Kurd Lasswitz

Wirklichkeiten


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Natur in der Wissenschaft zwei verschiedene Dinge anzeigen; das eine Mal den unergründlichen Mutterschoß des Daseins, aus dem immer neue Kräfte verjüngend und schöpferisch emporsteigen; das andere Mal die feste Fügung der Notwendigkeit im Raum und Zeit, in der ein ewiges Gesetz alles Werdende in unverrückbare Bahnen zwingt.

      Wer im gewöhnlichen Sinne von Natur als dem ursprünglichen Quell aller Gestaltung spricht, der will eben damit ein Gebiet hervorheben, das er sich unabhängig denkt von jeder menschlichen Satzung, unabhängig von der Willkür der Individuen, von den Regeln der Konvention, von den Gesetzen des menschlichen Denkens, kurzum von allem, was als Resultat einer kulturhistorischen Entwickelung zu betrachten ist. Was er sich unter Natur vorstellt, ist ein unbestimmtes Weben und Walten des Alls. Daß es hierin ein gesetzliches Geschehen gibt, wird wohl stillschweigend vorausgesetzt, aber in welcher Beziehung dieses zum Bewußtsein der Menschheit steht, wird nicht näher erwogen. Natur soll gerade das bedeuten, was allem menschlichen Schaffen und Denken übergeordnet ist, die Weltgestaltung selbst. Nicht bloß die Sonnen- und Weltsysteme, die sich im unendlichen Raume ballen, nicht bloß auf Erden der Kreislauf der Gewässer, das Rauschen des Windes, das Zerbröckeln der Gesteine, nicht bloß das Wachsen der Zellen, die Entwickelung der Organismen, die Wechselwirkung alles Lebendigen, nicht bloß diese unabsehbaren Prozesse des Werdens und Vergehens werden als Natur bezeichnet, sondern auch der innerste Grund des Menschendaseins selbst. Das unbewußte Spiel der Triebe und Regungen in der Menschenseele, das Auf- und Niederwogen der Gefühle, das Aufbrausen der Leidenschaften, ebenso der Wechsel der Vorstellungen, der unwillkürliche Verlauf der Gedanken, die Macht der Einbildungskraft und die Schöpfertat des Genius heißen natürlich, werden betrachtet als der Ausdruck der im Inneren der Dinge waltenden Urkraft, der Natur. Mit diesem Namen wird alles zusammengefaßt, was im Wechsel der Zeit zur Fülle des Lebens sich gestaltet, was Himmel und Erde umspannt und als Leid und Lust im Menschenherzen flutet, ja endlich auch der Urgrund des Lebenswillens selbst, der in den sozialen Beziehungen der einzelnen und der Völker sich verwirklicht. So gilt Natur als das Weltgeschehen selbst, als eine ursprüngliche, ja als die einzige, allumfassende Realität, wenigstens als eine Macht, die in allen Gestaltungen der Wirklichkeit das im letzten Grunde Bestimmende darstellt. Und als solche übergeordnete Gewalt soll sie die rettende Zuflucht bilden, wohin die Menschheit sich drängt, wenn die Widersprüche des zivilisierten Lebens sich zuspitzen und häufen, um aus dem ewigen Jungbrunnen der Natur Erquickung und neue Säfte zu gewinnen.

      Nun aber kommt die Wissenschaft von der Natur und erklärt sie als ein großes Uhrwerk, das unter dem eisernen Gesetze der Notwendigkeit sein gefühlloses Räderspiel abrollt. Und die Wissenschaft ist die mächtige geistige Führerin des Jahrhunderts, das ihr seinen eigenartigen Charakter verdankt. Die Naturwissenschaft schreitet einher als Siegerin im Kampfe der Geister. Ihr Fuß ruht auf dem unerschütterlichen Grunde mathematischer Gesetze, mit dem Szepter der Rechnung lenkt sie die Bewegungen der Körper bis in die fernsten Räume und Zeiten. Ihre unerschöpflichen Hilfsmittel entnimmt sie dem breiten, fruchtbaren Boden der Erfahrung, und ihr Haupt schmückt die Strahlenkrone des Erfolges, in welche die alles überwindende Technik immer herrlichere Edelsteine einfügt. Kein Wunder, daß ihren Worten gläubig gelauscht wird. Und diese Worte sagen: »Was ich euch gebe als das Resultat der Forschung, als das Eigentum, worüber ihr als Herren schaltet, das kann ich euch nur geben, weil es der Erkenntnis unterworfen ist; und es ist der Erkenntnis unterworfen, weil es Gesetzen gehorcht, die den Umlauf der Sonnen ebenso unveränderlich bestimmen wie den Zerfall der Molekeln in eurem Nervensystem, wenn eine Empfindung euch durchzuckt. Es ist der Zwang des Gedankens, der die Natur unter dem Gesetz der Wechselwirkung zu einem Mechanismus macht, und zu diesem Mechanismus gehört euer eigen Leib und Leben, sofern ihr diese erkennen wollt.«

