Kurd Lasswitz

Wirklichkeiten


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Materie. Die Tatsache der unvermittelten Attraktion steht für Newton sicher; Materie als »unbeseelter, roher Stoff«, kann nicht in die Ferne wirken; also muß die Attraktion auf einem nicht materiellen Prinzip beruhen, auf einem immateriellen Wesen geistiger Art. Das ist der Schluß, den Newton zog.

      Und wo und wie wirkt die Attraktion? Im Raume. Überall ist sie gegenwärtig. Durch keinen Körper läßt sie sich absperren, sie durchdringt die Körper, sie ist mit ihnen zugleich im Raume. Sie wirkt nicht wie Körper in der Berührung, denn für die Berührung wäre die Oberfläche maßgebend; sie wirkt proportional der Masse, also nach Maßgabe des ganzen vom Körper erfüllten Raumes. Sie ist immateriell und doch im Raume, kein Körper und doch Körper bewegend – also wirkt sie wie ein den Raum durchdringender und erfüllender Geist. Und sie wirkt durch den ganzen unendlichen Raum in unendliche Ferne; also ist sie Wirkung des unendlichen Geistes, der die Einheit der gesamten Welt durch seine Tätigkeit umfaßt und ordnet. Attraktion, Feinwirkung, Raum, Gott als Weltseele, das sind nur verschiedene Ausdrücke für denselben Gedanken: das Prinzip der Wechselwirkung. Das ist Mores Philosophie im Newtonschen Gewande.

      Newton war ein streng kirchlich gesinnter Mann; nichts konnte ihm willkommener sein als ein Ausweg, die mathematische Naturauffassung, die er durch seine Lebensarbeit wie wenig andere gefördert hatte, vor dem dogmatischen Materialismus zu bewahren, der sich aus ihr mit Notwendigkeit zu ergeben schien. Und er war eine mystisch angelegte Natur, wie die Richtung seiner Studien in seinen letzten Lebensjahren zeigt. So ist es zu verstehen, daß ihm der Gedanke behagte: Die Wechselwirkung der Körper beruht im letzten Grunde auf einer geistigen Natur des Raumes, in welcher die weltordnende Macht des Schöpfers selbst als Weltseele zur Geltung kommt.

      So hat denn die Weltseele triumphiert über das mechanische Gesetz. Und so hätte Platon Recht behalten, wenn er ein geistiges Prinzip als das Mittel erklärte, wodurch die Wechselwirkung der sinnlichen Erscheinungen allein zu verstehen sei? Dann gäbe es in der Tat keine naturwissenschaftliche Erkenntnis der Dinge, und nur wahrscheinliche Vermutung wäre gestattet über die Realität der Empfindung, nicht eine Wissenschaft, sondern ein geziemendes und verständiges Spiel? Dann wäre die Arbeit des siebzehnten Jahrhunderts nur ein solches Spiel gewesen?

      So liegt die Sache doch nicht, und das war auch Newtons Meinung keineswegs. Der Mann, der das stolze Wort sprach, »Hypothesen ersinne ich nicht«, konnte unmöglich sein eigenes Werk durch eine Hypothese vernichten wollen, welche die Naturerkenntnis aufhob. Nicht in einem Kreise führt die neue Auffassung der Weltseele zur alten zurück, nein, wie in einer Schraubenlinie hat sich das Verständnis der Natur auf eine weitere Stufe erhoben. Von hier vermag es auf seine eigene Bahn zurückzuschauen und zu erkennen, daß diese Bahn zwar aus der Macht des Bewußtseins nicht hinausführt, aber innerhalb derselben durch ihr eigenes Gesetz bestimmt ist. Die Weltseele, die im letzten Grunde die Wechselwirkung bedingen soll, ist allerdings kein Gegenstand der Erkenntnis, aber sie soll es und braucht es auch nicht zu sein. Sie ist ein Gegenstand des Glaubens, und alle Realität beruht zuletzt auf einem Glauben, auf einer inneren Gewißheit des Gefühls; denn alles, was die Erkenntnis zu leisten vermag, ist Widerspruchslosigkeit ihres Inhalts; daß aber nur die Widerspruchslosigkeit uns zu befriedigen, uns Sicherheit im eigenen Bewußtsein zu geben vermag, das ist eine ursprüngliche Realität, die nicht wieder aus der Erkenntnis stammt; daß die Naturgesetze widerspruchslos sein müssen, setzen wir voraus. Und nur insoweit wird, selbst in der Newtonschen Auffassung der Wechselwirkung, der Glaube in Anspruch genommen. Die Weltseele als Bedingung der Wechselwirkung bedeutet jetzt nur, daß es Naturgesetze gibt; das ist eine Realität von jener Ordnung, zu der auch unser eigenes Bewußtsein gehört. Aber es gibt Naturgesetze. Dies ist der Schritt, den das moderne Bewußtsein in der Zeit von Galilei bis Newton über Plato hinausgetan hat; das ist die Sicherung der Naturwissenschaft.

