John Howard Yoder

Die Politik Jesu


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Er behauptet schlicht: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Einladung zur Teilhabe am Reich Gottes. Die Annahme dieser Einladung verwirklicht sich in der konkreten Nachfolge Christi, die sich in jedem gegebenen und vorfindlichen politischen Kontext zuerst von dieser Größe ausgerichtet weiß. Das findet seine Entfaltung in der aktiven (!) Gewaltfreiheit, der Relativierung aller politischen Kräfte und Mächte sowie einer stets kritischen Solidarität gegenüber jeder Form von Regierung. Ein Hang zur Werkgerechtigkeit oder die Gefahr der Gesetzlichkeit kann einer solchen Ethik kaum vorgeworfen werden, denn sie weiß sich erst durch die Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben hierzu befreit. Die Botschaft von Jesus Christus (von der Inkarnation über das Leben und Sterben am Kreuz, bis hin zur Auferstehung) zielt – so Yoder – auf die Gestaltung dieser Welt und will als realistische Option inmitten der politischen Debatte verstanden werden.

      In den internationalen wie innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu Beginn der 1970er Jahre musste eine solche „Provokation“ auf fruchtbaren Boden fallen. Im Grunde konnte es sich niemand leisten, dieser Herausforderung zum radikalen Ernstnehmen des Lebens Jesu auszuweichen: die Vertreter einer christlichen (nicht unbedingt jesuanischen) Ethik, die stets um die angepasste Übersetzung in die scheinbaren „Realitäten“ der politischen Umstände bemüht waren, ebenso wenig wie jene, die solch konsequente Lebensführung allein im Rückzug aus der Gesellschaft für lebbar hielten. Und für alle, die sich in ihrem christlichen Glauben längst bequem eingerichtet und mit den jeweiligen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten arrangiert hatten, musste diese schlichte These ohnehin zum Ärgernis werden.

      Entsprechend umfangreich und zum Teil höchst kritisch fielen die Reaktionen denn auch aus. Die Vorwürfe reichten von mangelndem exegetischen Sachverstand über „schlechte“ – weil die vielen wichtigen theologischen Schulen kaum berücksichtigende – Theologie, bis hin zu naivem Schwärmertum oder auch einer viel zu politisch-konkreten Auslegung des Evangeliums. – Im Grunde hatte Yoder damit erreicht, was einem Theologen wichtig sein muss: nicht zuerst die Auseinandersetzung mit irgend einer neuen Variation von Thesen. Vielmehr sahen sich alle Lager, ob konservativ oder progressiv, ob hochkirchlich oder kongregationalistisch ausgerichtet, ob eher ökumenisch-weltoffen oder evangelikal-innergemeindlich orientiert, anhand dieses Buches erneut der Provokation ausgesetzt, die sich in der Begegnung mit dem Leben Jesu selbst stellt. – Und eben das fasziniert letztlich.

      Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis John H. Yoder sich zu einer erweiterten Neuauflage überreden ließ, auf einige der Vorwürfe und Diskussionen eingehend, aber der ursprünglichen Aussage treu bleibend. In der englischsprachigen Welt gehört The Politics of Jesus längst in die Kern-Curricula der größten theologischen Schulen. Theologen aus nicht-mennonitischem Hintergrund haben Yoder neu entdeckt und interpretiert, vor allem Stanley Hauerwas, und so zu einer regelrechten Renaissance des Werkes im 21. Jahrhundert beigetragen. Unzählige Dissertationen sind zur Theologie Yoders verfasst worden, viele weitere sind in Arbeit, ein Ende ist nicht abzusehen. Keine davon lässt dieses Schlüsselwerk des Autors aus, auch wenn die dort zugrunde gelegten exegetischen Erkenntnisse längst durch neuere Forschungsergebnisse zu ergänzen wären. Der schlichten, manchmal aufregenden, manchmal ärgerlichen Provokation an sich tut das keinen Abbruch.

      Ich habe es in den vielen Begegnungen innerhalb des deutschsprachigen Raumes stets bedauert, dass die Neuauflage gerade dieses so wirkmächtigen Buches nicht ins Deutsche übersetzt worden ist: in ökumenischen Begegnungen, in denen die mennonitisch-friedenskirchliche Position verdeutlicht werden sollte, in theologischen Auseinandersetzungen mit Mainstream-Ansätzen zur Christologie, in polarisierten Debatten zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern – gerade hinsichtlich der Möglichkeit zur Gewaltfreiheit, in der Lehre mit Studierenden, auch in der Darstellung einer dezidierten Position christlicher Ethik im interreligiösen Dialog. – Diese Lücke ist mit der hier vorliegenden Übersetzung geschlossen. Dafür bin ich dem Verlag sehr dankbar.

