John Howard Yoder

Die Politik Jesu


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wie andere anhängen, bezieht sich dann diese extreme Preisgabe spezifischer Substanz nur auf ethische Wahrheit? Warum nicht auch auf jede andere Wahrheit?

      Eine zweite Frage müssen wir stellen: Was wird aus der Behauptung der Menschwerdung, wenn Jesus nicht als Mensch normative Bedeutung hat? Wenn er Mensch ist, aber nicht Vorbild, ist das nicht die alte ebonitische Häresie? Wenn er irgendwie Autorität ist, aber nicht in seiner Menschlichkeit, ist das nicht ein neuer Gnostizismus?

      Auch die innere Schlüssigkeit ist problematisch. Warum sollten Christen innerhalb der Machtstrukturen soziale Verantwortung ausüben, wenn ihr Handeln dort von denselben Maßstäben geleitet ist wie das der Nichtchristen?

      Wollten wir diese Fragen vom systematischen oder historischen Ende aufrollen, so hätte das mit biblischer Forschung nichts zu tun. Wir könnten aber, da wir nun einmal durch diese Fragen sensibilisiert sind, wiederum am Anfang beginnen, und zwar so, dass wir versuchen, einen Teil des Neuen Testaments ohne die üblichen negativen Vorurteile über seine Verbindlichkeit zu lesen. Oder schärfer gesagt: Ich schlage vor, die Evangeliumserzählung mit der dauernd gegenwärtigen Frage zu lesen: „Gibt es hier eine Sozialethik?“ Mit anderen Worten, wir testen die den vorherrschenden Annahmen entgegenlaufende Hypothese, dass nämlich Dienst und Anspruch Jesu am besten so verstanden werden, dass Jesus den Menschen nicht die Vermeidung politischer Stellungnahmen empfiehlt, sondern gerade eine bestimmte soziale – politische – ethische Stellungnahme nahelegt.

      Diese Studie geht also zwei recht verschiedene Aufgaben an. Die beiden unterscheiden sich in Inhalt und Vorgehensweise. Sie verlangen also auch nach verschiedenen Methoden und Veranschaulichungen.

      1. Ich will versuchen, ein Verständnis Jesu und seines Dienstes zu skizzieren, aus dem die direkte Bedeutung Jesu für die Sozialethik ersichtlich wird. Das fällt in das Gebiet neutestamentlicher Forschung innerhalb der exegetischen Wissenschaft.

      2. Ich werde außerdem zeigen, dass Jesus, so verstanden, nicht nur relevant, sondern auch normativ ist für eine zeitgenössische christliche Sozialethik.

      Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das Unternehmen nur dann von Bedeutung ist, wenn beide Antworten bejaht werden können. Wenn aus allgemeinen Gründen der systematischen oder philosophischen Theologie, wie sie lange Zeit die theologische Ethik weitgehend beherrschten, Jesus, wer immer er war, kein Modell für die Ethik ist, dann wird es im Detail bedeutungslos, wer er war und was er tat.

      Wenn Jesus jedoch, anders als alle anderen Menschen, kein politisches Wesen war, oder wenn er weder Originalität noch Interesse gezeigt hätte, auf die Fragen einzugehen, die seine soziopolitische Umgebung ihm stellte, so wäre es witzlos, nach der Bedeutung seiner Haltung für uns heute zu fragen.

      Um die Frage zu vereinfachen und bearbeiten zu können, schlage ich vor, dass wir uns hauptsächlich auf ein Dokument konzentrieren: auf den kanonischen Text des Evangeliums nach Lukas. Lukas’ erzählerische Linie bietet uns eine einfache Skizze, und seine redaktionelle Haltung wurde oft als Versuch angesehen, eine Bedrohung der mediterranen Gesellschaft oder der römischen Herrschaft durch die christliche Bewegung zu bestreiten. Dass wir unsere verstreuten Sondierungen auf Lukas konzentrieren, soll die Lektüre nicht lenken. Jeder andere Evangelientext hätte ebensogut benutzt werden können, und gelegentlich werden wir die Parallelen und Unterschiede in den anderen Evangelien heranziehen.

      Unser Unternehmen hat nicht einmal so sehr mit dem neutestamentlichen Text als solchem zu tun, als mit den modernen Ethikern, die behauptet haben, die einzige Möglichkeit, von der Geschichte der Evangelien zur Ethik zu kommen, von Bethlehem nach Rom oder nach Washington oder Saigon, liege darin, diese Geschichte hinter sich zu lassen. Ich werde mehr die Ereignisse als die Lehre betrachten, mehr die Abfolge als die Substanz. Die nächsten Seiten werden eher Sondierungen als ein eingehendes Gutachten bringen.

      Es ist auch nicht das Ziel dieser Arbeit, exegetisch originell zu sein. An keinem Punkt beabsichtige ich, nie gehörte Texterklärungen zu riskieren. Alles was ich hinzufüge, ist der Brennpunkteffekt einer durchgängigen, hartnäckigen Frage. Weil ich in diesem Punkt keinen Anspruch auf Originalität erhebe, kann ich auf einiges an pedantischem Zubehör verzichten, das hilfreich oder notwendig wäre, würde ich ganz neue Behauptungen verfechten.

      KOMMENTAR ZU KAPITEL 1

      Die Möglichkeit einer messianischen Ethik

      Die Grundthese

      Warum nicht Jesus?