Laternenlicht auf und nieder. Der Oberst ging hin und her; einmal stieß er an ein Tischchen an und sagte: »Verdammt!« In dem Zimmer über sich hörten sie Schritte. Sie hörten Stimmen murmeln. Delia sah aus dem Fenster.
Ein Hansom kam die Straße entlanggetrabt. Morris sprang heraus, kaum daß es hielt. Dr. Prentice folgte ihm. Er ging gleich hinauf, und Morris kam zu ihnen ins Wohnzimmer.
»Warum eßt ihr nicht zu Ende?« fragte der Oberst rauh und blieb sehr aufrecht vor ihnen stehn.
»Ach, bis er weg ist«, sagte Morris nervös.
Der Oberst begann wieder hin und her zu gehn.
Dann stand er vor dem Kaminfeuer still, die Hände auf dem Rücken. Er hatte etwas Gestrafftes, als hielte er sich für einen Notfall bereit.
Wir spielen beide Theater, dachte Delia mit einem verstohlenen Blick auf ihn. Aber er trifft es besser als ich.
Sie sah wieder aus dem Fenster. Der Regen fiel. Wenn er das Laternenlicht kreuzte, blinkte er in langen Strichen silbrigen Lichts. »Es regnet«, sagte sie leise; aber niemand antwortete ihr.
Endlich hörten sie Schritte auf der Treppe, und Dr. Prentice trat ein. Er schloß geräuschlos die Tür hinter sich, sagte aber nichts.
»Nun?«fragte der Oberst, ihm gegenübertretend. Es folgte eine längere Pause.
»Wie finden Sie sie?« fragte der Oberst.
Dr. Prentice bewegte die Achseln ein wenig.
»Sie hatsich wieder erholt«, sagte er. »Für den Augenblick«, fügte er hinzu.
Delia hatte ein Gefühl, als versetzten ihr seine Worte einen heftigen Schlag auf den Kopf. Sie sank auf eine Armlehne.
Also wirst du nicht sterben, sagte sie, die mädchenhafte Frau ansehend, die mit einem Blumenkorb auf einem Baumstamm saß; die schien mit lächelnder Bosheit auf ihre Tochter herabzublicken. Du wirst nicht sterben – nie, nie! rief sie, unter dem Bild ihrer Mutter die Hände ineinander verkrampfend.
»Na, sollten wir nicht weiteressen?« sagte der Oberst und griff nach der Serviette, die er auf ein Tischchen geworfen hatte.
Schade – das Essen ist verdorben, dachte Crosby, die die Kotelette aus der Küche wiederbrachte. Das Fleisch war vertrocknet, und die Kartoffeln hatten braune Krusten. Eine der Kerzen versengte überdies das Schirmchen, so gewahrte sie, als sie die Schüssel vor den Oberst hinstellte. Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich, und sie begannen nun erst richtig zu essen.
Alles war still in dem Haus. Der Hund schlief auf seiner Matte am Fuß der Treppe. Alles war still vor der Tür des Krankenzimmers. Ein leises Schnarchen kam aus dem Zimmer, wo Martin lag und schlief. Im Kinderspielzimmer setzten Mrs. C. und die Kinderfrau ihr Nachtmahl fort, das sie unterbrochen hatten, als sie Geräusch unten in der Halle hörten. Rose lag schlafend in ihrem Bettchen im Kinderzimmer. Eine Zeitlang schlief sie tief, ganz eingerollt und die Decke eng um den Kopf gezogen. Dann regte sie sich und streckte die Arme aus. Etwas war heraufgeschwommen auf der Schwärze. Ein ovales weißes Etwas baumelte vor ihr, als hinge es an einer Schnur. Sie öffnete die Augen halb und sah es an. Es brodelte von grauen Flecken, die sich aufbliesen und zusammensanken. Sie wurde ganz wach. Ein Gesicht hing nah vor ihr, als baumelte es an einem Stückchen Bindfaden. Sie schloß die Augen; aber das Gesicht war noch immer da, dehnte sich aus und schrumpfte wieder, grau, weiß, bläulichrot und blatternarbig. Sie streckte die Hand aus, um das große Bett neben dem ihren zu berühren. Aber es war leer. Sie lauschte. Sie hörte das Geklapper von Messern und das Plappern von Stimmen im Spielzimmer über den Gang. Aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie bemühte sich, an eine Schafherde zu denken, die auf einer Weide in eine Hürde gepfercht war. Sie ließ eins der Schafe über die Hürde springen; dann wieder eins, dann noch eins. Sie zählte sie, während sie sprangen. Eins, zwei, drei, vier – sprangen über die Hürde. Aber das fünfte wollte nicht springen. Es wandte sich um und sah sie an. Sein langes schmales Gesicht war grau; seine Lippen bewegten sich; es war das Gesicht des Mannes bei der Briefkastensäule; und sie war allein damit. Wenn sie die Augen schloß, war es da; wenn sie sie öffnete, war es noch immer da.
