Laura Lippman

Die Witwe des Millionärs


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Hat Tyner viel für dich zu tun?«

      »Stellenweise.«

      »Stellenweise.« Whitney lachte. Selbst ihr Lachen erschien einem besser als das der meisten anderen Leute – kostbarer, inniger, tiefer. »Ich dachte, für die Stellen wäre nur Crow zuständig. Hast du schon deine Lizenz? Hast du dir eine Waffe gekauft? Du weißt ja, wenn du mit mir mal auf den Schießstand willst …«

      »Ich hab noch keine Waffe. Du weißt doch, was ich davon halte.« Whitney hatte ihr Leben lang mit ihrem Vater Enten und Tauben gejagt. Sie hatte immer ein Gewehr in Reichweite, und sie hatte versucht, Tess am Washington College für diesen Sport zu interessieren. Vergebens.

      »Ich weiß, ich weiß. Aber du solltest dir eine Lizenz besorgen, sie steht dir gesetzlich zu. Wenn du letzten Herbst deine Waffe dabeigehabt hättest …«

      »Dann hätte ich mir wahrscheinlich versehentlich in den Fuß geschossen.« Und alle, die tot waren, wären immer noch tot, erinnerte sie sich, wie immer, wenn jemand von jenem schrecklichen September sprach – was hätte sein können, wer noch am Leben wäre. Der kleine Film, der auf ewig in ihren Träumen zu laufen schien, spielte erneut in ihrem Kopf, ein Vorspann für die Albträume der kommenden Nacht.

      »Wenn du meinst.« Whitney küsste sie auf die Wange, und es war keiner dieser unechten Luftküsse, wie sie Menschen ihrer Klasse vergaben, sondern ein echter Knutscher, der ein wenig rosa Lippenstift auf Tess’ Wange hinterließ. Das gefiel den Leuten. Die unstete Whitney aber konzentrierte sich schon wieder auf ihr Sandwich.

      »Es wird zu braun. Umdrehen, umdrehen, umdrehen!«, befahl sie dem kleinen verschwitzten Mann am Grill, der blöde grinste, als wäre ihr barscher Befehl ein Beweis für ihre unsterbliche Liebe. »Und könnten Sie bitte die Kruste abschneiden?«

      5

      Das Point hatte noch nie Fröhlichkeit ausgestrahlt, aber im Dämmerlicht nun wirkte es ganz besonders erbärmlich. Das letzte Sonnenlicht akzentuierte die unglaubliche Lieblosigkeit der Bar. Tess konnte den Staub auf den Tischen sehen, das verschmierte Glas der Jukebox und ein paar merkwürdige Flecken auf dem Boden. Aber das lag nicht an Spikes Abwesenheit. Genau genommen sah der Laden sogar etwas besser aus, jetzt, wo Tommy sich um alles kümmerte.

      »Also, Tommy«, versuchte Tess es noch einmal und schenkte sich an der Bar eine wässrige Coke ein. »Woher hat Spike einen Windhund?«

      »Die Blonde ist wirklich süß?«, sagte er mit Blick auf die Frühabendnachrichten, die auf einem Fernseher liefen, der über der Bar angeschraubt war. »Aber den Schwarzen mag ich nicht. Wieso sind es immer eine Blondine und ein Schwarzer? Warum haben sie nie einen blonden Typen und eine schwarze Frau? Hast du dich das mal gefragt? Und was glaubst du, wer das meistgrößte Gehalt bekommt, sie oder er?«

      »Das größere Gehalt, Tommy. Und im Moment interessieren mich Windhunde deutlich mehr. Wieso hat sich Spike für Hunderennen interessiert?«

      »Wir haben doch keine Hunderennen in Maryland?«, protestierte er.

      »Wir haben auch keine Weltmeisterschaftsboxkämpfe, aber Spike hat auch auf die schon gewettet. Hat er irgendwas in Esskay investiert? Ist er der Partner irgendeines Hundetrainers in einem anderen Staat? Oder wettet er auf Windhunde?«

      »Mit Windhunden wollte er nichts zu tun haben«, sagte Tommy entschlossen. »Er hat gesagt, sie sehen beängstigend aus? Er würde sie nicht gerne anschauen?«

      »Wo anschauen? Da, wo er Esskay herhat?«

      Tommy wandte sich wieder dem Fernseher zu. Reporter campierten vor Wink Wynkowskis Villa, einem nagelneuen Haus in nachgemachtem Tudorstil, der überhaupt nicht in den baumlosen Vorort passte. Offensichtlich war Wink den ganzen Tag nicht vor die Tür getreten, auch hatte er keine Stellung zu den Vorwürfen des Beacon bezogen. Die einzige Hoffnung der TV-Berichterstatter, die Story weiterzutreiben, war seine Reaktion. Sie konnten nicht die Recherchen nachliefern, für die Feeney die letzten paar Wochen gebraucht hatte. Außerdem, wieso sollte man sich irgendwelche langweiligen alten Gerichtsunterlagen anschauen oder mit möglichen Quellen reden, wenn man auch jemanden durch seinen eigenen Vorgarten jagen und dabei brüllen kann: »Wie geht es Ihnen?«

