Virginia Woolf

Die Jahre


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an der Briefkastensäule vorbeikam, sah sie den Mann abermals. Er lehnte mit dem Rücken an dem Laternenpfahl, und das Gaslicht flackerte über sein Gesicht. Als sie vorbeikam, zog er die Lippen ein und schnellte sie wieder vor. Er stieß einen miauenden Laut aus. Aber seine Hände griffen nicht nach ihr; die knöpften seine Kleider auf.

      Sie floh an ihm vorbei. Sie glaubte, ihn ihr nachkommen zu hören. Sie hörte seine Füße auf dem Gehsteig tappen. Alles schwankte, während sie lief; rote und schwarze Pünktchen tanzten vor ihren Augen, als sie die Türstufen hinaufrannte, den Schlüssel ins Schloß steckte und die Haustür öffnete. Es war ihr gleich, ob sie Lärm machte oder nicht. Sie hoffte, jemand werde herauskommen und zu ihr sprechen. Aber niemand hörte sie. Die Halle war leer. Der Hund schlief auf der Matte. Stimmen murmelten noch immer im Wohnzimmer.

      »Und wenn es fängt«, sagte Eleanor, »wird es viel zu heiß werden.«

      Crosby hatte die Kohlen zu einem großen schwarzen Vorgebirge gehäuft. Eine Fahne gelben Rauchs umschlängelte es verdrossen; die Kohlen begannen zu brennen, und sobald sie richtig brennen würden, wäre es viel zu heiß.

      »Sie kann sehn, wie die Pflegerin Zucker stiehlt, behauptet sie. Sie kann ihren Schatten an der Wand sehn«, sagte Milly. Sie sprachen von ihrer Mutter.

      »Und dann«, fügte sie hinzu, »daß Edward nichts von sich hören läßt ... «

      »Das erinnert mich«, sagte Eleanor. Sie durfte nicht vergessen, Edward zu schreiben. Aber dazu wäre nach dem Dinner Zeit. Sie hatte keine Lust zu schreiben; sie hatte keine Lust zu reden; so oft sie von ihren Mietern zurückkam, hatte sie ein Gefühl, als ginge mehreres zugleich vor. Worte wiederholten sich immerzu in ihrem Geist – Worte und Bilder. Sie dachte an die alte Mrs. Levy, wie sie aufgestützt im Bett saß, mit ihrem weißen Haar in einer dichten Masse wie eine Perücke, und das Gesicht rissig wie ein alter glasierter Topf.

      »Die was gewesen sind gut zu mir, auf die erinner’ ich mich ... Die was gefahren sind in ihre Kutschen, wie ich gewesen bin eine arme Witfrau, die was hat den Boden gerieben und die Wäsche gewaschen –« Hier hatte sie den Arm ausgestreckt, der gewrungen und weiß war wie eine Baumwurzel. »Die was gewesen sind gut zu mir, auf die erinner’ ich mich ... « wiederholte Eleanor, während sie ins Feuer blickte. Dann war die Tochter hereingekommen, die bei einem Schneider arbeitete. Sie trug perien so groß wie Hühnereier; sie hatte sich angewöhnt, sich das Gesicht zu schminken; sie war wunderhübsch. Aber Milly machte eine kleine Bewegung.

      »Ich hab’ mir grade gedacht«, sagte Eleanor, einer plötzlichen Eingebung folgend, »daß die Armen das Leben mehr genießen als unsereins.«

      »Die Levys?« fragte Milly geistesabwesend. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Erzähl mir doch von den Levys«, fügte sie hinzu. Eleanors Beziehungen zu »den Armen« – den Levys, den Grubbs, den Paravicinis, den Zwinglers und den Cobbs – belustigten sie stets. Eleanor aber sprach nicht gern von »den Armen« wie von Leuten in einem Buch. Sie hegte große Bewunderung für Mrs. Levy, die an Krebs dahinstarb.

      »Oh, es geht ihnen ganz wie immer«, antwortete sie scharf. Milly warf einen Blick auf sie. Eleanor ist »brütig«, dachte sie. Es war ein Familienscherz: »Vorsicht, Eleanor ist brütig. Es ist ihr Mietertag.« Eleanor schämte sich dessen, aber sie war aus irgendeinem Grund immer reizbar, wenn sie von ihren Mietern zurückkam, – so viel Verschiedenes ging ihr gleichzeitig im Kopf herum: Canning Place; Abercorn Terrace; dieses Zimmer hier; das Zimmer dort. Dort saß die alte Jüdin aufrecht im Bett, in ihrem stickigen kleinen Zimmer; dann kam man hierher zurück, und hier war Mama krank, Papa brummig, und Delia und Milly stritten wegen einer Abendgesellschaft ... Aber sie unterbrach sich. Sie sollte versuchen, etwas zu sagen, was ihre Schwester amüsieren würde.

      »Mrs. Levy hatte den Mietzins bereit, erstaunlicherweise«, sagte sie. »Lily trägt dazu bei, arbeitet bei einem Schneider in Shoreditch. Sie kam herein, ganz mit Perlen und so Zeug behangen. Sie sind putzsüchtig – die Jüdinnen«, fügte sie hinzu.

