entlang, und alsbald waren die Fenster verdeckt von dicken, wie gemeißelten Falten aus bordeauxrotem Plüsch. Als sie die Vorhänge in beiden Zimmern vorgezogen hatte, schien sich eine tiefe Stille auf den Raum zu senken. Die Welt draußen schien durch eine dicke Schicht völlig abgeschnitten zu sein. Weit weg in der nächsten Straße hörten sie die Stimme eines Hausierers leiern; die schweren Hufe von Lastwageripferden klopften langsam die Fahrbahn entlang. Einen Augenblick knarrten Räder auf dem Pflaster; dann erstarb das Geräusch, und die Stille war vollkommen.
Zwei gelbe Kreise von Licht fielen unter die Lampen. Eleanor zog ihren Stuhl unter die eine, neigte den Kopf und setzte den Teil ihrer Arbeit fort, den sie immer bis zuletzt Heß, weil sie ihn so gar nicht mochte, – das Zusammenzählen. Ihre Lippen bewegten sich, und ihr Bleistift machte kleine Punkte aufs Papier, während sie Achter und Sechser, Fünfer und Vierer zusammenzählte.
»So!« sagte sie endlich. »Das wäre getan. Jetzt werd’ ich zu Mama gehn und ein wenig bei ihr bleiben.«
Sie bückte sich, um ihre Handschuhe aufzuheben.
»Nein«, sagte Milly, ein Magazin, das sie geöffnet hatte, beiseite werfend, »ich werd’ gehn ... «
Delia tauchte plötzhch aus dem Hinterzimmer auf, wo sie sich herumgedrückt hatte.
»Ich hab’ gar nichts zu tun«, sagte sie kurz. »Ich werd’ gehn.«
Sie ging die Treppe hinauf, sehr langsam, Stufe nach Stufe. Als sie zu der Schlafzimmertür mit den Krügen und Gläsern auf dem Tischchen daneben kam, blieb sie stehn. Der süßsäuerliche Geruch von Krankheit machte ihr ein wenig übel. Sie vermochte nicht, sich zum Eintreten zu entschließen. Durch das kleine Fenster am Ende des Gangs konnte sie flamingofarbene Wolkenlocken auf einem blaßblauen Himmel liegen sehn. Nach der Dämmerung des Wohnzimmers waren ihre Augen geblendet. Es war, als hielte das Licht sie hier fest. Dann hörte sie Kinderstimmen im nächsten Stockwerk oben – Martin und Rose; sie stritten.
»Also laß es bleiben!« hörte sie Rose sagen. Dann schlug eine Tür zu. Sie lauschte, holte tief Atem, blickte abermals auf den feurigen Himmel und klopfte an die Schlafzimmertür.
Die Pflegerin erhob sich lautlos, legte den Finger an die Lippen und verließ das Zimmer. Mrs. Pargiter schlief. In einer Kissenschlucht liegend, die eine Hand unter der Wange, stöhnte Mrs. Pargiter leise, als wanderte sie in einer Welt, wo sich ihr sogar im Schlaf kleine Hindernisse in den Weg stellten. Ihr Gesicht war schlaff und plump; die Haut hatte braune Flecke; das einst rote Haar war jetzt weiß, nur daß seltsame gelbe Stellen darin waren, als wären manche Strähnen in das Dotter eines Eis getaucht worden. Von allen Ringen, bis auf den Ehering, entblößt, schienen schon ihre Finger anzudeuten, daß sie die Geheimwelt des Krankseins betreten hatte. Aber sie sah nicht aus, als wäre sie am Sterben; sie sah aus, als würde sie in diesem Grenzland zwischen Leben und Tod ewig fortexistieren. Delia konnte keine Veränderung an ihr gewahren. Als sie sich setzte, schien alles in ihr selbst in voller Flut zu sein. Ein hoher schmaler Spiegel neben dem Bett warf einen Ausschnitt des Himmels zurück; er war im Augenblick von rötlichem Licht beglänzt. Der Toilettetisch war davon beleuchtet. Das Licht fiel auf Silberflakons und auf Glasfläschchen, alle in der vollkommenen Ordnung von Dingen aufgestellt, die nicht [verwendet werden. Um diese Abendstunde hatte das Krankenzimmer etwas unwirklich Sauberes, Stilles und Ordentliches. Hier neben dem Bett stand ein Tischchen mit einer Brille, einem Gebetbuch und einer Vase voll Maiglöckchen darauf. Auch die Blumen sahn unwirklich aus. Es gab nichts zu tun, als zu schauen.
Sie starrte auf die gelbliche Porträtzeichnung ihres Großvaters mit dem Glanzlicht auf der Nase; auf die Photographie von Onkel Horace in seiner Uniform; auf die hagere, verkrümmte Gestalt an dem Kruzifix zur Rechten.
