Michaela Hanauer

Rulantica (Bd. 1)


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sogar ohne Worte beschreibt, was ihr durch den Kopf geht. Inzwischen hat sie ihre volle Stimmkraft gefunden. Aus dem Augenwinkel sieht sie einen kleinen Neonseestern, der an der karstigen Felswand neben der Korallenbank hängt und seine Farbe im Rhythmus ihrer Melodie wechselt. Jetzt gibt Aquina mehr Druck, klar wie das Meerwasser an Sommertagen schmeichelt ihr Lied, greift die zarten Schattierungen von Rot, Lila und Orange der Korallenbank auf, die sich mit dem Blau des Wassers vermischen. Zu der Anmut ihrer Umgebung legt sie ihre eigene Sehnsucht in die Töne.

      Als sie geendet hat, schüttelt Manati missbilligend den Kopf. »Du träumst doch schon wieder am helllichten Tag! Wann wirst du endlich begreifen, dass wir Sirenen mit dem Skjol unsere Feinde abschrecken und nicht anlocken wollen? Setz dich!« Sie lässt ihren Blick in der Runde schweifen. »Wer kann mir ein anständiges Skjol vortragen? Larima, willst du es versuchen?«

      Das besonders blasse Meermädchen mit den schlammfarbenen Haaren springt auf, als hätte es nur auf die Gelegenheit gewartet. Sie setzt zu einem Knurren, Donnern und Grollen an, das einer Gewitterfront ähnelt. Zum Abschluss lässt sie das Zischen eines Kugelblitzes hören und schickt ihn mit einem überlegenen Lächeln in Aquinas Richtung. Selbst Manati zuckt kurz, aber deutlich zusammen und Aquina würde am liebsten mitgrollen vor Zorn. Das ist mal wieder typisch für diese Streberin, es nicht nur perfekt zu machen, sondern Aquina ihr Versagen auch noch richtig dick unter die Nase zu reiben.

      »Sehr gut, Larima!«, lobt Manati überflüssigerweise. Dann fährt sie fort: »Nehmt euch ein Beispiel daran, so setzt man seine Stimme für den Schutz unserer Insel richtig ein! Alle anderen überlegen sich bis morgen, welche Abwehrtöne sich sonst noch für diese wichtige Aufgabe eignen könnten.«

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      »Mach dir nichts draus!«, raunt Jade Aquina zu, als sie mit den anderen von der Korallenbank in die Mittagspause aufbrechen. »Dafür ist deine Stimme viel schöner als die von Larima.«

      Aquina verzieht das Gesicht. »Was nützt mir das, wenn ich nie singen darf, was ich will?«

      Darauf hat Jade auch keine Antwort. »Komm doch zur Ablenkung mit mir, Orchid und Ruby zum Oberfelsen, es soll dort besonders viele Austern geben!« Aquina schüttelt den Kopf. »Danke, aber ich esse doch keinen Fisch mehr!«

      Jade reißt die großen grünen Augen noch weiter auf. »Echt jetzt? Auch keine Muscheln? Du ziehst das immer noch durch?«

      Aquina seufzt leise. Wieso versteht nicht einmal Jade sie? »Fische und Muscheln sind meine Freunde, genau wie du. Dir würde ich auch nicht die Nasenspitze abbeißen oder deine abstehenden Öhrchen zum Morgenmahl verspeisen!«

      »Selber abstehende Öhrchen«, brummt Jade und zupft sich sofort die langen schwarzen Haare über die Ohren, was allerdings kaum mehr als vorher verbirgt. »Was isst du denn stattdessen?«

      »Meersalat, Seespargel und Algenpesto und ich baue meine eigenen Meerkräuter an«, erklärt Aquina stolz.

      »Du tust WAS?« Jade vergisst sofort ihre Ohren.

      »Ja-aa, ungefähr so hat meine Mutter auch reagiert.«

      »Kein Wunder! Du bist die einzige – öhm, wie nennt man das eigentlich? – Nicht-Fisch-Esserin in ganz Aquamaris.«

      »Ich bevorzuge Algetarierin!«

      »Gut, du verrückte Algetarierin. Zwischen den Austern gibt es bestimmt auch ein paar knackige Algen für dich!«

      Jade schielt zu Ruby und Orchid, die bereits ein gutes Stück entfernt zum Oberfelsen schwimmen.

      »Oder du kommst mit zu mir und ich zeige dir meinen Kräutergarten«, lockt Aquina. »Du bekommst auch eine leckere Seegurke bei uns!«

      »Seegurken sind aber keine Pflanzen«, staunt Jade.

      »Ich weiß«, lächelt Aquina, »meine Mutter denkt, damit könnte sie mich austricksen. So wie mit dem Fisch in Meersalzkruste letzte Woche. Aber wenn du meine Portion für mich mitisst, habe ich wieder ein paar Tage meine Ruhe!«

      »Da möchte ich mich lieber nicht einmischen …«, zögert Jade.

