Hätte ich gewusst, dass das Buch als Prototyp einer ambitionierten oder fundierten Methodik auf den Prüfstand gestellt würde, hätte ich mich womöglich stärker auf eine Erörterung der theoretischen Prolegomena eingelassen – oder gerade das verweigert, denn in der abstrakten Methodendiskussion gerät man leicht an einen Punkt, wo solche Diskussion sich dem biblischen Text in den Weg stellt und ihm seine zentrale Rolle in der Identität der Kirche streitig macht.
1 Etwa von Birch und Larry Rasmussen, die mich in zwei Auflagen von Birch & Rasmussen (1976) auf verschiedene Weise und in verschiedenen Belegen so zitierten. Ähnlich bei Curran (1981).
KAPITEL 1
Die Möglichkeit einer messianischen Ethik
Das Problem
Unsere Zeit erhebt einerseits den Anspruch, das Christentum hinter sich gelassen zu haben. Man spricht von der nachchristlichen Gesellschaft. Andererseits scheint Jesus, je mehr die traditionelle, kirchlich sanktionierte Auslegung seiner Worte und Werke verblasst, auf viele und besonders auf junge, kritische Menschen eine verstärkte Faszination auszuüben. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass seit Ende der 1960er Jahre viele junge Männer dem Jesus der Sonntagsschulplakate sehr ähnlich sehen. Auch die Rebellen der Studentenrevolte trugen Bart und langes Haar. Ihre Behauptung, Jesus sei ebenfalls ein Sozialkritiker, ein Agitator,2 ein sozialer Drop-Out und der Sprecher einer Gegenkultur gewesen, ist sicher nicht zufällig.
Unter den Theologiestudenten der westlichen Welt fiel die „Theologie der Befreiung“ auf fruchtbaren Boden, weil sie eben diese Behauptung aufstellt. Kann die christliche Ethik diese These genauso schlagfertig (bzw. leichtfertig) zurückweisen, wie sie oft aufgestellt wird? Könnte der Vorwurf mangelnder Ehrfurcht oder der Vereinnahmung für eigene Ziele nicht leicht auf sie zurückfallen? Oder steckt hinter dieser vielleicht übertriebenen Aussage eine biblische Wahrheit, die nun erst, da Revolution zum Schlagwort unserer Zeit geworden ist, in die allgemeine Wahrnehmung einbricht? Hat die ehrfurchtsvolle und „verantwortliche“ christliche Ethik in dieser Beziehung versagt?
Das behauptet diese Arbeit. Sie behauptet nicht nur, dass Jesus dem biblischen Zeugnis nach ein Modell radikalen politischen Handelns darstellt, sondern dass dieser Sachverhalt jetzt in der neutestamentlichen Forschung allgemein sichtbar wird, auch wenn die Neutestamentler ihn bisher nicht so entschieden vertreten haben, dass die Ethiker am anderen Wegrand ihn zur Kenntnis nehmen mussten.3
Eben dies zu tun, ist alles, was die vorliegende Arbeit leisten will; die Geschichte von Jesus so sprechen zu lassen, dass jeder, der sich mit Sozialethik befasst, zuhören kann, statt wie bisher mit einer Reihe von Standardausflüchten anzunehmen, Jesus sei nicht oder zumindest nicht in erster Linie relevant für gesellschaftliche Angelegenheiten.
Ein solcher Versuch der interdisziplinären „Übersetzung“ hat seine spezifischen, ernstzunehmenden Risiken. Er muss beiden Parteien, die er gegenseitig in Hörweite bringen will, übervereinfachend erscheinen, da er damit beginnt, die Grenzen und Axiome der jeweiligen Disziplin nicht zu respektieren. Zudem ist der „Übersetzer“ oder Brückenbauer immer irgendwie ein Fremder, in gewisser Weise ein Laie, der außerhalb seines Fachgebietes wildert. Wir können zur Entschuldigung nur geltend machen: Hätten die Experten die dringend benötigte Brücke gebaut, so hätte der Laie dazu nicht antreten müssen.
Unsere Arbeit versucht also die Beziehung zu beschreiben, die das Studium des Neuen Testaments4 mit der zeitgenössischen Sozialethik verbinden könnte, besonders da die zweite Disziplin sich zur Zeit vordringlich mit den Problemen der Gewaltausübung und Revolution beschäftigt.5 Die Theologen haben lange die Frage nach der Beziehung zwischen Jerusalem und Athen erörtert; hier wird behauptet, dass Bethlehem etwas über Rom – oder Massada – zu sagen hat.
