Kurd Lasswitz

Wirklichkeiten


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Gehirne jenes umfassende System herstellt, das wir die Kulturentwickelung der Menschheit nennen. Das ist die Auffassung der Welt, wie sie uns theoretisch als Naturerkenntnis zugänglich ist.

      Aber dieses Geschehen in Raum und Zeit besteht nicht bloß in der Einheit des Gesetzes, sondern auch als erlebte Einheit im Bewußtsein individueller Geister. Es ist nämlich unter jenen Systemen eines, von dem ich die unmittelbare Erfahrung habe, daß jene Zusammenhänge in ihrer Einheit erlebt werden, daß sie den Charakter der Bewußtheit besitzen. Dieses System ist mein Leib. Alles, was mit diesem in gesetzliche Beziehung tritt, wird erlebt als mein Ich. Daher weiß ich, daß es Einheiten gibt, in denen die Natur sich selbst erlebt, und daher ist der Begriff einer Weltseele zum mindesten der Natur nicht widersprechend. Nur freilich wie weit dieses Selbsterleben sich ausdehnt, das weiß ich nicht. Ich muß annehmen, daß überall, wo dieselben Einheitsbeziehungen bestehen, auch dieselben Erlebnisse sich einstellen, und ich darf daher erwarten, daß, je näher eine Organisation der meinigen steht, um so ähnlicher auch ihre Seele, ihr Erlebnis dem meinigen ist. Bis wohin sich die Ähnlichkeit erstreckt, läßt sich nur aus dem Verhalten der Systeme schließen. Wenn aber Gründe sich finden sollten, weshalb ich jeder Einheitsbeziehung in der Natur Bewußtheit zuschreiben zu müssen glaubte, so hindert mich nichts daran. Ein menschenähnliches Bewußtsein werden wir dort voraussetzen, wo ähnliche gesetzmäßige Systeme vorhanden sind, also Nervensysteme und Gehirne wie bei uns; denn die Erfahrung lehrt, daß die Einheit unseres Ich nur erlebt wird, insofern die Einheit des Gehirns intakt ist.

      Prinzipiell jedoch darf man annehmen, daß überall, wo einheitliche Systeme in der Natur existieren, auch diese Einheiten sich erleben. Nicht nur die Tiere und Pflanzen mögen daher individuelles Bewußtsein besitzen, ebenso wie jede Zelle, auch die Planeten und Sonnensysteme können bewußte Wesen sein, ja selbst jede einfachste physische Wechselwirkung, insofern die Einheit des gesetzlichen Zusammenhangs ihrer Teile vorhanden ist, braucht vom Selbsterlebnis nicht ausgeschlossen zu sein. Entsprechend der komplizierten Wechselwirkung einfacher Systeme in immer höheren Systemen kann man sich auch die Grade des Bewußtseins und die Mannigfaltigkeit des Erlebnisses in unzähligen Stufen geordnet denken.

      Das »Erleben« ist somit aufzufassen als die Wechselwirkung selbst, die an einem System, im Zusammenhang mit andern stattfindet. Ich erfahre es nur an dem System, das mein Leib bildet, und zwar erfahre ich es als Tatsache, daß Veränderungen in dem Zustande vor sich gehen, den ich mein Ich, mein eigenes Bewußtsein nenne. Insofern ist Bewußtsein die einzige Form der Existenz, die wir kennen; denn alle Veränderungen der Dinge können wir allein durch solche Angaben beschreiben, wie sie in unserem Bewußtsein enthalten sind, aus Anschauungen des Raumes und der Zeit, Begriffen der Größe, der Qualität, der Abhängigkeit, Empfindungen der Härte, der Farbe, der Wärme usw. Aus diesen Daten des Bewußtseins erst sondert sich im Verlauf der Erfahrung des einzelnen und im Verlauf der Geschichte des menschlichen Denkens eine Gruppe, ein System von Tatsachen heraus, die wir die Natur nennen, weil sie eine Gesetzlichkeit für sich bildet.

      Dadurch tritt Natur als eine Realität besonderer Art derjenigen Realität gegenüber, die in unserem Ich als gesetzlich unbestimmt, oder wenigstens für uns nicht bestimmbar, übrig bleibt, und die wir als unser Gefühl bezeichnen. Das Gefühl unterscheidet uns als individuelle Geister innerhalb des Gesamtzusammenhanges der Welt. So trennt sich also innerhalb des Bewußtseins erst das gesetzliche Geschehen der Natur von dem subjektiven Gefühl, und erst in diesem Gegensatze, in welchen das Erlebnis sich spaltet, zeigt sich der gesetzliche Inhalt in Raum und Zeit als Körperwelt neben und zusammen mit jenem Gebiete, das als Vorstellungswelt und Seele seine individuelle Beschaffenheit beibehält. Aber so wenig wir aufhören, Bewußtsein zu haben, weil wir einen Körper besitzen, ebensowenig brauchen wir andern räumlich-zeitlichen Einheiten die Seele abzusprechen. Nur dürfen wir mit diesem Zugeständnis keinen Mißbrauch treiben. Wir dürfen nie vergessen, daß wir aus der Annahme einer Beseelung der Natur absolut keine wissenschaftliche Erklärung der Natur gewinnen können. Denn alles, was die Erkenntnis zu leisten vermag, leistet sie lediglich unter der Voraussetzung der widerspruchslosen Gesetzlichkeit, und diese ist allein in der räumlich-zeitlichen Wechselwirkung anzutreffen. Diese ist ja eben deswegen als Natur vom seelischen Erlebnis abgesondert worden. Es können immer nur andere als naturwissenschaftliche Rücksichten sein, die den Gedanken einer Weltseele nahezulegen vermögen.

