Aquina sehen kann, worauf er bisher gesessen hat. Aquina betrachtet das zerquetschte Etwas. Es muss vor dem Aufprall handtellergroß und wahrscheinlich fast rund gewesen sein und mit einer Art rot-gelben Schale, aus der jetzt platt gedrückt der Innenteil herausquillt. Und der ist einfach bloß: Matsch – unansehnlich, gelb mit bräunlichen Flecken. In der Mitte ragt ein kleiner Holzstängel heraus. Dieser Matschhaufen kann unmöglich der Grund für Snorris waghalsige Aktion sein.
»Hast du dir deswegen den Arm eingeklemmt?«, fragt Aquina fassungslos. »Und das Zeug noch nicht mal losgelassen, als du dich mit aller Kraft an der Planke festhalten solltest?«
Snorri senkt den Kopf und schielt sie schuldbewusst von unten an, bevor er nickt.
»Bist du von allen Meergeistern verlassen? Für so was setzt man doch nicht sein Leben aufs Spiel!«
Statt einer Antwort steckt Snorri einen Fangarm in den Haufen und anschließend in seinen Mund. Genießerisch verdreht er die Augen und schmatzt dazu. Aquina schüttelt sich angewidert. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das schmeckt?«
Snorri streckt erneut einen Arm aus, nimmt vorsichtig etwas von dem Brei und reicht ihn Aquina.
»Das esse ich nicht!«
Aber der Sixtopus lässt nicht locker, er schwenkt den Fangarm unter ihrer Nase, bis sie den süßlichen Duft wahrnimmt.
»Riecht tatsächlich besser, als es aussieht«, räumt Aquina ein.
Snorri grinst und schleckt sich über die Lippen. Soll sie es wagen? Giftig ist es sicher nicht, und wenn es gar nicht schmeckt, kann sie es einfach wieder ausspucken. Also öffnet Aquina den Mund und lässt sich von Snorri füttern, sie erwartet nicht allzu viel. Irgendwas zwischen dem meersalzigen Geschmack der Algen und dem zartwürzigen Aroma der Kräuter aus ihrem Garten, vielleicht mit einem Hauch Grundschlamm. Aber der Matsch übertrifft jede Erwartung, so was hat Aquina noch nie in ihrem Leben gegessen. Er ist saftig und süß, gleichzeitig frisch und knackig, aber ohne den knirschenden Sand, den man bei jeder Nahrung aus dem Wasser normalerweise im Mund hat. Es ist ihr völlig egal, wie er aussieht, sie würde den Haufen am liebsten komplett verdrücken und nie wieder etwas anderes essen.
»Snorri, das ist köstlich! Wo kommt das her? Gibt es noch mehr davon?«
Snorri grinst vom linken bis zum rechten Ohrentrichter, weil er sich so freut, seine Freundin auf den Geschmack gebracht zu haben. Eifrig deutet er nach oben.
»Schon klar, das kommt vom Land«, übersetzt Aquina. »Aber wie komme ich da ran?«
Er winkt ihr, ihm zu folgen, und pulpt los. Der Schmerz in seinem Fangarm scheint schon wieder fast vergessen. Snorri ist eben ein kleines Energiebündel. Aquina schwimmt ihm hinterher. Gleich nach dem Auftauchen suchen sie als Erstes den Himmel ab, aber der schwarze Mauk hat sich zum Glück bereits verzogen. Snorri hält auf Rulantica zu, schwimmt aber am Strand vorbei.
»Du weißt, dass ich nicht an Land gehen kann?«, erinnert Aquina ihn zur Vorsicht.
Snorri lässt ein schadenfrohes Schnattern hören.
»Mach dich nur über mich lustig«, mault Aquina. »Das nächste Mal rette ich dich nicht, wenn du wieder irgendwo festhängst!«
Zur Versöhnung hakt Snorri sich bei ihr unter und deutet in einiger Entfernung auf eine Reihe von großen Pflanzen am Ufer, die fast bis in den Himmel ragen. Aus einem Stamm wachsen mehrere kleine Arme, die sich immer weiter verzweigen und mit grünen Blättern bewachsen sind. Aquina bestaunt die Pflanzenriesen, die ihr noch nie so richtig aufgefallen sind, obwohl sie schon hin und wieder über die Wasseroberfläche gespäht hat. Aber bisher blieb ihr Blick immer an den alten Schiffen und Ruinen von Rangnakor hängen.
