Michaela Hanauer

Rulantica (Bd. 1)


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Das kommt daher, dass ihre Mutter Kailani gleichzeitig die Anführerin der Sirenen ist. Aquina weiß, dass sie als Kailanis Tochter viele Vorteile hat: ein schönes Zuhause im Muschelpalast, Zugang zu zahlreichen Sagen und Legenden … aber die vielen Verbote sind eindeutig die Kehrseite.

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      Aquina hebt leicht den Kopf aus dem Wasser und schielt hinüber zum Land, das nur ein paar Meter von ihr entfernt aus dem Wasser ragt. Einsam und friedlich liegt die Insel da. Zu dumm, dass ihre Vorfahren damals nicht ahnten, in welche Falle der fiese Loki sie gelockt hatte. Sonst wären sie heute noch Menschen und Aquina könnte sich die ganze Welt ansehen und wäre nicht an die Dreimeilenzone rund um Rulantica gebunden. Und sie könnte so schön singen, wie sie wollte, und müsste kein schauriges Skjol von sich geben, um Eindringlinge abzuwehren.

      Bei ihren Ausflügen an die Oberfläche stellt sie sich oft vor, wie ihre Vorfahren in der Wikingersiedlung Rangnakor zu leben. Auch vom Wasser aus kann sie heute noch ein paar der hohen Pfahlbauten mit den geschnitzten Giebeln aus Holz ausmachen. Die Farbe der Balken ist längst abgeblättert, die Bauten sind verwittert und zum Teil eingestürzt, andere werden von Raubvögeln wie den großen schwarzen Mauks als Nistplätze benutzt. Aber in Aquinas Fantasie sitzt sie mit Viken an einer Feuerstelle, rührt in einem großen Kessel und bereitet sich auf die Fahrt mit einem der stolzen Wikingerschiffe vor. Sie will neue Städte und Länder entdecken, mit Menschen reden, die sie nicht schon ihr ganzes Leben lang kennt, und Abenteuer erleben. Oder wenigstens alle Winkel der Insel erkunden, die sie vom Wasser aus nicht sehen kann. Wie es sich wohl angefühlt hat, an Land zu leben und überall hingehen zu können?

      Kailani könnte es ihr erzählen, denn sie gehört zu den Uralten, den Unsterblichen, die damals von Menschen in Meermenschen verwandelt wurden. Doch immer wenn Aquina damit anfängt, wiegelt ihre Mutter nur ab: »Wir konnten dafür nicht so gut schwimmen.«

      »Ihr konntet es wenigstens ein bisschen«, entgegnet Aquina dann ungeduldig, »aber ich kann gar nicht laufen, nicht einmal kurz!«

      »Glaub mir, im Meer ist es viel schöner als an Land«, will Kailani sie jedes Mal beruhigen und vergisst doch nie zu mahnen: »Halte dich fern von Rulantica! Auch vom Wasser aus, hast du verstanden? In der alten Pfahlstadt sollen sich gefährliche Wesen angesiedelt haben. Das ist nichts für ein junges Meermädchen wie dich!«

      »Gefährliche Wesen gibt es hier doch auch. Eishaie und Teufelsrochen zum Beispiel«, hat Aquina ihr nicht nur einmal entgegengehalten.

      Aber Kailani lässt sich in diesem Punkt nicht umstimmen. »Das ist etwas ganz anderes. Den Umgang mit den Gefahren im Meer hast du gelernt, von mir, von Papa und in der Schule. Darauf bist du vorbereitet, auf die Landgefahren nicht!«

      Die Warnungen machen die Insel für Aquina aber nur interessanter. Seit einiger Zeit wagt sie sich immer näher heran und versucht, so viel wie möglich von der Inseloberfläche zu erspähen. Ihrer Mutter verschweigt sie diese Erkundungstouren wohlweislich.

      Die Neugier und das Fernweh ziehen und zerren in Aquina wie das Brennen von Salz auf der Haut, wenn sie das Gesicht zu lange in die Sonne streckt. Sie kann es gerade noch aushalten, aber es geht nie ganz weg, solange sie nichts dagegen unternimmt.

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      Als ob jemand ihre Gedanken gelesen hätte, ertönt plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen, das selbst Larimas Skjol in den Schatten stellt. Blitzschnell rollt Aquina sich herum und hält Ausschau nach der Ursache. Nichts zu sehen. Doch das Geräusch kommt eindeutig von der Insel, und Aquina hat eine schreckliche Vorahnung, wer es sein könnte. In einer Geschwindigkeit, die selbst einen Schwertfisch wie eine Meeresschnecke aussehen lassen würde, schwimmt Aquina auf das Ufer zu.