      Einheitliche Systeme der Natur, wie Molekeln, Organismen, Planeten, mit Bewußtsein begabt zu denken, mag ein berechtigter Analogieschluß sein. Dann müssen wir uns diese Systeme auch stets als individuelle Seelenwesen vorstellen. Es liegt ja im Begriff des Individuums, daß es nur durch die Wechselwirkung mit anderen Individuen existiert, sowohl als physisches System wie als damit identische psychische Einheit. Dürfen wir nun diesen Schluß auch auf das Ganze der Welt übertragen? Dürfen wir von einer Weltseele sprechen in dem Sinne, daß es ein Bewußtsein des Universums gibt?

      Das ist eine Frage, deren Beantwortung unmöglich ist, weil schon die Voraussetzung der Totalität des Weltalls jede Erfahrung übersteigt. Die Grenzen, innerhalb deren unsere Begriffe Recht und Geltung besitzen, sind überschritten, weil sie durch keine Anschauung mehr bestätigt werden können. Die Frage kann nur noch so gestellt werden: Gibt es Interessen der Menschheit, die den Glauben an eine Weltseele erfordern? Solche Interessen können Motive des Willens oder des Gefühls sein. Ihnen nachzugehen ist eine Aufgabe für sich. Diesen Fragen ist überhaupt nicht beizukommen, indem man von der Natur ausgeht und sie zum Universum erweitert; denn dann bleibt man immer in den Grenzen von Raum, Zeit und Notwendigkeit. Dann besteht jeder Schritt nur darin, daß man weiß, dies muß so sein, weil jenes ist, und jenes wieder, weil ein anderes ist, jeder Zustand ist bedingt durch einen anderen; man gelangt stets auf einen unendlichen Prozeß, der zuletzt ins Unbestimmte verschwimmt. Alles was ist, ist dann zwar bestimmt durch ein anderes, aber daß überhaupt etwas ist, bleibt vom Standpunkte der Naturerfahrung aus ein Zufall.

      Daß überhaupt etwas ist, wissen wir nicht aus der Erkenntnis, sondern aus dem Selbstgefühl, daß wir selbst sind. Und nur von hier aus können wir den unverrückbaren Standpunkt gewinnen, von dem aus das Ganze der Natur jetzt als das Mittel erscheint zu dem Zwecke, daß überhaupt etwas sein soll, nämlich Verwirklichung des Guten durch die Freiheit sittlicher Persönlichkeiten. Nur von dem Weltzweck aus, der in der Forderung des Sittengesetzes gegeben ist, könnte man fragen, ob die Weltseele nötig sei zu vermitteln zwischen der Idee des Guten und der Natur, wie einst Platon es glaubte. Und dann könnte man doch das Wort »Weltseele« nur verstehen als Symbol eines Vernunftgesetzes, als eine Versinnbildlichung unseres Glaubens an den Willen Gottes, in welchem Gesetz und Freiheit zusammenfallen.

      Ins Inn're der Natur

      Daß »Natur« ein vieldeutiges Wort ist, weiß jedermann; trotzdem läßt sich eine mächtige, in der Gegenwart lebendige Bewegung im Grunde auf eine mangelhafte Unterscheidung der Bedeutungen dieses Wortes zurückführen. Schon vor mehr als zweihundert Jahren hat der berühmte Chemiker Robert Boyle in einer kleinen Schrift »Über die Natur selbst« sich über die Fehlschlüsse beklagt, die aus dem Mißbrauch des Wortes »Natur« hervorgehen. Er könnte es, wenn er heute lebte, in noch viel ausgedehnterem Maße tun, nachdem der von ihm vertretene Begriff des Naturmechanismus eine vertiefte, durch die wissenschaftliche Forschung gerechtfertigte Bedeutung gewonnen hat. Denn neben der exakten Bestimmung, wonach Natur den Inbegriff dessen umfaßt, was der Notwendigkeit erkennbarer Gesetze unterliegt und somit den Gegenstand der Naturwissenschaft ausmacht, verstehen wir andrerseits unter Natur auch immer noch jenes unbestimmte Etwas, das uns wie ein ursprünglich Gegebenes entgegentritt, wenn wir gegenüber den Verfeinerungen der Kultur auf unser innerstes Wesen zurückzugehen versuchen. In diesem Sinne ist »Natur« das Losungswort für alle Bestrebungen, die irgend eine wirkliche oder scheinbare Stockung im Kulturleben durch eine Besinnung auf die unmittelbare Erfahrung des Menschen zu beseitigen wünschen. Natur ist also dann – im Geiste Rousseaus – der direkte Gegensatz zur Kultur, die als eine Entartung des Natürlichen erscheint; und damit kehrt sich der Sinn des Wortes genau in das Gegenteil dessen, was die Wissenschaft mit Natur bezeichnet. Im wissenschaftlichen Sinne bedeutet die Natur nämlich jenes Gebiet der Naturgesetzlichkeit, das nur im Fortschritt der Erkenntnis von uns erobert wurde und demnach selbst ein Erzeugnis der Kultur ist.

      Hieraus