Laura Lippman

Die Witwe des Millionärs


Скачать книгу

reichten in Tess’ Fall nicht aus, um dazuzugehören.

      Glücklicherweise war das Kostüm noch nicht zu altmodisch, auch wenn der Laden, in dem sie es gekauft hatte, schon pleite war. In Baltimore kam nichts aus der Mode, vor allem nicht die einfachen Klamotten, die am besten zu Tess’ unmodischer Figur passten. Fast drei Jahre später war ihr Bewerbungsgesprächskostüm immer noch fesch, wie ihre Mutter sagen würde: dunkelblau mit einer engen Jacke, zu der man keine Bluse brauchte, und einem schlichten Rock, der bis zu den Knien reichte. Mit hochgesteckten Haaren und dunkelblauen hochhackigen Schuhen war sie ein Bildnis demütiger Weiblichkeit von über einsachtzig.

      »Eine echte Dame«, befand Tyner, der sie am Donnerstagmorgen betrachtete, als sie sich langsam vor dem körperhohen Spiegel auf der Innenseite der Schranktür seines Büros betrachtete.

      »Das Dekolleté ist übel«, sagte Whitney, die tatsächlich die Nacht auf Tess’ Sofa verbracht hatte. Sie war mit Kopfschmerzen aufgewacht, weigerte sich aber anzuerkennen, dass es ein Kater war, und hockte jetzt auf Tyners Schreibtisch. Sie trug einen Pullover und einen Rock von Tess. An Whitney sahen die zu großen Klamotten schick und bewusst gewählt aus.

      »Danke, Whitney. Du bist eine echte Freundin.«

      »Ich bin nicht unhöflich, aber wenn sie einen Lehrfilm über sexuelle Belästigung drehen, dann würdest du als die verführerische Sekretärin besetzt werden. Man könnte dir zwischen die Brüste stürzen und würde nie wieder zum Vorschein kommen. Es ist zu sexy. Dir fehlt Autorität. Du brauchst einen Schal.«

      »Natürlich. Mir ist aufgefallen, dass der Präsident auch immer einen trägt, wenn er Ansprachen zur Lage der Nation hält.«

      Whitney ignorierte sie und grub in ihrer Dooney & Burke-Handtasche herum, bis sie einen Hermès-Schal mit einem Western-Motiv hervorzauberte – Lassos, Sporen und Hufeisen in Kupfer und Gold vor blau-elfenbeinernem Hintergrund.

      »Cool«, sagte Tess. »Kannst du jetzt auch noch einen Quarter hinter meinem Ohr hervorzaubern?«

      »Ich kann noch viel bessere Tricks.« Whitney arrangierte den Schal so, dass er die entscheidenden Stellen verdeckte, ohne dass sie dadurch aussah, als wäre sie ein tuntiger Pfadfinder. »So, jetzt konzentriert man sich auf dein Gesicht, wie es so schön heißt.«

      »Es passt zum Kostüm«, gab Tess widerwillig zu. »Aber wenn sie mich als Reporter nicht wollten, wieso sollten sie mich als Ermittlerin engagieren?«

      Whitney legte ihr den Arm um die Schulter und trat neben sie vor den Spiegel. Ein kühles Schneeweißchen und ein rot angelaufenes Rosenrot starrten zurück. Weißbrot und Vollkornbrot, Backkartoffel und Rösti.

      »Die Hälfte der Redakteure beim Beacon waren noch nicht mal da, als der Star zugemacht hat«, erinnerte Whitney sie. »Und die andere Hälfte kann sich kaum erinnern, wie ihre Frauchen aussehen, ganz abgesehen von den Hunderten von Bewerbern, die sie mit den Jahren abgelehnt haben. Du bist in ihren Augen jemand ganz Neues, jemand, der ihnen absagen könnte. Ich habe übrigens angedeutet, dass du den Job vielleicht nicht übernehmen könntest, weil du so ausgebucht bist.«

      »Frauchen?« Das war Tyner, der seine temporäre Mitgliedschaft im Mädchenclub zu genießen schien. Tess kam es vor, als würde er ihr gleich einen Lippenstift oder ein Mascarabürstchen hinhalten. »Ich hätte nie gedacht, dass du mal so etwas Sexistisches sagen würdest, Whitney. Du meinst doch wohl Gattinnen.«

      »Nein, ich meine Frauchen. Kleine Frauen. Helferinnen. Es gibt nur eine Frau in den oberen Rängen des Beacon, sie ist Managing Editor und hat die größten Eier von allen. Sie war mal verheiratet, vielleicht auch zweimal, aber ich glaube, die Typen sind jetzt im Zeugenschutzprogramm. Nun begnügt sie sich mit einem Sklavenjungen zu Hause, der nichts als eine gerüschte Schürze trägt und mit einem Scotch bereitsteht, wenn sie gegen zehn oder elf nach Hause kommt.«

      »Klingt für mich nicht schlecht«, sagte Tess.

