heftig du mit den Armen wedelst.“

      „Das hat Olaf auch immer gesagt, wenn ich mich im Dichten versucht habe“, sagte Thorgil. „Aber seit ich aus Mimirs Brunnen getrunken habe, bin ich genauso gut wie Jack.“

      „Das glaubst du“, widersprach Jack, den Thorgils Niederlage diebisch freute. Er konnte sich noch perfekt an die Musik des Zaubers erinnern und brannte darauf, ihn an einem der schwarzgesichtigen Schafe auszuprobieren.

      „Ich werde jedenfalls nicht aufgeben“, verkündete sie. „Überleg mal, wie nützlich es wäre, seine Feinde in den Schlaf zu versetzen – wenn es auch nicht sehr ehrenvoll ist, einen Schlafenden zu töten.“

      Der Barde schüttelte den Kopf. „Deine Motive sind wie üblich abstoßend. Sei so nett und sag Seefahrer, dass er in den nächsten Tagen nicht fliegen darf.“ Der Vogel hatte sich in seine Ecke zurückgezogen, nachdem sie ihn geweckt hatten, und er grummelte missmutig vor sich hin.

      Thorgil kniete sich hin und sprach mit ihm. „Er ist nicht glücklich damit, hierbleiben zu müssen. Er sagt, dass er sich auf die Suche nach einem Weibchen machen muss.“

      „Wo will er das tun?“, fragte der Barde.

      Thorgil übersetzte. „Er sagt, dass er südlich von hier einige Weibchen gesehen hat, die fast die richtige Größe hatten.“

      „Fast? Wölfe sind fast so groß wie Lämmer. Hat er irgendwelchen Erfolg gehabt?“

      „Nein, aber er gibt die Hoffnung nicht auf.“

      „Erkläre ihm, dass sein Flügel noch sehr schwach ist und dass er warten muss. Und dann möchte ich, dass ihr Wiesenpflanzen für mich sammelt. Ich brauche Beinwell, Mutterkraut, Minze und Baldrian. Und falls ihr Bilsenkraut findet, bringt es auch mit. Denkt aber daran, es von den übrigen Kräutern getrennt zu halten. Beifuß kann ich auch gut brauchen. Sucht auf sandigem Boden danach.“

      Jack holte die Beutel, die sie immer für die Kräutersuche verwendeten, und kurz darauf waren sie auf dem Weg in das wilde Land, das jenseits der Felder rund um das Dorf lag. Es war warm, und die Dorfbewohner pflanzten bereits Erbsen und Bohnen für den Winter. Thorgil fand ein paar Büschel Lattich und Jack sammelte Beinwell. Inzwischen waren sie am Rand des Haselwalds angekommen.

      „Puh, ist das heiß“, rief Thorgil aus und warf ihre Beutel in die Glockenblumen. Dann legte sie sich am Bach auf den Bauch und spritzte sich Wasser in den Mund. „Aaaah! Das schmeckt so gut wie Met!“

      Jack gab ihr die Häfte der Haferfladen, die beim Frühstück übrig geblieben waren. „Der Barde sagt, dass wir in ein paar Wochen nach Bebbas Town gehen werden.“

      „Ich weiß. Wir müssen Getreide kaufen. Sieht das Licht, das durch die Blätter scheint, nicht wunderschön aus? Und diese Schmetterlinge sind wie weiße Blütenblätter, die durch die Luft wirbeln.“

      Jack wappnete sich gegen einen von Thorgils Gute-Laune-Anfällen. „Ich frage mich nur, wie wir das Getreide nach Hause bringen sollen. Die Straße ist so voller Löcher, dass dort unmöglich ein Karren fahren kann.“

      „Der Barde sagt, dass wir ein Boot nehmen“, berichtete die Schildmaid und setzte sich auf. „Stell dir nur vor, endlich wieder Planken unter den Füßen zu haben! Wellen, die gegen den Bug krachen, der Wind, der in den Ohren heult! Erinnerst du dich an die Farbe, die das Meer bei Sturm annimmt – so grau und grün, und der Wind bläst den Schaum von den Wellen? Dann kann man fast in das Reich von Ägir und Ran sehen“, sagte sie voller Verehrung für die Meeresgötter der Nordmänner. „Weißt du noch?“

      „Ja“, sagte Jack.