      »Die Jüdinnen?« fragte Milly. Sie schien den Geschmack der Jüdinnen zu prüfen und ihn dann abzulehnen. »Ja«, sagte sie. »Aufgedonnert.«

      »Sie ist außerordentlich hübsch«, sagte Eleanor und dachte an die rosigen Wangen und die weißen Perlen.

      Milly lächelte; Eleanor trat immer für die Armen ein. Sie hielt Eleanor für den besten, den weisesten, den großartigsten Menschen, den sie kannte.

      »Ich glaube, dorthin zu gehn, ist dir lieber als alles andre«, sagte sie. »Ich glaube, du würdest am liebsten hinziehn und dort leben, wenn es nach dir ginge«, fügte sie mit einem kleinen Seufzer hinzu.

      Eleanor rückte im Sessel. Sie hatte ihre Träume, ihre Pläne, selbstverständlich; aber sie wollte sie nicht besprechen.

      »Vielleicht wirst du’s tun, wenn du verheiratet bist?« meinte Milly. Es war etwas Mürrisches und doch Klägliches in ihrem Ton. Die Abendgesellschaft; die Abendgesellschaft bei den Burkes, dachte Eleanor. Sie wünschte, Milly würde das Gespräch nicht immer aufs Heiraten wenden. Und was wissen sie vom Heiraten? fragte sie sich. Sie bleiben zuviel zu Hause, dachte sie; siesehn niemals jemand außerhalb ihres eignen Kreises. Hier hocken sie im Pferch – tagaus, tagein ... Darum hatte sie gesagt: »Die Armen genießen das Leben mehr als unsereins.« Es war ihr eingefallen, als sie zurückkam in dieses Wohnzimmer mit allen den Möbeln und den Blumen und den Krankenpflegerinnen ... Wieder unterbrach sie sich. Sie mußte warten, bis sie allein wäre – bis sie sich abends die Zähne putzte. Wenn sie mit den andern beisammen war, mußte sie sich davon zurückhalten, an zwei Dinge zugleich zu denken. Sie nahm das Schüreisen und schlug auf die Kohlen.

      »Schau! Wie schön!« rief sie aus. Eine Flamme tanzte auf den Kohlen, ein leichtfüßiges, nichtsnutziges Flämmchen. Es war so eine Flamme, wie sie sie als Kinder hervorzurufen pflegten, indem sie Salz aufs Feuer streuten. Abermals schlug sie auf die Kohlen, und ein Schauer goldäugiger Funken stob prasselnd in den Rauchfang auf. »Erinnerst du dich«, sagte sie, »wie wir Feuerwehr spielten und Morris und ich den Rauchfang in Brand setzten?«

      »Und Pippy lief und holte Papa«, sagte Milly. Sie hielt inne. Geräusche wurden aus der Halle hörbar. Ein Stock scharrte; jemand hängte einen Mantel auf. Eleanors Augen erhellten sich. Das war Morris – ja; sie erkannte ihn an den Geräuschen. Nun kam er herein. Sie sah sich lächelnd um, als die Tür aufging. Milly sprang auf.

      Morris versuchte, sie zurückzuhalten. »Geh nicht – « begann er.

      »Doch!« rief sie. »Ich werd’ gehn und ein Bad nehmen«, fügte sie, einem plötzlichen Einfall folgend, hinzu. Sie verließ die beiden.

      Morris setzte sich auf den Sessel, von dem sie aufgestanden war. Er war froh, mit Eleanor allein zu bleiben. Für einen Augenblick sprach keins. Sie betrachteten die gelbe Rauchfahne und die kleine Flamme, die leichtfüßig und nichtsnutzig, bald da, bald dort, auf dem schwarzen Vorgebirge von Kohlen tanzte. Dann stellte er die übliche Frage:

      »Wie geht’s Mama?«

      Sie sagte es ihm; keine Veränderung, »nur, daß sie öfter schläft«, sagte sie. Er runzelte die Stirn. Er verliert sein knabenhaftes Aussehn, dachte Eleanor. Das sei das Schlimme am Barreau, so sagten alle; man müsse warten. Er machte den Neger für Sanders Curry; und es war eine trübselige Arbeit, bei der man den ganzen Tag in den Gerichtshöfen herumwarten mußte.

      »Was macht der alte Curry?« fragte sie; der alte Curry hatte seine Launen.

      »Ein bißchen gallig«, sagte Morris grimmig.

      »Und was hast du den ganzen Tag getan?« fragte sie.

      »Nichts Besonderes«, antwortete er.

      »Noch immer Evans contra Carter?«

      »Ja«, sagte er kurz.

      »Und wer wird gewinnen?« fragte sie.

      »Carter natürlich«, erwiderte er.

      Warum »natürlich«? wollte sie fragen. Aber erst neulich hatte sie etwas Dummes gesagt, etwas, das zeigte, daß sie nicht aufgepaßt hatte. Sie brachte Sachen