      »Du hast doch auch so einen, oder?«

      Die Familie Pfieffer, Gründer des Beacon, hatte vieles richtig eingeschätzt. Aber nicht die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt. Die Familie war davon ausgegangen, dass sich die Stadtmitte über die Jahre nach Westen bewegen würde, über die großen Kaufhäuser hinweg in Richtung der Howard Street. Also hatte Pfieffer III. nach dem Zweiten Weltkrieg, als die wachsende Zeitung ein neues Gebäude benötigte, in der Saratoga Street gebaut, nahe dem zehnstöckigen Hutzler’s, dem größten aller Kaufhäuser. Das Ergebnis war ungeheuer langweilig, ein Gebäude aus braunen Ziegeln, das überhaupt keinen Stil hatte. Den einzigen Charme hatte ein echter Leuchtturm ausgestrahlt, ein Bakelit-Leuchtfeuer, das auf einer kleinen Plattform über dem Eingang strahlte. Doch diesen Leuchtturm hatte man in den Siebzigern abgebaut, er war jetzt der heilige Gral der Sammler. Das Stadtmuseum würde alles für ihn geben, aber gerüchteweise hieß es, dass ein ehemaliger Star-Kolumnist ihn auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte und jetzt im dritten Stock seines Stadthauses in Bolton Hill aufbewahrte, wo er quasi voodoohafte Rituale abhielt, um Baltimore zur ersten Großstadt ganz ohne Zeitung zu machen.

      Tess schaute hoch zur leeren Plattform, als sie über die niedrigen, breiten Stufen schritt, sie ging zwischen vom Winde verwehten McDonald’s-Einwickelpapieren und zerknitterten Zeitungsseiten hindurch. Die wenigen Kaufhäuser, welche die Achtziger überlebt hatten, waren lange aus der Innenstadt verschwunden. Ein Penner schlief zwischen den Narzissensprösslingen in einem ungepflegten Blumenbeet. Scheibenwischer – genau genommen Scheiben wischende Erwachsene und sogar ein paar Scheiben wischende Rentner – standen an der Kreuzung. Wie die Pfieffers es vorhergesehen hatten, war der Stadtkern gewandert. Nur in die andere Richtung, gen Süden und Osten, zum Wasser hin. Der Beacon war ein einsamer und unbequemer Außenposten am Rande der städtischen Wildnis. Reporter trösteten sich mit der Nähe zu zwei der besten Essgelegenheiten in Baltimore, den offenen Ständen des Lexington Market und den weißen Tischtüchern des Marconi. Der Beacon lag auch angenehm nahe bei der Kirche Saint Jude Shrine. Glaubte man den Zeitungsgerüchten, pilgerten die Reporter nach Abgabe dorthin und beteten zum Heiligen der nutzlosen Wünsche: »Bitte, Heiliger Judas, lass die Chefs meine Story nicht kaputt machen.«

      Feeney hatte Tess von diesem Ritual erzählt. Und jetzt musste sie sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Feeney derjenige war, der es vermasselt hatte. Es kam ihr unwahrscheinlich vor – ganz sicher war er zu betrunken gewesen, sich in das Gebäude zu schleichen, ein bisschen in den Computern herumzuhacken und spurlos zu verschwinden. Aber wenn die Spur zu ihm führte, dann war Tess entschlossen, ihn zu beschützen, selbst wenn sie noch keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte.

      Im fünften Stock drängte die Sekretärin des Herausgebers, eine dieser merkwürdig besitzergreifenden Frauen, die immer an den Ellenbogen mächtiger Männer klebten, Tess in einen leeren Konferenzsaal, der sich neben dem Herausgeberbüro befand. Es war ein opulenter Saal, in dem man richtig auffahren konnte. Heutzutage gab es natürlich nur Kaffee und Croissants, aber früher wurden hier die wichtigsten Einwohner der Stadt verköstigt. Mahagonitisch, orientalischer Teppich, ein silbernes Teeservice auf einem Mahagoni-Sideboard, die unvermeidlichen Aquarelle Baltimores im 19. Jahrhundert. Wie mussten sich die Ressortleiter vorkommen, die immer wieder aus diesem schicken Saal runter in die chaotische Redaktion mussten? Diejenigen, die dazu da waren, die Brücke zu schlagen zwischen dieser Kommerzialität und den romantischen Idealen des Journalismus? Wie gelang es ihnen, diese beiden Welten miteinander zu verbinden, die Geschäfte und den Inhalt?

      Amnesie, dachte sich Tess. Leitende Redakteure vergaßen ziemlich schnell, was sie von Reporterarbeit verstanden. Wenn ein Mann namens Smith mit seinem Laster in ein Restaurant fuhr und dabei fünf Leute umbrachte, verstanden leitende Redakteure nicht wirklich, wieso man den Kerl nicht anrief und nach allen Details fragte. »Seine Nummer steht doch bestimmt im Telefonbuch«, sagten sie, als gäbe es nur einen Smith und als wäre er nicht im Gefängnis, wo es kein Telefon gab. Und wenn man wie durch irgendein Wunder tatsächlich diesen Smith fand und die ganze Story anschleppte, sagten Redakteure: »Ja, dafür bezahlen wir dich auch.« Oder: »Morgen ist voll, das muss warten.«

      Und jetzt musste sich Tess drei von diesen gedankenlosen Monstern zugleich stellen, und dazu noch dem Herausgeber.