hat Aquinas Vater Bror einmal behauptet und Kailani hat ergänzt: »Das liegt daran, dass Rulantica eigentlich ein Stück von Asgard ist, dem Land, in dem die Götter zu Hause waren. Loki hat einst ein Stück davon abgebrochen, um es über die Regenbogenbrücke in unsere Welt Midgard rollen zu lassen und daraus Rulantica für uns Menschen zu erschaffen.«
Bisher konnte Aquina sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand oder irgendetwas es mit der Eismagie der Quellwächter aufnehmen könnte. Aquina hatte die Quellwächter schon bei ihrem Training beobachtet, wenn sie in vollem Galopp auf ihren Wasserpferden, den Kelpies, dahinschnellten und mit Eispfeilen aus ihren Fingerspitzen selbst noch so kleine und weit entferne Ziel trafen. Es war jedes Mal ein tödlicher Treffer, hart, kalt und präzise berechnet. Gegenangriffe konnten sie mit einem Eisschild abblocken. Undurchdringlich und unüberwindbar. Nur die mächtige Seeschlange Svalgur könnte ihnen gefährlich werden, sollte sie jemals in ihrer heiligen Halle erwachen.
Aber jetzt, da Aquina den Ausbruch des Feuerbergs sieht, ist sie sich nicht mehr so sicher. Was würde wohl passieren, wenn Feuer und Eis aufeinanderprallen? Sie spürt die Urgewalt des Bergs. Er schüchtert sie ein, gleichzeitig ist sie fasziniert. Eigentlich müsste sie fliehen, sich so weit und so tief wie möglich vor dem Ausbruch verstecken. Aber sie kann einfach nicht wegschauen. Das glühende Farbenspiel in pulsierendem Orange- Gelb hält Aquina in seinem Bann, jedem einzelnen Lavastein staunt sie hinterher, bis sein flüssiges Feuer sich auf die Insel ergießt. Wie lange sie den Feuerberg bewundert, kann Aquina gar nicht mehr einschätzen, aber nach und nach werden die Steinausbrüche weniger, das Glühen verschwindet, der Rauch zieht sich zurück, der Berg liegt dunkel und stumm im Schatten und rührt sich nicht mehr. Erst jetzt klappt Aquina den Mund wieder zu und erwacht wie aus einem Traum.
»Schnnn«, seufzt Snorri neben ihr. Das Schauspiel hat ihn ebenfalls beeindruckt, und er bemerkt als Erster, was es noch bewirkt hat. Aufgeregt zupft er Aquina am Arm.
»Ja doch, das war wunderschön«, lächelt Aquina, aber Snorri lässt nicht locker.
Endlich versteht Aquina.
»Ich werd verrückt! Von wegen gefährlich, der Feuerberg hat uns sogar ein Geschenk dagelassen!«
Durch das Erdbeben sind fast alle Früchte von den Riesenpflanzen gepurzelt und warten am Boden darauf, von ihnen aufgesammelt zu werden.
»Kannst du sie holen, Snorri?«, fragt Aquina.
Der Sixtopus macht ein hoch konzentriertes Gesicht und fuchtelt mit drei Fangarmen in der Luft herum, mit den anderen drei strampelt er auf der Stelle im Meer, um die Position zu halten. Wie von einer Windböe erfasst, heben drei Früchte vom Land ab und schweben langsam über das Meer, kreisen einen Moment über Aquinas Kopf und platschen dann vor ihr ins Wasser.
»Hiergeblieben!« Aquina schnappt sich eine Frucht und beißt sofort herzhaft zu. »Lecker!«, schmatzt sie.
Snorri greifte nach den anderen beiden und beißt abwechselnd rechts und links, bis ihm der Saft aus dem Mund rinnt. Als er fertig ist, dirigiert er die nächsten Früchte herbei.
»Das würde ich auch gerne können«, bewundert Aquina ihn. »Kannst du mir deinen Schwebezauber nicht irgendwie beibringen?«
Snorri hält einen Fangarm hoch, betrachtet ihn von allen Seiten, schüttelt dann den Kopf und macht ein ausgesprochen betrübtes Gesicht.
Aquina muss lachen. »Schon gut, du weißt selbst nicht genau, wie du das anstellst! Das habe ich längst kapiert, und solange du immer in meiner Nähe bist, um für mich feine Früchte durch die Luft zu transportieren, muss ich es ja nicht selbst beherrschen! Ich kann dafür auch was Neues, schau mal!«
Aquina hält ihren Zeigefinger ins Wasser, fixiert ihn und singt dazu, zuerst leise, dann etwas lauter: »Vatt galdur. Vatt Galdur, VATT GALDUR!«
Ganz sanft fängt das Wasser um ihren Finger herum zu kreiseln an, kein Vergleich zu dem Beben, das der Feuerberg ausgelöst hat, eher wie der zarte Tanz einer Mücke über die Wasseroberfläche.