»Aber du glaubst es doch selber nicht!« dachte sie wild und blickte auf ihre in Schlaf versunkene Mutter. »Du willst ja gar nicht sterben.«
Sie wartete sehnsüchtig, daß die Mutter stürbe. Da lag sie – schlaff, verfallen, aber ewigdauernd – in der Kissenschlucht; ein Hindernis, eine Vereitelung, ein Hemmnis alles Lebens. Delia versuchte, irgendein Gefühl der Zuneigung, des Mitleids in sich aufzupeitschen. Zum Beispiel diesen Sommer, sagte sie sich, in Sidmouth, als sie mich die Gartentreppe heraufrief ... Aber die Szene zerfloß, als sie sie zu betrachten versuchte. Und natürlich war die andre Szene da – der Mann im Gehrock mit der Blume im Knopfloch. Doch sie hatte sich geschworen, bis zur Schlafenszeit nicht daran zu denken. Aber woran sonst sollte sie denken? An den Großvater mit dem Glanzlicht auf der Nase? An das Gebetbuch? Die Maiglöckchen? Oder den Spiegel? Die Sonne war in Wolken versunken; der Spiegel war matt und warf jetzt nur einen graubraunen Fleck Himmel zurück. Sie konnte nicht länger widerstehn.
»Eine weiße Blume im Knopfloch«, begann sie sich zu sagen. Es brauchte einige Minuten Vorbereitung. Ein Saal mußte da sein; und Bankette von Palmen; und zu ihren Füßen ein Parkett mit den dichtgedrängten Köpfen von Leuten. Der Zauber begann zu wirken. Sie wurde von köstlichen Wellen schmeichelhafter und aufregender Gefühle durchdrungen. Sie saß auf dem Podium; eine riesige Zuhörerschaft war da; alles schrie, winkte mit Taschentüchern, applaudierte, zischte, pfiff. Dann erhob sie sich. Sie stand, ganz in Weiß, mitten auf dem Podium; Mr. Parnell war an ihrer Seite.
»Ich spreche für die Sache der Freiheit«, begann sie, die Arme ausbreitend, »für die Sache der Gerechtigkeit, für Irland ... « Seite an Seite standen sie da. Er war sehr bleich, aber seine dunkeln Augen glühten. Er wandte sich zu ihr und flüsterte ...
Plötzlich eine Unterbrechung. Mrs. Pargiter hatte sich ein wenig aus den Kissen aufgerichtet.
»Wo bin ich?« rief sie. Sie war verängstigt und verwirrt, wie so oft beim Erwachen. Sie hob die Hand; sie schien um Hilfe zu flehn. »Wo bin ich?« wiederholte sie. Für einen Augenblick war auch Delia verwirrt. Wo war sie?
»Hier, Mama! Hier!« sagte sie blindlings. »Hier, in deinem Zimmer.« Sie legte die Hand auf die Bettdecke.
Mrs. Pargiter umklammerte sie nervös. Sie sah sich in dem Zimmer um, als suchte sie jemand. Sie schien ihre Tochter nicht zu erkennen.
»Was ist denn?« fragte sie. »Wo bin ich?« Dann sah sie Delia an und erinnerte sich, »Oh, Delia – ich hab’ geträumt«, murmelte sie, halb wie sich entschuldigend. Sie lag eine kleine Weile und sah durchs Fenster hinaus. Die Laternen wurden angezündet, und ein plötzliches mildes Licht ging in der Straße draußen auf.
»Es war ein schöner Tag ... « sie zögerte » ... für ... « Sie schien sich nicht erinnern zu können, wofür.
»Ein herrlicher Tag, ja, Mama«, wiederholte Delia mit mechanischer Munterkeit.
» ... für ... « versuchte es ihre Mutter abermals.
Was für ein Tag war es? Delia konnte sich nicht erinnern.
» ... für Onkel Digbys Geburtstag«, brachte Mrs. Pargiter endlich hervor. »Sag ihm von mir – sag ihm, wie sehr ich mich freue.«
»Ich werd’s ihm sagen«, erwiderte Delia. Sie hatte vergessen, daß ihr Onkel Geburtstag hatte; aber ihre Mutter war sehr genau in solchen Dingen.
»Tante Eugénie ... « begann sie.
Ihre Mutter jedoch starrte auf den Toilettetisch. Ein Schimmer von der Laterne draußen ließ das weiße Tuch darauf äußerst weiß aussehn.
»Schon wieder ein frisches Tuch!« murmelte Mrs. Pargiter grämlich. »Was das kostet, Delia, was das kostet – das ist’s, was mir Sorge macht.«
»Es ist schon recht, Mama«, sagte Delia matt. Ihre Augen waren auf das Porträt des Großvaters gerichtet; warum, fragte sie sich, hatte der Künstler einenTupfen weißer Kreide auf seine Nasenspitze gesetzt?
»Tante Eugénie hat dir Blumen gebracht«, sagte sie.
Irgend etwas schien Mrs. Pargiter heiter zu stimmen. Ihr Blick ruhte versonnen auf dem reinen weißen Tuch, das sie einen Augenblick zuvor an die Wäscherechnung gemahnt hatte.
»Tante Eugénie ... « sagte sie. »Wie gut ich mich an den Tag erinnere« – ihre Stimme schien voller und runder zuwerden – »an dem