Nancy Farmer

Nebelrache


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verstummte, um besser zuhören zu können.

      „Bei Thor, diese Tanner-Gören sind bei meinen Pferden!“ Thorgil rannte los, und Jack sprintete hinter ihr her, um den unvermeidlichen Streit zu schlichten. Die Töchter des Gerbers waren fasziniert von den Pferden – ein Geschenk von König Brutus im Jahr zuvor. Im Grunde war nicht genau geklärt, wessen Pferde es waren, weil die ganze Pilgergruppe sie für den Rückweg aus Bebbas Town bekommen hatte. Jack fand, dass sie eigentlich dem Barden gehören sollten, aber Thorgil bestand darauf, dass sie das alleinige Anrecht darauf hatte, weil sie die einzige Kriegerin unter ihnen war.

      „Schert euch da runter, ihr räudiges Pack! Ihr werdet die Tiere verderben!“ Thorgil pfiff und die Pferde fuhren so schnell herum, dass ihre kleinen Reiterinnen im Dreck landeten. Die Pferde bremsten vor der Schildmaid und tänzelten nervös. Jack lief zu den weinenden Mädchen. „Sag ihnen, dass sie damit aufhören sollen, oder ich gebe ihnen einen wirklichen Grund zum Heulen“, fauchte Thorgil und strich ihren Pferden über die Mähnen.

      Jack vergewisserte sich, dass die Mädchen unverletzt waren. Die beiden waren acht und zehn Jahre alt, aber klein für ihr Alter, was an den Jahren der Unterernährung und den giftigen Dämpfen der alten Gerberei lag, in der sie bis zum Tod ihres Vaters gelebt hatten.

      „Es sind doch nur Kinder“, schalt Jack und wischte den Mädchen die schmutzigen, verweinten Gesichter mit dem Saum seines Hemds ab. „In ihrem Alter hast du bestimmt genau dasselbe gemacht.“

      „Ich war eine Schildmaid. Ich war die Tochter von –“

      „Vorsicht!“, unterbrach Jack sie scharf. Die Mädchen hörten auf zu weinen und musterten Thorgil neugierig.

      „Wer war denn dein Papa?“, fragte die Ältere.

      „Bestimmt ein Troll“, sagte die Jüngere kichernd. Thorgil bückte sich, doch die beiden rasten davon, bevor sie einen Stein nach ihnen werfen konnte.

      „Blöde Sumpfratten“, knurrte sie.

      „Du musst dich nur einmal verplappern“, warnte Jack. „Ein Wort, dass du kein Angelsachse bist, und sofort wird sich das ganze Dorf gegen dich stellen. Und gegen meine Eltern und mich, weil wir dich bei uns aufgenommen haben.“

      „Diese Schuld ist das Einzige, was mich davon abhält, ihnen meine wahre Herkunft ins Gesicht zu schreien.“ Thorgil legte die Arme um den Hals eines der Pferde, und es pustete ihr einen langen Pferdekuss in die Haare. Jack war wieder einmal beeindruckt, wie sehr die Tiere sie liebten. Wirklich schade, dass Thorgil diese Wirkung nicht auch auf Menschen hatte.

      „Lass uns ins Haus gehen“, sagte Jack. „Ich verhungere, und wir müssen noch den ganzen Nachmittag Farnkraut schneiden.“

      „Das verfluchte Zeug“, wütete Thorgil. „Dieses ganze verfluchte sinnlose und langweilige Leben in diesem Dorf. Ich würde mich schon für eine verfaulte Rübe von einer Klippe ins Meer stürzen!“

      „Würdest du nicht“, sagte Jack und ging voraus.

      Die wilde Jagd

      Thorgils schlechte Laune folgte ihnen bis nach Hause. Sie nahm Mutters Essen mürrisch entgegen und wollte wortlos anfangen, sich damit vollzustopfen.

      „In diesem Dorf ist es üblich, sich für das Essen zu bedanken“, sagte Mutter.

      Jack seufzte unhörbar. Der Schildmaid zumindest ein paar Manieren beizubringen – das war wohl eine Schlacht, die niemals ein Ende finden würde.

      „Wieso?“, fragte Thorgil bockig.