      Newton sah als Mensch und gläubiger Christ in der Natur ein Mittel für die Zwecke Gottes. Aber als der Mathematiker und Physiker, als der er zu den unsterblichen Begründern der Naturwissenschaft gehört, sah er in der Natur das von Gott geordnete Gebiet einer undurchdringlichen Gesetzlichkeit und in der Erfahrung und Rechnung das Mittel, diese Gesetzlichkeit in das Bewußtsein der Menschheit zu heben. Die Natur hat in der Übertragung der Bewegung nach mathematisch formulierten Gesetzen ihre eigene Realität; nur aus dieser ist sie zu erkennen, nicht aus Hypothesen über die Wechselwirkung, sei es durch Ätherstöße oder Fernwirkung, sei es durch eine Weltseele. Darüber wollte Newton keine Hypothesen bilden, weil die Aufgabe der Naturwissenschaft allein darin besteht, den Stoff der sinnlichen Erfahrung in der Form des Gesetzes zum allgemeingültigen Objekt, zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen. Physik wollte er, keine Metaphysik, sofern es sich um Naturwissenschaft handelt. Aber wo er nicht Naturforscher ist, sondern Mensch, da kann das Erkennen nicht genügen, da fühlt er auch, und da glaubt er an die göttliche Macht, die in den Dingen waltet. Doch nicht in der Art Platons. Die Weltseele bewegt nicht mehr die Körper. Die Körper bewegen sich, selbst. Dies ist der Unterschied: Die Realitäten sind gesondert. Die Natur ist selbständig. Das Gesetz der Wechselwirkung ist ein mathematisches Gesetz in den Dingen selbst. Was wir darüber hinaus von der Wechselwirkung glauben, geht die Naturwissenschaft nichts an.

      Diesen Standpunkt hat Newton in seinen naturwissenschaftlichen Schriften überall streng innegehalten. Er hat darin durch sein Forschen und seinen Glauben nach einem Prinzip gehandelt, das hundert Jahre nach ihm Immanuel Kant der Menschheit zum klaren Bewußtsein gebracht hat als die Methode, wodurch Kultur überhaupt möglich wird, weil sie Grenzen und Rechte bestimmt für Erkenntnis und Glauben. In Raum und Zeit herrscht die Notwendigkeit des Gesetzes, unberührbar von unserem Wollen und Fühlen, und soweit reicht Erkenntnis; aber wo Erkenntnis nicht mehr hinreicht, ist Freiheit; und um dieser Freiheit willen ist der Mensch.

      Ursprünglich sollte die Bewegung durch die Weltseele erklärt werden. Als die mechanische Naturauffassung im siebzehnten Jahrhundert ihre wissenschaftliche Festigkeit erhielt, schien es, als sei nun die Bewegung die einzige Realität, als gäbe es nur Natur; die mechanische Naturauffassung wurde zur naturalistischen Weltansicht, zum Materialismus; jetzt sollte die Weltseele, d.h. die Tatsache des Bewußtseins, durch die Bewegung erklärt werden. Aber auch dies ist nicht möglich. Aus der seelenlosen Mechanik der Atome kann kein Bewußtsein entspringen. Es bleibt nur übrig, daß beide, Bewegung und Empfindung, Naturgeschehen und Einheit des Bewußtseins, in derselben Tatsache gegeben sind, in der Realität des Gesetzes, daß sich Bestimmungen, Ordnungen, Synthesen in Raum und Zeit vollziehen, und daß dieselben Bestimmungen und Synthesen unter Umständen ihrer Realität sich bewußt sind. Diesen Gedanken, dessen Folgen wir zunächst nur in kurzer Übersicht entwickeln, werden die nachstehenden Aufsätze im einzelnen zu erläutern versuchen. Hiermit erreichen wir den Gesichtspunkt, von welchem aus sich die spiritualistische wie die materialistische Weltauffassung überwinden läßt. Das naive Bewußtsein kennt nicht die Trennung der unbewußten Natur von dem bewußten Geiste; aber es kennt damit auch nicht die Gesetzlichkeit der Natur und den Weg zu ihrer Beherrschung. Diese Trennung mußte von der Wissenschaft erst vollzogen werden, um in der Natur ein Gebiet zu gewinnen, in welchem Erkenntnis möglich ist, und daraus zu lernen, daß die Natur und Erkenntnis dieselbe gesetzliche Notwendigkeit bedeuten. So ergibt sich die Natur als eine unzählige Mannigfaltigkeit in einander greifender Systeme, in denen sich gesetzmäßig der Inhalt gestaltet, so daß wir zugleich den Inhalt erleben und das Gesetz erkennen.

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      Jene Systeme und Systeme von Systemen bezeichnen wir als Körper, ob sie nun im speziellen Atome, Molekeln, Stoffe, Planeten, Sonnensysteme, Organismen, Pflanzen, Tiere oder Menschen heißen. Sie bestimmen sich gegenseitig als Einheiten, und in diesen Einheiten liegt es, daß die Natur sich selbst erleben kann, während die gesetzliche Bestimmtheit der Natur dadurch nicht geändert wird.

      Alles dies könnte mechanisch ganz ebenso vor sich gehen, ohne daß bewußte Wesen existierten, ohne daß irgend etwas da wäre, was man Seele oder Geist nennt. Innerhalb der Natur liegt zu letzterem keine Nötigung vor. Die reale Einheit der Systeme ist durch das Gesetz bedingt, wodurch ihre Elemente gegenseitig auf einander bezogen werden. Die Molekeln führen ihre Schwingungen aus, die Energie der Raumteile vollbringt ihren ewigen Wandel, die komplizierten Energiegefühle der Zellen bauen sich zu Organismen auf, im Nervensysteme der Tiere,