      „Sehr glücklich scheinst du bei dem Gedanken aber nicht zu sein.“

      „Wer ist denn schon scharf aufs Ertrinken? Das ist doch die einzige Möglichkeit, um Ran und Ägir zu begegnen.“

      „Darum geht es doch gar nicht!“, rief sie erbost. „Es geht um die Schönheit dieser Farben! Und um die kalte Gischt, die dir ins Gesicht spritzt. Und das Schwappen des Wassers um deine Stiefel. Und das Gefühl, wenn sich das Boot in den Wind legt. Olaf hat immer Münzen verteilt, wenn wir zu kentern drohten, damit wir ein Geschenk für Ran haben, wenn wir ihre Hallen betreten. Das Seekönigreich ist nicht so glorreich wie Walhall, aber es ist nicht schlecht –“

      „Thorgil“, sagte Jack.

      „Ja?“

      „Hör auf zu plappern.“

      „Ich plappere nicht“, sagte sie zu glücklich, um beleidigt zu sein. „Vielleicht mieten wir in Bebbas Town eine knorr. Die sehen zwar nicht besonders gut aus, aber sie können Unmengen Vorräte befördern und machen die ganze Nacht das wundervollste Geräusch – knorr, knorr, knorr. Ein drekar wäre natürlich noch besser.“

      „Wenn die Dorfbewohner einen drekar sähen, würden sie fluchtartig in die Hügel rennen“, sagte Jack.

      „Das sollten sie auch besser. Ein Drachenboot voller Berserker – gibt es einen schöneren Anblick?“ Thorgil lächelte hinauf ins Sonnenlicht, das grün durchs Blätterdach fiel.

      „Allerdings. Einen Lastkahn voller Getreide.“

      „Du bist so langweilig wie eine Wegschnecke. Sag mal, Jack, ich muss dauernd über etwas nachdenken, das während des Gewitters geschehen ist. Ich weiß noch, dass ich über die Mauer des Schafstalls gestiegen bin und dass mich die Hagelkörner getroffen haben. Und dann lag ich dort draußen neben dem toten Schaf. Du hast mich hochgehoben –“

      „In Ausnahmesituationen kann einem der Geist schon mal einen Streich spielen“, sagte Jack hastig und hoffte nur, dass sie sich nicht mehr daran erinnern würde, was er gesagt hatte.

      „Ich weiß, aber mir ist, als hätte ich – ganz klar und deutlich – die Worte ‚Oh, meine Liebste‘ gehört. Ist das nicht komisch? Ich muss es mir eingebildet haben.“

      „Das hast du ganz bestimmt. Der Sturm war viel zu laut, um etwas zu hören.“

      „Die Worte waren aber sehr deutlich.“

      „Wir sollten wieder anfangen zu sammeln“, sagte Jack.

      Thorgil schnitt ihm eine Grimasse. „Von mir aus. Aber zuerst will ich im Bach ein Bad nehmen.“ Sie verschwand hinter ein paar Büschen, und einen Moment später hörte Jack sie herumplanschen.

      Er wendete sich ab und vertrieb sich die Zeit damit, an einem y-förmigen Stock herumzuschnitzen. Ein paar Minuten später kam Thorgil zurück.

      „Das ist eine Wünschelrute“, erklärte Jack und reichte sie ihr. „Sie muss aus Haselnussholz sein, weil die Haselbäume in der Erdmagie wurzeln. Du hältst die Wünschelrute an beiden Enden, und wenn du in der Nähe eines unterirdischen Stroms bist, zuckt die Spitze nach unten.“

      „Hier kann man doch keine fünf Schritte machen, ohne auf einen Strom zu treffen“, sagte Thorgil lachend, „aber trotzdem danke. Ich hebe mir deine Wünschelrute für später auf.“ Sie steckte sich den Zweig in den Gürtel. „Würdest du gern die Vogelsprache lernen?“

      „Wieso – ja!“, antwortete Jack verblüfft. Thorgil hatte ihm tatsächlich gedankt! Und sie hatte angeboten, ihr Wissen mit ihm zu teilen. Und gebadet, ohne dass man sie mit Drohungen dazu zwingen musste. Sie hatte wirklich ungewöhnlich gute Laune.

      „Also gut: So begrüßt du Seefahrer. Als Erstes musst du ihm ein Kompliment zu seinen Flügeln machen.“ Thorgil krächzte – es klang wie eine Mischung aus Stöhnen und Kreischen.

      Jack versuchte, es ihr nachzumachen, und sie verbesserte ihn, bis er es richtig hinbekam. „Wieso muss man ihm Komplimente machen?“, fragte er.

      „Albatrosse sind stolz auf ihre Flügel, und wenn man sie nicht lobt, greifen sie sofort an. Mit Komplimenten jedoch bringst du ihn dazu, in seine Ecke zu gehen. Du bietest an, ihm das Gefieder zu putzen, aber du brauchst