Snorri legt den Kopf schief. »Snä?«
»Du hast recht, das ist total unbrauchbar! Wenn ich das Wasser umrühre, passiert mehr als mit diesem dämlichen Zaubergesang!« Aquina seufzt und zieht den Finger zurück. »Keine Ahnung, wieso wir das in Wassermagie extra lernen müssen. Ich habe bloß das Gefühl, dass mein Finger dabei abfriert!«
Sie steckt ihn in den Mund, um ihn zu wärmen. Plötzlich fällt ihr etwas ein. »Ach, du schleimiger Aal, das habe ich ja völlig verdrängt. Der Unterricht hat bestimmt längst wieder begonnen.« Sie überlegt: »Was habe ich denn jetzt? Tier- und Pflanzenkunde bei Tradon? Oh nein, ich fürchte, es ist Wassermagie! Ich bin letztes Mal schon zu spät gekommen. Und vorletztes Mal. Das gibt Ärger!«
»Snö.« Snorri hält ihr mitleidig eine Frucht hin, die Aquina sich schnappt, bevor sie sich eilig auf den Weg zurück zur Korallenbank macht. »Bis morgen, Snorri«, verabschiedet sie sich. »Dann holen wir uns die nächsten Früchte, einverstanden?«
Mats
»Ey, Mats, aufstehen!«
Die Tür zu Mats’ Zimmer fliegt auf. Sein Zimmernachbar trommelt mit den Fingern gegen den Türrahmen und macht dabei ein komisches Kratzgeräusch mit den Fingernägeln, als wollte er Mats mit Absicht in den Wahnsinn treiben.
»Lass mich in Frieden!«, murrt Mats und zieht sich trotz Sommerhitze die Decke über den Kopf.
»Geht nicht, Carla hat gesagt, ich soll dich um jeden Preis aus dem Bett schmeißen«, trompetet Rayk.
Mats stöhnt innerlich. Nie hat man hier im Kinderheim »Tre Bjørker«, was so viel wie »Drei Birken« heißt, seine Ruhe, ständig platzt einer rein und will irgendwas. Absperren kann er sein kleines, spärlich eingerichtetes Zimmer leider auch nicht. Dabei hat er noch Glück, wenigstens ein Einzelzimmer zu haben. Rayk muss seines mit Jannik teilen, Sven mit Bjarne und York mit Tom-Ole. Doch selbst Carla und Ignatz, seine Heimeltern, haben erkannt, dass er sich lieber zurückzieht, statt ständig mitten im Chaos zu sein. Für Chaos und Lärm sind die Jungs der »Wikingergruppe« nämlich Experten. Ignatz lässt ihnen einiges durchgehen, aber wenn Carla eine Ansage macht, dann hält man sich besser daran, sonst gibt es Ärger und zusätzlichen Küchendienst.
Das weiß Rayk und das weiß auch Mats, deshalb richtet er sich auf und schwingt die Beine aus dem Bett. »Na gut, ich bin gleich da!«
Rayk grinst schief. »Du hast zwei Minuten, sonst komme ich mit einem Eimer Wasser wieder!«
Bloß nicht Wasser!, denkt Mats, weil genau das der Grund ist, warum er heute besonders ungerne aus den Federn will. Es verspricht nämlich, ein extrem mieser Tag zu werden. Einer, den er seit haargenau einer Woche lieber aus dem Kalender streichen würde. Seit seine Sportlehrerin Frau Grenlind gedroht hat, ihn durchfallen zu lassen, wenn er heute nicht zu ihrem Unterricht erscheint. Das ganze bisherige Schuljahr hat er sich erfolgreich davor gedrückt. Ansonsten geht er ganz gerne zur Schule, auch gegen Sport hat er eigentlich nichts einzuwenden. Aber Schwimmunterricht? Für Rayk und Tom-Ole, die in dieselbe Klasse gehen wie er, und für seine restlichen Mitschüler ist es ein riesiger Spaß, das beste Unterrichtsfach von allen – für Mats ist es der blanke Horror. Seit er sich erinnern kann, hat er Albträume vom Wasser. Nicht vor dem, das man trinkt, oder vorm Duschen, sondern vor dem Meer. Es lauert ihm auf, wartet bloß darauf, dass er sich in seine Nähe wagt, um ihn in die Tiefe zu ziehen und zu ertränken. Deshalb hat Mats tausend Wege gefunden, um nicht direkt am Meer oder Strand vorbeizulaufen. Das ist in einer Stadt, die an drei Seiten vom Ozean umgeben ist, gar nicht leicht, sogar das Schulschwimmen findet hier nicht in einer Halle, sondern im Strandbad statt, und im Sommer verbringen so gut wie alle ihre Freizeit am und im Meer. Nicht nur deswegen fühlt Mats sich als Außenseiter, aber er kann nicht dagegen an. Er hat es probiert, immer wieder. Manchmal beobachtet er das Meer aus gebührender Entfernung von oben aus seinem geheimen Felsenversteck, nur um zu testen, ob es ihm noch Angst einjagt. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Schweißausbrüche, Schnappatmung und zitternde Knie. Gesagt hat er das bisher niemandem, besser, sie halten ihn für einen Einzelgänger als für einen