Mit welchem Recht aber darf es einer wagen, ein Seil über den tiefen Graben werfen zu wollen, der gemeinhin die Disziplinen neutestamentlicher Exegese und zeitgenössischer Sozialethik trennt? Normalerweise müsste jedes Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen des Diskurses extrem lang und indirekt sein. Als erstes ist da die enorme Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden, und zwar mit Hilfe der Hermeneutik von der Exegese zur zeitgenössischen Theologie; sodann muss ein weiterer großer Schritt von der Theologie zur Ethik getan werden, über die Soziologie und Ernst Troeltsch. Aus der Perspektive des Kirchengeschichtlers, der normalerweise auf einer Insel zwischen beiden Abgründen sitzt und daher ein Amateur auf beiden Ufern ist, kann ich es nur aus zwei Gründen rechtfertigen, mich auf so amateurhafte Weise in das Problem zu stürzen. Zum einen scheint es, dass die Experten, die auf die lange Reise gehen, nie am Ziel ankommen. Die Exegeten entwickeln in ihren hermeneutischen Meditationen ausgedehnte Systeme der Kryptosystematik und das Feld der Ethik bleibt, wie es war; oder falls dort etwas Neues geschieht, wird es meist aus anderen Quellen gespeist.6
Der zweite Grund für meine Verwegenheit – er könnte selbst Gegenstand einer Debatte in der Exegetengilde sein – ist das radikale protestantische Axiom, das in jüngster Zeit unter dem Namen „biblischer Realismus“ wieder mit Leben gefüllt wurde. Danach ist es sicherer für das Leben der Kirche, das ganze Volk Gottes liest die ganze Breite des biblischen Kanons, als dass es seine Erleuchtung den diversen Filterungsprozessen anvertraut, durch die die Gelehrten der jeweiligen Zeit alle Wahrheit hindurchschicken möchten.7
Ich gehe daher im vorliegenden Buch das Risiko der Synthese weder blind noch unverantwortlich ein, indem ich vorschlage, den Jesus der kanonischen Evangelien mit der Gegenwart zu konfrontieren. Dieses gefährliche Wagnis bedeutet keine Respektlosigkeit gegenüber den vielfältigen, durchaus angemessenen historischen Fragen zur Verbindung zwischen dem Jesus der kanonischen Evangelien und den anderen Jesus-Figuren, die die Wissenschaft entwerfen kann.
Die herrschende Ethik: Jesus ist nicht die Norm
Der klassische naive Ansatz sah einst eine direkte Verbindung zwischen dem Werk oder den Worten Jesu und dem, was es heute bedeuten könnte, gläubig „in seinen Fußstapfen zu wandeln“.8 Darauf gibt es in jeder Epoche christlichen Nachdenkens über Gesellschaft eine ebenso klassische nicht-naive Antwort. Wenn wir diese Antwort der vorherrschenden Richtung formulieren, haben wir den Schauplatz für unsere Erörterung hergestellt. Die erste und schwerwiegendste Feststellung dieser klassischen Verteidigung gegen eine Imitationsethik gründet sich auf die Beobachtung, dass Jesus einfach nicht maßgeblich sei – zumindest nicht direkt – in sozialethischen Fragen. Die große Vielfalt der Versuche, diese negative Feststellung zu belegen, lässt sich vielleicht nicht unfair in drei Thesen zusammenfassen, deren erste die sechsfache Behauptung von Jesu Irrelevanz ist:9
1. Jesu Ethik ist eine Ethik für ein „Interim“, das sich Jesus sehr kurz vorstellte. Der apokalyptische Bergprediger braucht sich nicht um das Überleben fester Gesellschaftsstrukturen zu kümmern, da er meint, die Welt nähere sich dem Ende. Seine ethische Lehre kümmert sich daher logischerweise nicht um das Überlebensbedürfnis der Gesellschaft und die geduldige Konstruktion dauerhafter Institutionen. Die Ablehnung der Gewalt, der Selbstverteidigung, der Anhäufung von Reichtum zum Zwecke der Sicherheit sowie auch die Unbehaustheit des Propheten, der das Königreich Gottes verkündet, sind keine dauerhaften und zu verallgemeinernden Einstellungen gegenüber sozialen Werten. Sie haben nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass das Ende dieser Werte unmittelbar bevorsteht. Deshalb kann Jesus überall dort keine Hilfe sein, wo die Sozialethik sich mit Problemen der Dauer befassen muss. Wenn die Nichtdauerhaftigkeit der sozialen Ordnung eine Voraussetzung der Ethik Jesu ist, dann hat ganz offensichtlich das jahrhundertelange Überleben seiner Bewegung schon diese Voraussetzung ungültig gemacht. So gewinnt das Überleben der Gesellschaft als Wert an sich ein Gewicht, das Jesus ihm nicht gegeben hat.10
2. Jesus war, wie seine franziskanischen und tolstoianischen Nachahmer gesagt haben, eine einfache ländliche Gestalt. Er sprach zu Fischern und Bauern, Aussätzigen und Ausgestoßenen über