John Howard Yoder

Die Politik Jesu


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jeder jeden kennt und als Person behandelt. Das schlichte „Von-Angesicht-zu-Angesicht-Modell“ der sozialen Beziehung ist das einzige, das ihn beschäftigte. Es gibt also in der Ethik Jesu keine Intention, Wesentliches zu den Problemen komplexer Organisation, zu Institutionen und Ämtern, über Cliquen, Macht und Massen zu sagen.

      6. Oder der Grund ist im Ton „dogmatischer“. Jesus kam doch wohl, sein Leben für die Sünden der Menschen zu geben. Das Werk der Versöhnung oder das Geschenk der Rechtfertigung, wodurch Gott den Menschen befähigt, wieder Gemeinschaft mit ihm zu haben, ist ein gerichtlicher Akt, eine Gnadengabe. Römische Katholiken mögen diesen Rechtfertigungsakt im Zusammenhang mit den Sakramenten sehen und Protestanten im Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis, in der Antwort auf das verkündigte Wort; doch nie wird er mit der Ethik in Verbindung gebracht. Genauso wie Schuld nicht heißt, sündige Handlungen begangen zu haben, so hat auch Rechtfertigung nichts mit richtigem Verhalten zu tun. Wie der Tod Jesu unsere Rechtfertigung bewirkt, ist ein göttliches Wunder und Geheimnis; wie Jesus starb, oder wie sein Leben aussah, das zu diesem Tod führte, ist daher für die Ethik nicht von Belang.

      Aus dieser Ansicht des Denkens und der Lehre Jesu folgt, dass es nicht seine Absicht gewesen sein kann – oder wir können zumindest nicht sagen, dass es sein Verdienst gewesen sei –, präzise Richtlinien auf ethischem Gebiet bereitzustellen. Seine apokalyptische Tendenz und sein Monotheismus können uns lehren, bescheiden zu sein; sein Personalismus kann uns lehren, die Werte der persönlichen Beziehung zu schätzen; aber wenn es darum geht, wie wir Entscheidungen treffen sollen, müssen wir uns anderswo nach Hilfe umsehen.

      Gibt es eine andere Norm?

      Die zweite grundsätzliche Behauptung des vorherrschenden ethischen Konsenses folgt aus der ersten. Wie wir gesehen haben, ist Jesus selbst (sowohl seine Lehre als auch sein Verhalten) letztlich nicht ethisch normativ. Es muss also so etwas wie eine Brücke oder einen Übergang in eine andere Denkweise oder Gedankenwelt geben, sobald wir anfangen, über Ethik nachzudenken. Und zwar nicht nur eine Brücke vom ersten Jahrhundert in die Gegenwart, sondern auch von der Theologie zur Ethik oder vom Existenziellen zum Institutionellen. Eine gewisse, recht bescheidene Fracht lässt sich über diese Brücke befördern: vielleicht ein Konzept der absoluten Liebe und Demut, Glaube oder Freiheit. Aber die Fundamente der Ethik müssen auf unserer Seite der Brücke rekonstruiert werden.

      Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Tendenz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Betonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so dass ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen werden konnten.

      … wer eine Frau hat, [soll] sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht.

      1Kor 7,29ff (Einheitsübersetzung)