      „Um seine Dankbarkeit zu zeigen.“

      „Ich bin dankbar. Ich esse diesen Fraß, oder etwa nicht? Außerdem macht das genauso viel Sinn, als würdest du mir dafür danken, dass ich Farn schneide. Wenn wir damit anfangen, dass sich jeder beim anderen für jede kleine Handreichung bedankt, werden wir nicht mehr zum Arbeiten kommen.“

      „Darum geht es nicht“, widersprach Mutter geduldig. „Die Menschen hören gern ein paar nette Worte. Es ist dasselbe wie ‚Guten Morgen‘ oder ‚Wie geht es dir?‘.“

      „Und wenn es ein lausiger Morgen ist oder es mich nicht die Bohne interessiert, wie es jemandem geht?“

      „Ach, mach doch, was du willst!“, rief Mutter aus. „Manchmal wünschte ich, dass ein Nordmann-Schiff kommt und dich mitnimmt!“ Sie stürmte hinaus, und Jack hob die Brauen. Es passte nicht zu seiner Mutter, dass sie so die Beherrschung verlor. Aber wenn Thorgil eine ihrer Launen hatte, machte sogar der sanfte Bruder Aiden Tintenkleckse auf seine Manuskripte.

      Jack hörte, wie seine Mutter mit Pega besprach, auf welche Weise sie das Vieh vor dem aufziehenden Gewitter schützen konnten. Die Kühe und Pferde würden sich in der Scheune zusammendrängen müssen. Die robusteren Schafe konnten draußen bleiben.

      „Sogar Olaf Einbraue hat den Leuten einen Guten Morgen gewünscht“, bemerkte Jack und bezog sich damit auf Thorgils verstorbenen Pflegevater.

      „Aber nur, wenn es auch ein guter Morgen war. Er hat nie gelogen.“ Thorgil fuhr sich mit der Hand über die Augen.

      „Weinst du etwa?“

      „Natürlich nicht. Es ist nur dieser stinkige Qualm in dieser stinkigen Hütte.“ Die Schildmaid rieb immer noch an ihren Augen herum.

      „Willst du etwas von meinem Brot haben?“

      „Wieso sollte ich deine wurmzerfressenen Essensreste haben wollen?“, fuhr Thorgil ihn an, doch an der Art, wie sie aß, war deutlich zu erkennen, wie viel Hunger sie hatte.

      Mitgefühl war bei ihr total verschwendet, dachte Jack. Sie betrachtete es als Schwäche. Ihre Wutausbrüche waren mit Sommergewittern zu vergleichen, die Blitze flogen in alle Richtungen, aber wenn man geduldig war – und die Beleidigungen einfach ignorierte –, verzogen sich die schwarzen Wolken irgendwann wieder. Jack war nicht sicher, was ihm lieber war, Thorgils schlechte Laune oder ihre gelegentlichen Anfälle von Freude. Manchmal bekam sie eine Art Rappel und geriet über Farben, Gerüche oder Geräusche vollkommen aus dem Häuschen. Dann packte sie seinen Arm und zwang ihn, sich auf das zu konzentrieren, was es gerade war.

      Der Barde sagte, dass das passierte, weil Thorgil als Berserkerin aufgezogen und damit dem Tod geweiht war. Aber seit sie die Schutzrune trug, stand sie unter dem Schutz der Erdmagie. Da war es nur verständlich, dass diese beiden Instinkte einander bekämpften.

      Pega kam mit einem Huhn im Korb an die Tür, und Jacks Laune besserte sich schlagartig. Bei Pega fühlte man sich nie schlecht. Sie war immer vernünftig und stets bemüht, andere Leute glücklich zu machen. Sie half Mutter beim Kochen, jätete Unkraut im Kräutergarten des Barden und wachte darüber, dass Bruder Aiden das Essen nicht vergaß. Sie war als Sklavin geboren worden und für jedes nette Wort rührend dankbar. Jack fand, dass sie beinahe hübsch war, wenn man nicht auf das entstellende Muttermal achtete, das die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Der Barde sagte, dass es an ihrer Seele lag, die durchschimmerte, so wie Thorgils ewiges Grollen ihre tatsächliche Schönheit verbarg.

      „Wir müssen die Hühner hier unterbringen“, erklärte Pega und stellte den Korb an der Wand ab. „Du solltest den Himmel im Süden sehen! Er ist ganz komisch und dunkel, aber es sind keine Wolken zu erkennen.“

      „Brauchst du Hilfe?“, fragte Jack hoffnungsvoll.

      „Ich brauche dich, um den Arbeitern ihr Essen aufs Feld zu bringen“, sagte Mutter, die mit einem weiteren Huhn unter dem Arm die Tür aufstieß. „So wie der Himmel aussieht, schafft ihr es nicht, noch mehr Farn zu schneiden. Sieh auf dem Rückweg noch einmal nach den Bienen.“

      Sie lächelte nicht, und Jack fand es unfair, dass er zusammen mit Thorgil in Ungnade gefallen war. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass die Schildmaid nicht zu zügeln war. Sogar Olaf Einbraue hatte sie gelegentlich von einer Klippe baumeln lassen, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Leider hatte Olaf sie auch für schlechtes Benehmen belohnt, denn die Nordmänner hatten mit guten Manieren nichts im Sinn.