über die Mauer und rannte zu ihr. Er hob sie auf seine Knie. „Oh, meine Liebste!“
Ihre Augen waren weit offen, der Blick starr. Aber sie waren nicht glasig wie bei einer Toten. Jack war so erleichtert, dass er sie fest drückte und sich erst dann Sorgen machte, ob sie womöglich eine gebrochene Rippe hatte. „Er wollte mich nicht mitnehmen“, murmelte sie niedergeschlagen.
„Wer wollte dich nicht mitnehmen?“, fragte Jack, der annahm, dass sie fantasierte.
„Er hat meine nutzlose Hand gesehen und gewusst, dass ich nicht länger ein Krieger bin. Er wollte mich trotzdem, aber Odin hat es verboten. Oh, Freya, ich wünschte, ich wäre tot!“ Thorgil begann zu weinen, was Jack noch mehr beunruhigte, als wenn sie angefangen hätte zu fluchen.
„Bist du innendrin verletzt?“, fragte er besorgt.
„Wenn ja, ist es nichts, das der Tod nicht kurieren würde“, antwortete sie mit einem Hauch ihrer alten Schlagfertigkeit. „Auch wenn ich ihn dann trotzdem nie wiedersehe.“
„Wen? Von wem redest du?“ Im Süden kam die Sonne heraus, und über ihnen hatten sich weiße Wolken am Himmel verteilt.
„Olaf Einbraue“, sagte die Schildmaid und seufzte abgrundtief. „Er war in den Wolken, aber er musste mich zurücklassen.“
Der Haselwald
„Wie kann sie Olaf gesehen haben?“, wollte Jack wissen. „Sie hat gesagt, Odin hätte eine wilde Jagd angeführt, aber alles, was ich gesehen habe, waren Wolken und dieses … dieses Ding, das vom Himmel herunterhing.“
„Dieses Ding ist vermutlich eine Windhose gewesen“, erklärte der Barde und warf eine Handvoll trockener Fichtennadeln ins Feuer. Ein angenehmer Duft verbreitete sich. Thorgil schlief auf einem Bett aus getrocknetem Heidekraut. Einem Schlaftrunk des Barden hatten sie es zu verdanken, dass Thorgil jetzt nicht mehr im Schlaf um sich schlug oder sich die eigenen Haare auszureißen versuchte. Es war die längste Stunde in Jacks bisherigem Leben gewesen, sie zum Haus des Barden zurückzuschleppen, ohne dass sie sich etwas antat.
Ihr Haar war im letzten Jahr deutlich gewachsen, und es war erstaunlich sauber. Es hing ihr auch nicht mehr zottelig ins Gesicht wie zu den Zeiten, als man es mit einem Fischmesser in Form gesäbelt hatte. Es war hellgolden, fast wie Sonnenschein auf Schnee. Trotz der blauen Flecken – und Thorgil kannte man eigentlich nie ohne – hatten ihre Gesichtszüge eine Feinheit, die Jack bisher nie bemerkt hatte. Erst jetzt erkannte er, dass sie sich im letzten Jahr verändert hatte, dass sie größer und hübscher geworden war.
Jack wendete sich ab, und seine Wangen glühten vor Verlegenheit. Was machte das für einen Unterschied? Sie war immer noch dieselbe ewig missgelaunte Thorgil, egal, wie sie aussah.
„Ich habe noch nie erlebt, dass eine Windhose solche Verwüstungen anrichtet“, bemerkte der alte Mann und wühlte in einer Truhe herum. „Sie hat eine Schneise in den Wald geschlagen und offenbar auch Gog und Magog mitgerissen.“
„Was?“, fragte Jack entgeistert. Nachdem er nach Hause gerannt war, um nach seinen Eltern zu sehen, hatte Jack den Rest des vergangenen Nachmittags damit verbracht, dem Barden bei der Zubereitung seiner Elixiere zu helfen. Jetzt war es Morgen, und Jack war seit dem Gewitter nicht mehr in der Nähe des Dorfs gewesen.
„Der Sohn des Schmieds hat mir erzählt, dass Gog und Magog verschwunden sind.“
„Vielleicht sind sie weggelaufen“, sagte Jack hastig. Der Gedanke, dass die beiden Männer in den Himmel gesaugt worden waren, war zu schrecklich.
