Nancy Farmer

Nebelrache


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verzichten.

      Die Glocke läutete zum dritten Mal, und gleich im Anschluss ertönte vom Meer ein grauenvolles Heulen. Jacks Hand fuhr zum Messer. Das Heulen verblasste zu einem Schluchzer, dann verstummte es. Jack stand da wie erstarrt, und sein Blick suchte die Wellen ab. Er sah einen langen, andersfarbigen Fleck im Meer, der sich aufs Land zubewegte, doch dann verschwand er wieder.

      Wahrscheinlich Seetang, dachte Jack. Trotzdem starrte er aufs Meer hinaus, bis die einbrechende Dunkelheit ihn zum Aufgeben zwang.

      Im Haus des Barden brannte ein Feuer aus Treibholz mit grünen, roten und gelben Flammen. In einem Eisentopf brodelte es, und der Duft von Pilzen stieg daraus auf. Alles war so, wie es sein sollte. Die gemalten Vögel an den Wänden bewegten sich im Feuerschein, und die Blätter eines ebenfalls gemalten Blumengartens schienen in der Brise zu wehen.

      Jack wollte den Barden fragen, ob er den Schrei gehört hatte, als ihm auffiel, dass der alte Mann einen sehr großen, zerrupft aussehenden Vogel mit Fischstückchen fütterte. Thorgil hockte neben ihm und schien sich – dem Gekrächze nach zu urteilen – angeregt mit ihm zu unterhalten. Sehr glücklich sah sie nicht aus, und Jack vermutete, dass der Barde sie mit Drohungen dazu gebracht hatte.

      „Sieh mal, was der Sturm hergetrieben hat“, sagte der Barde. „Hol uns etwas von dem Eintopf, während ich unseren Freund zu Bett bringe.“ Er drängte den Vogel in eine mit Stroh ausgelegte Ecke. Jack fiel auf, wie unsicher der Vogel hüpfte und dass einer seiner Flügel auf dem Boden schleifte.

      „Was ist das?“, fragte er.

      „Ein wahres Wunder“, antwortete der Barde begeistert. „Er ist ein – was sagtest du, Thorgil?“

      „Ein Albatros“, knurrte sie mürrisch. Sie war blass und hatte eine schlimme Prellung im Gesicht, aber davon abgesehen schien sie sich erholt zu haben.

      „Er ist ein Besucher aus dem fernen Süden, und damit meine ich sehr fern“, sagte der Barde. „Stell dir das vor! Es gibt ein Land, von dem selbst ich noch nie gehört habe. Es ist ein Land voller Berge aus Eis, die den ganzen Winter ächzen und in Inseln zerbrechen, wenn es Sommer wird.“

      „Das klingt wie Jötunheim“, stellte Jack fest.

      „Das dachte ich anfangs auch, aber Seefahrer – das ist der Name des Vogels – sagt, dass dort nur Vögel und Robben leben. Es ist so abgelegen, dass ich seine Sprache nicht verstehe. Zum Glück kann Thorgil ihn verstehen.“

      Jack holte die Schalen, legte ein Stück Brot in jede und löffelte den Eintopf darauf.

      „Der arme Kerl hat die volle Wucht des Sturms abbekommen und sich dabei den Flügel ausgerenkt. Thorgil hat ihn in der Brandung herumzappeln sehen und ihn hergetragen.“ Der Barde war ganz aufgeregt wegen ihres neuen Gastes, und Jack nahm an, dass Grund dafür nicht der Vogel an sich war, sondern die Geschichten über ein ganz neues Land, die sie zu hören bekommen würden. Der Barde war an Neuem immer sehr interessiert.

      Jack und Thorgil setzten sich zum Essen auf den Boden. „Eine so große Möwe habe ich noch nie gesehen“, sagte Jack und beobachtete den Vogel, der unruhig in seiner Ecke herumhüpfte.

      „Etwas wie ihn habe ich auch noch nie gesehen“, bestätigte der Barde. „Als er hier ankam, war er auch nicht besonders freundlich – er hat versucht, mir die Augen auszuhacken –, aber ich habe ihn mit einem Angstzauber unter Kontrolle gebracht. Jetzt herrscht zwischen uns eine Art Waffenstillstand. Er braucht meine Hilfe, aber er wird sie nur bekommen, wenn er sich benimmt.“

      „Diesen Angstzauber würde ich gern lernen“, bemerkte Thorgil und spießte ein Fleischstück mit dem Messer auf.

      „Nicht im Traum würde ich daran denken, ihn dir beizubringen“, sagte der Barde. „Du würdest damit jedes Mal das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzen, wenn du schlechte Laune hast.“

      Der Albatros klackte mit dem Schnabel. Jack hielt ihm auf Armeslänge ein Stückchen Fleisch hin. Der Vogel schnappte es sich, bevor er sich wieder in den Schatten zurückzog.