Sie setzte sich im Bett auf und rieflaut: »Nannie! Nannie!«
Überall Totenstille. Das Klappern vonMessern und Gabeln im andern Zimmer war verstummt. Sie war ganz allein mit etwas Grauenhaftem. Dann hörte sie ein Schlurren im Gang. Es kam näher und näher. Das war der Mann selbst. Seine Hand war auf dem Türknauf. Die Tür öffnete sich. Ein Dreieck von Licht fiel über den Waschtisch. Der Krug und das Becken leuchteten auf. Der Mann war tatsächlich bei ihr im Zimmer ... aber es war Eleanor.
»Warum schläfst du nicht?« fragte Eleanor. Sie stellte ihren Kerzenleuchter hin und begann das Bettzeug zu glätten. Es war ganz zerwühlt. Sie sah Rose an; deren Augen glänzten sehr, und ihre Wangen waren gerötet. Was war los? Hatte das Hin und Her unten in Mamas Zimmer sie aufgeweckt?
»Was hat dich denn wachgehalten?« fragte sie. Rose gähnte abermals; aber es war eher ein Seufzer als ein Gähnen. Sie konnte Eleanor nicht sagen, was sie gesehn hatte. Sie hatte ein tiefes Schuldgefühl; aus irgendeinem Grund mußte sie lügen über das Gesicht, das sie gesehn hatte.
»Ich hab’ einen bösen Traum gehabt«, sagte sie. »Ich hab’ mich gefürchtet.« Ein seltsames nervöses Zucken ging durch ihren Körper, als sie sich im Bett aufsetzte. Was war nur los? fragte sich Eleanor von neuem. Hatte sie mit Martin gerauft? Hatte sie wiederum die Katzen in Miss Pyms Garten gejagt?
»Hast du wieder Jagd auf Katzen gemacht?« fragte sie. »Die armen Katzen«, fügte sie hinzu. »Es ist ihnen genau so unangenehm, wie es dir wäre«, sagte sie. Aber sie ahnte, daß Roses Angst nichts mit Katzen zu tun hatte. Rose umklammerte krampfhaft ihren Finger; starrte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen vor sich hin.
»Was hast du denn geträumt?« fragte sie und setzte sich auf den Bettrand. Rose sah sie an; sie konnte es ihr nicht sagen; aber um jeden Preis mußte Eleanor bei ihr bleiben.
»Ich hab’ geglaubt, ich hör’ einen Mann hier im Zimmer«, brachte sie endlich hervor. »Einen Räuber«, fügte sie hinzu.
»Einen Räuber? Hier?« sagte Eleanor. »Aber Rose, wie könnte denn ein Räuber in dein Zimmer kommen? Papa ist doch da und Morris – die würden nie einen Räuber in dein Zimmer kommen lassen.«
»Nein«, sagte Rose. »Papa würde ihn töten.« Es war sonderbar, wie sie zuckte. »Aber was tut ihr denn alle?« fragte sie unruhig. »Seid ihr denn noch nicht schlafen gegangen? Ist es nicht sehr spät?«
»Was wir alle tun?« sagte Eleanor. »Wir sitzen im Wohnzimmer. Es ist nicht sehr spät.« Während sie sprach, tönte ein schwaches Dröhnen durchs Zimmer. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam, konnte man die Uhr von St. Paul’s schlagen hören. Die weichen Wellenkreise breiteten sich in der Luft aus: eins, zwei, drei, vier – Eleanor zählte – acht, neun, zehn. Sie war erstaunt, als die Glockenschläge so bald aufhörten.
»Hörst du? Es ist erst zehn Uhr«, sagte sie. Sie hatte geglaubt, es sei viel später. Aber der letzte Schlag löste sich in der Luft auf. »So, jetzt wirst du einschlafen«, sagte sie. Rose umklammerte ihre Hand.
»Geh nicht, Eleanor! Noch nicht!« flehte sie.
»Aber so sag mir doch, was dich erschreckt hat?« begann Eleanor. Etwas wurde ihr verheimlicht, davon war sie überzeugt.
»Ich sah ... « begann Rose. Sie machte eine große Anstrengung, ihr die Wahrheit zu sagen; ihr von dem Mann dort beim Briefkasten zu erzählen. »Ich sah ... « wiederholte sie. Aber da öffnete sich die Tür, und die Kinderfrau kam herein.
»Ich weiß nicht, was heut’ abend mit Rosie ist«, sagte sie, geschäftig näherkommend. Sie fühlte sich ein wenig schuldbewußt; sie war unten geblieben und hatte mit den andern Dienstboten über die Gnädige geschwatzt.
»Sie schläft für gewöhnlich so fest«, sagte sie, ans Bett tretend.
»Also hier ist Nannie«, sagte Eleanor. »Sie kommt schon schlafen. Da wirst du dich