„Ich fürchte, nein. Der Schmied sagt, dass sie gern bei Gewitter draußen gesessen haben. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sie lächeln gesehen hat, und da sie sonst keine Vergnügungen hatten, wollte er es ihnen nicht verbieten. Was anscheinend ein Fehler war.“
Jack hatte Gog und Magog auch schon während eines Gewitters im Schlamm hocken sehen. Damals schienen sie von einer wilden Freude erfüllt, die Jack weder verstehen konnte noch ansehen wollte, und er war weggerannt, so schnell er konnte. Er schauderte. „Wo sind sie jetzt, Herr?“
„Das hängt davon ab, wer für diese wilde Jagd verantwortlich war.“ Der Barde stellte eine Reihe von Gefäßen auf, schnupperte an jedem einzelnen und wählte eines aus. Dann nahm er einen großen Mörser von einem Bord. „Oh, ja, es hat eine Jagd stattgefunden“, versicherte er und fing an, die Kräuter zu zermahlen. „Wer sie anführt, das hängt vom Betrachter ab. Bruder Aiden war als Kind auch mal ein Gejagter, bis Pater Severus ihn gerettet hat. Aiden war damals überzeugt, dass er den Herrn des Waldes mit seinen Hunden gesehen hat. Severus dagegen glaubte, dass es Satan war, der die Seelen der Verdammten anführte.“
„Und Thorgil hat Olaf Einbraue gesehen“, fügte Jack hinzu.
„Wenn sie recht hat, sind Gog und Magog jetzt in Walhall. Das würde Thorgil schön wütend machen, meinst du nicht?“ Die blauen Augen des Barden funkelten. „Aber Thorgil wäre nicht Thorgil, wenn sie nicht immer wütend wäre.“
„Wenn Ihr es sagt.“ Wenn es nach Jack ginge, hätte die Schildmaid gern umgänglicher sein dürfen – mehr wie Pega zum Beispiel. Es war wirklich anstrengend, ständig zwischen ihr und den Feinden zu vermitteln, die sie sich überall machte. Aber dennoch, als er sie vor dem Schafstall hatte liegen sehen, so tot wie das arme Schaf …
„Es geht ihr gut“, sagte der Barde, der wieder einmal Jacks Gedanken zu lesen schien. „Und jetzt möchte ich, dass du den Inhalt dieses Mörsers mit einem Klumpen Butter von der Größe eines Hühnereis vermischst. Knete eine Handvoll Mehl mit genügend Wasser, bis eine feste Paste entsteht, vermische alles und forme daraus Pillen, so groß wie Erbsen. Dann trockne sie am Feuer.“
„In welches Gefäß soll ich sie tun?“, fragte Jack, der diese Arbeit schon öfter gemacht hatte.
„Für Kopfweh – das grüne. Du meine Güte, der Garten ist beinahe leer gepflückt. Ich werde Kräuter aus dem Wald brauchen.“
Kurze Zeit später gingen sie den Pfad hinunter. Thorgil ließen sie schlafen. Der Barde hatte seine gute Robe angezogen und mit einem Gürtel so hochgerafft, dass sie vor dem Schlamm geschützt war. Der weiße Bart wehte ihm über die Brust, und seine Füße steckten in hellen Lederstiefeln, die vorn geschnürt wurden. Obwohl er so alt war, musste er sich kaum auf seinen schwarzen Eschenstab stützen, doch er brauchte Jack, um die Elixiere und die Harfe zu tragen.
Jack spürte die Erdmagie, die die Luft rund um den Stab erfüllte. Sie weckte Sehnsucht in ihm. Auch er hatte einmal einen solchen magischen Stab besessen. Und er hatte die Schutzrune besessen, sofern man überhaupt von Besitz sprechen konnte. Die Rune wechselte von einem Menschen zum nächsten und folgte dabei ihrem eigenen Schicksal. Niemand konnte darauf Einfluss nehmen, schon gar nicht der, der sie unbedingt besitzen wollte. Einmal fortgegeben, konnte sie nie zurückkehren. Jack seufzte, als er an die eingravierte Weltesche Yggdrasil dachte. Die Rune hatte viele Jahre über den Barden gewacht, bevor Jack sie bekommen hatte, der sie dann – in einem Anfall geistiger Umnachtung, wie er verbittert dachte – an Thorgil weitergegeben hatte.
Die Felder waren merkwürdig kahl, wie gerupfte Hühner, und bei mehr als einem Haus fehlte das Dach. Wasser quoll an verschiedenen Stellen aus den Hügeln. Bäche hatten neue Furchen in die Erde geschnitten und hier und dort glitzerte das Sonnenlicht auf einem Teich.
Jack warf einen Blick zurück auf das Haus des Barden, das gefährlich nah am Rand einer Klippe stand. Es hatte den Sturm gut überstanden. Ob es nur Glück gewesen war oder etwas mit der Zauberei des alten Mannes zu tun hatte, wusste Jack nicht, aber das Haus klammerte sich immer noch an den Felsen wie eine Napfschnecke.
Sie gingen durchs Dorf, verteilten Medizin, wo sie gebraucht wurde, und erteilten gute Ratschläge. Beim Haus des Schmieds spielte der Barde auf seiner Harfe, um die Familie ein wenig aufzumuntern.
„Gog und Magog waren für mich wie meine eigenen Söhne – also, zumindest, wenn sie ein bisschen klüger und vorzeigbarer gewesen wären“, behauptete der Schmied und ließ