      Aquina tastet mit ihrer türkis-silbrigen Schwanzflosse nach der grünen von Jade und hakt sich ein. »Na, komm schon, du bist meine beste Freundin, wir müssen doch zusammenhalten!«

      »Morgen«, sagt Jade, »morgen komme ich mit, versprochen. Und dann futtere ich dir meinetwegen auch so viele Seegurken weg, wie du willst. Aber lass uns heute zum Oberfelsen!«

      Aquina zieht ihre Schwanzflosse zurück. »Kein Problem, dann schwimm du zu den Austern und ich mache mich auf zur Oberfläche.«

      Jade verschluckt vor Schreck fast eine Portion Meerwasser. »Du willst nach oben? Du weißt doch, dass wir das ohne unsere Eltern nicht dürfen!« Sie streckt wie zum Beweis ihre hellen Arme aus. »Die Sonne ist gefährlich für unsere Meermenschenhaut und könnte sogar unseren Fischschwanz austrocknen!«

      »Was für ein Quatsch!«, lacht Aquina. »An dieses Kindermärchen glaube ich nicht mehr, seit ich sechs bin!«

      »Dann warst du schon öfter allein oben?«, fragt Jade zaghaft.

      »Klar«, brüstet sich Aquina. »Schon so oft, dass ich es gar nicht mehr zählen kann! Magst du vielleicht doch mitkommen?«

      In Jades Gesicht ringen sehr deutlich Angst und Neugier miteinander. Aber dann schüttelt sie sehr entschieden den Kopf. »Ich trau mich nicht, aber heute Nachmittag erzählst du mir davon, versprochen?«

      »Versprochen«, sagt Aquina.

      Ein klitzekleines bisschen ist sie enttäuscht, obwohl sie eigentlich wusste, wie es ausgehen würde. Sie gönnt Jade und den anderen den Spaß an den Oberfelsen, die am Rand der Stadt liegen. Sie überlegt sogar, doch mitzugehen, aber es zieht sie einfach wie magisch noch viel weiter nach oben.

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      Aquina gleitet durch das Wasser. Beinahe schwerelos, nur ab und zu gibt sie sich einen sanften Schub mit ihrem Fischschwanz. Sie hat es nicht eilig. Unten in der Tiefe, wo Aquamaris liegt, sehen fast alle Farben so aus, als läge ein bläulicher Filter darüber, besonders bei Rot und Gelb ist das so. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto verheißungsvoller zaubert die Sonne satte hellgelbe Lichtpunkte auf die Wasseroberfläche, von denen Aquina beinahe hypnotisch angezogen wird. Wieso bloß kommen die anderen Meermenschen so gut wie nie nach oben? Sie liebt die Sonne, die Wärme und die klaren Farben. Mit einem glücklichen Seufzer legt sie sich auf den Rücken und lässt sich von den Wellen tragen. Die Welt ist einfach sorglos hier oben. Ewig könnte sie so liegen. Aquina blinzelt in die Sonnenstrahlen, die sie auf der Nase kitzeln. Wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein, so wie ihre Vorfahren? Aquina kneift die Augen zusammen, als sie darüber nachdenkt.

      Von ihrer Mutter weiß sie, dass ihre Vorfahren ursprünglich Menschen waren – Wikinger –, als sie nach Rulantica kamen. Ihr Anführer hieß Viken Rangnak, der für seinen Clan eine neue Heimat suchte, nachdem das karge Eiland, von dem sie stammten, sie kaum noch ernährte. Für seine Suche bat er die alten nordischen Götter um Hilfe. Zunächst schien ihn keiner zu erhören, und die Wikinger kreuzten ziellos durchs Nordmeer, bis sich schließlich der listige Gott Loki zu erkennen gab. Er brach ein Horn seines mächtigen Helms ab, übergab es Viken und wies ihn an, nach einem weiteren Tag auf See hineinzublasen, sobald er auf eine dichte Nebelwand stoßen würde. Viken hielt sich an Lokis Anweisungen und tatsächlich tauchte aus dem Nebel eine verheißungsvolle Insel auf. Viken und sein Clan erkundeten sie und beschlossen, dort sesshaft zu werden. Sie nannten die Insel Rulantica. Und so heißt sie bis heute.

      Unter der Insel wiederum liegt Aquamaris, die Unterwasserstadt, in der Aquina lebt. Nach Odins Fluch wurden die Wikinger zu Meermenschen. Damit weder Aquina noch die anderen Sirenen jemals vergessen, wie alles angefangen hat und warum sie hier sind, hat Kailani den Friggtag eingeführt, an dem sie vom Fluch Odins, für immer auf die Quelle des Lebens achten zu müssen