      »Schade, dass die Zeitung die Basketballmannschaft vertrieben hat?«, sagte Tommy zum Fernseher. »Wäre gut für unser Geschäft gewesen?«

      »Du benimmst dich, also ob dir der Laden gehört, Tommy. Man könnte glauben, es wäre dir ganz egal, ob Spike je wieder aufwacht.«

      Tommy zupfte nervös an seiner Unterlippe. »Sei lieber vorsichtig, Tess? Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, so mit mir zu reden? Ich sehe ihn öfter als der Rest seiner Familie? Mehr als du

      »Wo kommt der Hund her? Wieso wurde Spike zusammengeschlagen? Wie hängt das beides zusammen?«

      Er wandte sich ab und begann am Bierzapfhahn herumzuspielen. Die ersten Stammgäste kamen herein, sodass Tommy die Gelegenheit hatte, sie eine Weile zu ignorieren. Langsam, beinahe zeremoniell, schüttete er kleine Brezeln in Holzschälchen auf der Bar, dann teilte er Untersetzer aus, die in der Geschichte des Point nie jemand benutzt hatte. Hinter der Bar wirkte Tommy in seinem leuchtend gelben Hemd mit der schwarzen Hose genauso neu wie die Untersetzer. Er wirkte sogar größer. Tess beugte sich über den Formica-Tresen und stellte fest, dass er hochhackige karamellfarbene Stiefeletten mit seitlichen Reißverschlüssen trug, etwa Jahrgang 1976.

      »Scharfe Schuhe«, sagte Tess.

      »Na ja, weißt du, ich kann keine Halbschuhe tragen? Schwache Knöchel?«

      »Tun dir nach einem Tag auf den Beinen nicht die Hacken weh?«

      »Du weißt doch, wie das ist – die Arbeit eines Mannes ist niemals getan?« Tommy schaute erstaunt, als alle lachten, aber Tess vermutete, dass er es beabsichtigt hatte. Sie hatte diesen speziellen Tommyismus nicht zum ersten Mal gehört.

      Auch Esskay hatte einen harten Arbeitstag hinter sich, sie hatte Papierhandtücher und Toilettenpapier geschreddert, dann hatte sie die Stückchen aufgekaut und die Klümpchen hinter Möbelstücke und in die Ecken gespuckt. Ein besonders großes, matschiges Stück fand Tess mitten auf ihrem Kissen. Auf ihrem Kissen, nicht auf dem von Crow, was näher an der Tür gelegen hätte. Wusste Esskay, auf welcher Bettseite Tess schlief? Und wenn ja, war dies dann eine Opfergabe oder eher eine Drohung?

      Nach einem langen heißen Bad holte sie immer noch Papierfetzen aus irgendwelchen Ecken, als das Telefon klingelte.

      »Tesser! Du hast gesagt, ich soll dich anrufen, also mache ich das.« Whitney klang ein bisschen zu fröhlich. Die gut gelaunte Mannschaftskapitänin hob sie sich normalerweise für Fremde auf. Fremde, die Whitney auch nicht näher kennenlernen wollte.

      »Ja, das tust du«, gab Tess ohne große Begeisterung zurück.

      »Hast du Lust, rauszukommen und zu spielen?«

      »Jetzt?«

      »Warum nicht? Es ist erst halb neun, der Frühling kommt, und ich hab noch nicht genügend Leute auf der Spesenrechnung. Sie werden die Achtung vor mir verlieren, wenn ich diesen Monat weniger als dreistellig bleibe. Sei meine zögerliche Quelle. Ich werde es dir vergelten.«

      Tess betrachtete die nassen Papierklumpen in ihren Händen. »Ich trage meinen Bademantel und bin schlecht gelaunt. Kannst du nicht ein bisschen Bourbon kaufen und damit herfahren und das auf deine Spesenrechnung schreiben?«

      Sie rechnete mit einer Absage. Tess konnte Whitney weder eine Quittung noch eine Kreditkartenabrechnung geben. Sie konnte nicht mal ihre Parkkarte abstempeln.

      »Okay, aber dann musst du dir irgendwas über deinen Bademantel ziehen. Ich will draußen auf deiner Terrasse sitzen, zumindest solange wir es aushalten. In zwanzig Minuten bin ich da.«

      Tess’ Wohnung war nur halb so groß wie die Stockwerke darunter. Der Rest war ein flaches stinknormales Dach, auf das von ihrem Schlafzimmer aus eine Doppeltür führte. Ein willigerer Mieter hätte auf diesem Pseudo-Patio vielleicht Geranientöpfe aufgestellt oder gusseiserne Caféstühle und einen