Snorri war da wohl wesentlich aufmerksamer, denn erst jetzt entdeckt Aquina sie auch: Die runden roten Kugeln zwischen den grünen Blättern müssen es sein. Wenn sie nicht platt gedrückt sind, sehen sie genauso lecker aus, wie sie schmecken. Aquina läuft das Wasser im Mund zusammen. Doch die Freude währt nur kurz. Auch wenn die Riesenpflanzen relativ nah am Ufer stehen, sind sie für Aquina unerreichbar. Sie seufzt und schielt zu Snorri. Er kann sich zwar im Gegensatz zu ihr und im Gegensatz zu den achtbeinigen Tintenfischen, die Aquina außer ihm kennt, auch an Land bewegen, doch sie bezweifelt, dass er auf die Riesenpflanzen klettern und sich eine der Kugeln pflücken könnte. Oder hat er etwa …?
»Wie bist du an die Kugeln herangekommen, Snorri? Mit deinem Schwebezauber? Ist der so stark?«
Aquina fällt ein, dass der kleine Tintenfisch ihr vor einiger Zeit ein Geheimnis gezeigt hat: Wenn er sich ganz fest auf einen Gegenstand konzentriert, dann kann er ihn herbeirufen, ohne ihn zu berühren. Snorri hat es ihr mit einer großen bunt schillernden Muschel vorgeführt, die wie von Geisterhand durchs Wasser auf sie zugeschwebt ist. Aber das war unter Wasser und Aquina hat es für eine Art Wellenzauber gehalten. Kann Snorri das auch an Land und in der Luft?
Snorri schüttelt den Kopf und richtet wie zur Bestätigung seine Tentakel auf den Pflanzenriesen mit den roten Kugeln. Aquina sieht, wie der Kamm ihres Freundes vor Anstrengung anschwillt, und tatsächlich bewegen sich die Kugeln ein bisschen, als würde eine unsichtbare Hand an ihnen ziehen. Doch ihr hölzerner Stiel bleibt fest mit den Armen der Pflanze verwachsen. Snorris Kraft reicht nicht aus, um sie abzulösen. Aquina ist trotzdem schwer beeindruckt: ein Über- und Unterwasserzauber!
Jetzt taucht Snorri kurz zurück ins Wasser und kommt mit einem Stein wieder, dreht sich auf den Kopf und streckt die Fangarme in die Luft, als wäre er eine Art Ableger der Riesenpflanze. Er schüttelt die Fangarme und lässt nach einer Weile den Stein ins Wasser plumpsen. Aquina klatscht in die Hände. »Ich verstehe! Die Kugeln fallen irgendwann herunter und dann musst du sie bloß noch vom Boden aufheben!«
Snorri nickt und freut sich, dass Aquina seine Pantomime erraten hat.
»Und wie lange müssen wir noch warten, bis die nächste herunterfällt?«
Snorri hebt und senkt die Fangarme. Eine Weile starren beide sehnsüchtig zu den roten Kugeln. Plötzlich fangen die Riesenpflanzen an zu vibrieren.
Aquina reißt die Augen auf. Das kann nicht von Snorri kommen. »Was ist das denn nun wieder?«, fragt sie.
»Snrr, snrr«, macht Snorri und zeigt auf Rulantica.
»So weit habe ich es auch verstanden, dass das von der Insel kommt.«
»Sn«, seufzt Snorri.
»Ja, ich weiß, manchmal wäre es besser, wir würden die gleiche Sprache sprechen«, stimmt Aquina zu.
Bevor sie sich über die Verständigung weiter Gedanken machen kann, wird das Beben stärker und stärker. Nicht nur die Riesenpflanzen wackeln, sondern die ganze Insel. Aquina schwimmt ein Stück weiter, um besser sehen zu können.
»Sn, sn!« Snorri deutet noch weiter ins Inselinnere.
»Was ist d…?«
Doch im selben Augenblick erkennt Aquina, was er meint. In der Inselmitte thront ein Berg, neben dem alle anderen Felsen wie Spielzeug aussehen, und obwohl er weit vom Meer entfernt liegt, spürt Aquina, welche Kraft von ihm ausgeht. Ihm fehlt die Spitze auf dem Gipfel, als ob jemand sie abgebissen und dafür einen Krater zurückgelassen hätte. Gerade jetzt fängt es aus dem Krater an zu qualmen. Zuerst nur eine dünne hellgraue Rauchsäule, die aber schnell dichter und dunkler wird. Gleichzeitig zittert die Erde weiter, das Wasser, das Aquina eben noch türkisklar und ruhig umgeben hat, bildet Kreise und trübt sich augenblicklich ein. Und dann geht es erst so richtig los. Der Berg spuckt glühende Steine aus seinem Inneren, sie fliegen über die halbe Insel, manche erlöschen sofort wieder, aber einige werden beim Aufprall sogar flüssig und fließen wie Feuerzungen weiter.
»Der Feuerberg«, flüstert Aquina tonlos. Sie hat ihre Mutter und die älteren Sirenen von ihm flüstern gehört. Wie gefährlich es in seiner Nähe ist, vor allem wenn er nicht nur wie jetzt ein paar vereinzelte Brocken in die Luft schleudert, sondern wenn er richtig ausbricht, sich seine