      Dies sagt die Naturwissenschaft, und sie sagt es mit Recht; aber sie sagt auch nicht mehr. Die Natur ist ein Mechanismus, zu welchem der Mensch ebenfalls gehört, sofern er sich als Gegenstand der Forschung betrachtet. Dabei soll das Wort Mechanismus immer den allgemeinen Sinn haben: ein System; d.h. eine gesetzliche Verbindung von Elementen zu einer Einheit, deren Realität sich nicht etwa auf die einzelnen Elemente allein, sondern gerade auf die Art ihres Zusammenschlusses zu einer besonderen Wirkungsweise gründet. In diesem Sinne ist eine Maschine so gut ein System wie ein Organismus. Ihr Bestehen beruht auf der Wechselwirkung von Teil und Ganzem, nur darf diese nicht gedacht werden als eine Bestimmung aus bewußtem Willen, sondern als eine Beziehung durch gesetzliche Notwendigkeit (vergl. Abschn. XIV). Jedoch nun entsteht die Verwirrung durch den Doppelsinn des Wortes »Natur«. Natürlich gilt für gewöhnlich als die umfassende Realität, als die Weltgestaltung selbst. So wäre denn diese Weltgestaltung ein Mechanismus, in welchem jede kleinste Veränderung von Ewigkeit her gesetzlich bestimmt ist, und in diesen Mechanismus gehörte das ganze Menschenleben mit seinen Freuden und Schmerzen, mit der Kraft des ethischen Charakters und der Gewalt des ästhetischen Genies, mit der sittlichen Forderung der Willensfreiheit und allen Gütern des Ideals? Das kann nicht sein!

      Es gibt eine Realität in den Tiefen des Menschenlebens, die keiner Naturwissenschaft zugänglich ist, und an welcher der Glaube an die Freiheit der Bestimmung nicht rütteln läßt. Und keiner ernsten Wissenschaft fällt es ein, diese Freiheit stürzen zu wollen. Es ist lediglich ein Mißverständnis über die Bedeutung des Wortes Natur, wenn man der Naturwissenschaft einen derartigen Übergriff unterlegt. Die Natur, deren Erkenntnis von der Wissenschaft erreicht wird, ist eben nicht jenes allumfassende Weltgeschehen, sondern sie ist nur ein Teil davon; derjenige Teil, worin Notwendigkeit und Mechanismus herrschen, weil diese das Gesetz des Denkens, die Form unserer Erkenntnis bedeuten.

      Aus dem Mißverständnis aber entsteht schwere Schädigung. Die einen meinen, wenn die Wissenschaft die Natur, das heißt jetzt das Weltgeschehen selbst, zum Mechanismus macht, so ist jene vom Übel und muß gestürzt oder umgewandelt werden. Denn hätte sie recht, so gäbe es keine Freiheit, also keine Sittlichkeit, keine Kunst, keine Religion; dann aber ist es besser, wir haben keine Erkenntnis, als daß wir die heiligsten Güter des Lebens aufgeben sollen. Oder – die Wissenschaft ist im Irrtum – und das ist sie, da die Freiheit eine Tatsache ist – also muß sie erst recht umkehren. Und so erhebt sich in vielen Gemütern, welche die sogenannte naturwissenschaftliche Weltanschauung, richtiger die materialistische Auffassung, nicht befriedigen kann, ein Widerspruch gegen die wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt, der um so gefährlicher ist, als er im Gegensatz zur ernsten Forschung nunmehr zu wüstem Aberglauben und kulturwidrigem Mystizismus führt.

      Andre wieder meinen, es kann nicht zweierlei Welten geben, eine Welt der Notwendigkeit und eine Welt der Freiheit. Nun lehrt uns das einzig Untrügliche, was wir haben, die wissenschaftliche Erkenntnis, daß die Welt der Notwendigkeit besteht. Folglich muß der Glaube an die Freiheit eine Täuschung sein. Wir wollen uns aber nicht in Illusionen wiegen, wir wollen der Wahrheit ins Gesicht schauen, sehe sie aus, wie sie wolle. Also fort mit dem Glauben an die Freiheit und alles, was damit zusammenhängt; wir sind Sklaven und müssen tun, was die Natur gebietet; sehen wir zu, wie wir uns damit abfinden!

      Beide Parteien haben unrecht. Es ist ein Irrtum, daß die Natur, die Gegenstand der Erkenntnis ist, alle Realität des Daseins umfasse. Es ist aber auch ein Irrtum zu glauben, daß die volle Geltung der Naturgesetze dadurch Einbuße erleide, daß es ein Reich der Freiheit gibt.

      Man wird vielleicht einwenden, dies sei eine willkürliche Aufstellung. Denn wenn einmal alles, was der Erkenntnis unterliegt, dem Gesetze der Notwendigkeit gehorcht, so ist ja gar keine Schranke gezogen, wieweit dieses Gebiet reicht; man kann es doch nicht von der subjektiven Willkür oder vom Zufall abhängig machen, wie weit man in der Erkenntnis gehen will. Es muß demnach die Möglichkeit zugestanden werden, daß alles Seiende erkennbar, also auch mechanischen Gesetzen unterworfen sei. Und so müsse es entweder im Grunde der Dinge keine Freiheit geben, oder die Erkenntnis sei nur eine subjektive Gedankenbildung, der keine Bestimmung über das Wirkliche zukomme.

      Hier sind wir an der Stelle, wo die Philosophie einzusetzen hat. Wer sagt uns denn, was das Wirkliche ist? Wer sagt uns, daß es nur eine Art der Gesetzlichkeit, die Naturgesetzlichkeit, gibt? Ist nicht das Gesetz des Gewissens: Du sollst! auch eine Bestimmung, welche Wirklichkeit bedingt? Die Möglichkeit zu untersuchen, wie Notwendigkeit und Freiheit neben einander bestehen können, ist eine Aufgabe der Philosophie. Der Lösung dieser Schwierigkeit vermögen wir uns zu nähern, wenn wir den Begriff der Natur richtig fassen.