       Fernando Enns

      Vorwort von Jürgen Moltmann

      Mit der längst fälligen deutschen Übersetzung dieses Buches von John Yoder kommt endlich die mennonitische, „täuferische“ und friedenskirchliche Stimme in unseren gegenwärtigen theologischen und politischen Diskussionen zu Gehör. Das ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung:

      1. Es ist höchste Zeit, dass die evangelische Theologie und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland ihre vierhundert Jahre alten Vorurteile gegenüber dem „linken Flügel“ der Reformation revidieren und die Verurteilung der angeblichen „Schwärmer“ und „Rottengeister“ aufheben. Auch diese radikalen Gruppen der Reformation gehören zur Reformation und sind Zeugen des Evangeliums Christi. Wie mächtig jedoch uralte Vorurteile sind und wie schwer es ist, sie aufzuheben, zeigte sich 1980 bei der 450. Jahrfeier der Confessio Augustana in Augsburg: ökumenisch war nur das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche im Blick, die „Täufer“ wurden sowohl historisch wie gegenwärtig vergessen. Es war den Veranstaltern viel daran gelegen, die römische Verurteilung der Reformationskirchen aufzuheben. Sie dachten aber nicht daran, die in ihrem eigenen Bekenntnis ausgesprochenen Verdammungen der „Täufer“ aufzuheben oder auch nur zur Diskussion zu stellen. Verdammen kann man nur, wenn man seines Urteils ganz gewiss ist. In der Frage der Kindertaufe (Confessio Augustana Art. IX), der Bewahrung bis ans Ende (Art. XII), der Todesstrafe und des gerechten Krieges (Art. XVI) sowie der Allversöhnung und des Chiliasmus (Art. XVII) ist die Diskussion sowohl exegetisch wie systematisch weiter gegangen. Die Verdammungsurteile der Confessio Augustana lassen sich nicht mehr aufrecht erhalten. Die Schwerfälligkeit der Landeskirchen, sich für das Zeugnis der täuferischen Gemeinden zu öffnen, ist auch in historischer Schuld begründet, wurden diese doch in der Reformationszeit von evangelischen und katholischen Kirchen und Obrigkeiten gemeinsam verfolgt, unterdrückt und ausgerottet!

      In John Yoders Buch kommt das mennonitische Zeugnis des Evangeliums so klar zum Ausdruck, dass wir im Blick auf diese Verurteilungen und Verfolgungen beschämt und zugleich von dieser Last der Vergangenheit befreit werden.

      2. Evangelische Theologie versteht sich als Theologie, die allein und ganz dem Evangelium verpflichtet ist, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Der Stachel im Evangelium aber ist Jesu Bergpredigt. Wie kommt es, dass nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu und nach der Verkündigung vom darin offenbaren Heil durch die Urgemeinde und durch Paulus die synoptischen Evangelien noch einmal auf den irdischen Jesus zurückkommen, sein Evangelium vom Reich für die Armen erzählen, seinen Weg in die Passion für die Glaubenden und ihre Nachfolge verbindlich machen und also die Glaubenden in die Gemeinschaft mit dem Volk Jesu bringen? Die Bergpredigt ist mit ihrer bedingungslosen Seligpreisung der Armen, Hungrigen und Weinenden und mit ihrem rücksichtslosen Anspruch auf Feindesliebe und Gewaltlosigkeit immer ein Ärgernis in der Geschichte von Theologie und Kirche gewesen. Im Mittelalter half man sich mit der Verteilung der Nachfolgeethik für die Orden und einer allgemeinen Naturrechtsethik für die Weltchristenheit. Die reformatorische Theologie verinnerlichte die Seligpreisungen und verdrängte die Forderungen auf das private Leben im Rahmen der jeweiligen politischen Ordnung. Auch die neue Begründung der christlichen Ethik auf die Herrschaft Christi über das ganze Leben (Karl Barth) lassen den irdischen Jesus und die Nachfolge zurücktreten. Selbst Dietrich Bonhoeffer wandte sich von der Nachfolgeethik, die er 1938 wiederentdeckt hatte, ab, als er in den aktiven Widerstand gegen die Hitlerdiktatur ging. Mit John Yoders Buch über die „Politik Jesu“ gewinnen wir einen neuen Zugang zum irdischen Jesus, zum Weg Jesu und zu einer Christopraxis, ohne die der auferstandene Herr und die Christologie nicht verstanden werden können. Yoder zählt sich selbst zur exegetischen Schule des „biblischen Realismus“. Manche seiner neutestamentlichen Thesen mögen heute umstritten sein, wie zum Beispiel die historische These vom Jubeljahr, das Jesus in Nazareth ausgerufen hat, oder die „Theologie der Mächte“, die Yoder bei Paulus findet. Aber unumstritten ist sein Gedanke von der „messianischen Ethik“ Jesu und weiterführend ist seine Auslegung der Bergpredigt von der Praxis damals zur Praxis heute. Denn durch die Bergpredigt wird unsere Wirklichkeit nicht nur anders interpretiert, sondern vielmehr verändert. Sie wird verändert, weil sie im Anbruch des Reiches Gottes erfahren wird.

      3. Der Friedensdienst der Kirche Christi