      „Er vertraut dir“, sagte der Barde anerkennend. „Das ist sehr interessant. Deine Kräfte sind gewachsen, seit du deinen Stab verloren hast.“

      Jack konzentrierte sich auf sein Essen. Es tat immer noch weh, wenn er an seinen Stab dachte. Er hatte ihn vom Baum Yggdrasil abgeschnitten. Es war ein echter Bardenstab gewesen, aber leider hatte er, Jack, nie die Chance gehabt, herauszufinden, welche Kraft tatsächlich in ihm steckte. Er hatte mit ihm die Kluft zwischen Leben und Unleben überbrückt, um Din Guardi von einem Fluch zu befreien. Und jetzt war der Stab verschwunden wie Asche im Wind.

      „Diese Tat hat dir eine Tür in die unsichtbare Welt geöffnet“, sagte der Barde, der mal wieder wusste, was in Jacks Kopf vorging. „Ein Opfer, zur rechten Zeit dargeboten, ist stärker als jede Magie.“

      „Die Nordmänner opfern Sklaven“, mischte sich Thorgil ein. „Aber ich habe nie gesehen, dass es denen etwas Gutes gebracht hätte.“

      „Ich spreche hier nicht vom Abschlachten wehrloser Sklaven. Ich spreche von einem Mann, der sein Leben opfert, damit andere leben, oder von einer Frau, die sich zu Tode hungert, nur um die Münder ihrer Kinder zu füllen.“

      „Ihr klingt wie einer von diesen jämmerlichen Christen“, sagte die Schildmaid verächtlich. Jack hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Es dauerte zwar eine ganze Weile, bis der Barde wütend wurde, aber es war trotzdem nicht ratsam, ihn zu weit zu treiben.

      „Ich würde die Christen nicht so abtun, Thorgil Spatzenhirn“, sagte der alte Mann. „Sie mögen schwach wirken und einige von ihnen sind zweifellos Spitzbuben, aber sie haben oft genug Situationen überstanden, bei denen selbst dem größten Helden das Blut in den Adern gefroren wäre.“

      „Die taugen doch nur, um Mistkarren zu ziehen“, sagte Thorgil unvorsichtig. „Die Zukunft gehört immer den Starken.“

      „Genau dieser Glaube wird der Untergang der Nordmänner sein.“

      „Untergang?“ Thorgil sprang auf. „Mein Volk wird nie besiegt werden! Unser Ruhm wird niemals sterben!“

      Einen kurzen Moment loderten die Flammen im Herd hoch auf, und der Schatten des Barden wurde riesengroß. Thorgil sank auf den Boden, die Augen weit aufgerissen und verängstigt. Der Albatros stöhnte, und Jack war plötzlich ganz verschwitzt. Dann nahmen die Flammen wieder ihre normale Größe an. Der Barde war wieder der freundliche alte Mann, normal groß und ein bisschen gebrechlich.

      „Guter Angstzauber“, murmelte Jack.

      „Danke“, sagte der alte Mann. „Ich habe ihn von einer Seehexe auf den Orkney-Inseln gelernt.“

      Die Schildmaid rappelte sich auf und setzte sich so würdevoll hin, wie sie nur konnte. Ihre Augen schossen Blitze auf den Barden.

      Er achtete nicht darauf und sprach weiter. „Hier sind viele merkwürdige Dinge geschehen: die wilde Jagd, der Verlust von Gog und Magog, die Ankunft von Seefahrer, dieser Schrei vom Meer.“

      „Dann habt Ihr ihn auch gehört, Herr?“, fragte Jack.

      „Er war ja nicht zu überhören. Ich war auf den Klippen und habe die Wellen beobachtet“, berichtete der Barde. „Ich hatte gehofft, noch einen Albatros zu finden. Der Schrei ertönte direkt unter mir, und als ich gerade hinuntersteigen und nachsehen wollte, hat etwas den Kopf aus dem Wasser gestreckt. Es war so lang wie ein Nordmann-Schiff und hatte einen langen geringelten Schwanz.“

      „Eine Seeschlange?“, rief Jack entsetzt.

      „Ein noch viel selteneres Wesen. Es war eine piktische Bestie.“

      „Ich wusste doch, dass wir vom Pech verfolgt sind“, sagte Jack.

      „Du meine Güte“, schalt der Barde. „Nicht alles Piktische ist schlecht. Nun, jedenfalls schien die Bestie von dem Schrei angelockt worden zu sein. Sie schwamm direkt auf den Strand zu, und ich rannte zu meinem Stab. Man weiß ja nie, ob ein Monster hungrig ist oder nur neugierig. Aber es war verschwunden, als ich zurückkam.“