      Der Strand von Rulantica glüht in der Sonne. Er wurde deshalb früher Goldstrand genannt. Allerdings hat sich dort inzwischen allerlei Strandgut angesammelt. Hauptsächlich von den zahlreichen Schiffen, die Exena, die Anführerin der Quellwächter, hier im Laufe der Jahrhunderte versenkt hat und deren Wracks nach und nach angespült wurden.

      Aquina schlängelt sich durch die Wrackteile und sieht sich gleichzeitig über Wasser um. Gerade noch kann sie einem Mast ausweichen, der knapp unter der Wasseroberfläche wie ein Speer nach oben ragt. Kratsch, mit ihrer Flosse schrappt sie gleich über den nächsten Mast. Hoffentlich hat sie dabei keine Schuppen angeschrammt. Sie taucht mit dem Kopf unter Wasser, um sich wenigstens kurz zu orientieren, wo die nächsten Hindernisse lauern. Es ist purer Leichtsinn, sich in das Labyrinth der Schiffswracks zu verirren. Es gibt nur einen, der leichtsinnig genug wäre, es trotzdem zu riskieren, um zum Strand zu gelangen …

      Schon von Weitem bestätigt sich ihr Verdacht. Im goldenen Sand bemerkt sie einen knallblauen kugeligen Kopf und fünf Fangarme, die wie wild durch die Gegend fuchteln. Der sechste Fangarm scheint irgendwie im angeschwemmten Abfall festzustecken, denn der kleine Kugelkopf zieht und zerrt und heult immer wieder herzzerreißend. So dicht sie kann, schwimmt Aquina heran, aber es liegt trotzdem noch mindestens eine Schiffslänge zwischen ihnen.

      »Snorri!«, ruft sie.

      Der kleine Kopf dreht sich zu ihr. Im Gegensatz zu Aquina kann ihr Tintenfischfreund mit seinen sechs Armen auch an Land herumspazieren und normalerweise beneidet sie ihn darum, aber heute scheint ihm seine Neugierde zum Verhängnis geworden zu sein. »Was hast du dort verloren, Snorri? Der Strand ist doch gefährlich mit all dem morschen Krempel!«

      »SNRRR, SNG, SNGG!«, antwortet er schrill.

      Aquina weiß genau, dass er sie verstanden hat, auch wenn sie seine Sprache nur vage deuten kann. Aber um zu begreifen, dass er sich einen Arm eingeklemmt hat und deshalb nicht mehr vom Strand wegkommt, reichen Snorris Klagelaute vollkommend aus.

      »Was soll ich tun?«, jammert Aquina. »Ich kann nicht an Land, um dir zu helfen.«

      »SNNN-NN«, macht Snorri statt eines Vorschlags. Sein pinkfarbener Kamm am Kopf schwillt bereits feuerrot an vor lauter Anstrengung. Aquina versucht, sich ein Stück über die Wasseroberfläche zu stemmen, um zu sehen, wo Snorri festhängt, aber das ist aus der Entfernung unmöglich zu erkennen. Aquina spürt die aufkeimende Panik des kleinen Tintenfischs über die Wellen hinweg. Snorri ist zwar in der Lage, eine ganze Weile außerhalb des Wassers zu leben, aber wenn er sich nicht fortbewegen kann, ist er leichte Beute für Robben oder andere Raubtiere. Oder die Sonne trocknet nach und nach seine zarte Meereshaut aus. Aquina muss schlucken, sie kann doch nicht tatenlos zusehen! Ach, könnte sie einfach an Land gehen und ihren Freund aus dieser Lage befreien! Wenn sie doch bloß Beine hätte … Hat sie aber nicht, also muss ihr etwas anderes einfallen. Auf keinen Fall kann und will sie zusehen, wie ihr Tintenfischfreund so ein schreckliches Ende findet. Er ist der Einzige, der ihre Sehnsucht, noch mehr von der Welt zu erkunden, versteht, ganz ohne Worte. Und mit dem sie auf Streifzüge gehen kann, ohne sich anhören zu müssen, wie gefährlich das für ein Meermädchen ist.

      Snorri zieht weiter an seinem Arm, legt aber zwischendurch immer längere Pausen ein. Seine erschöpften Atemzüge dringen bis zu Aquina ins Wasser. Hektisch schaut sie sich um. Noch ist kein Feind in Sicht, aber eine Lösung leider auch nicht, außer diesen blöden Wracks. Moment! Vielleicht sind die verrottenden Schiffe gar nicht so blöd – Aquina taucht kurz ab und nimmt bei einem Schiff eine lockere Planke ins Visier. Ob die bis ans Ufer reicht? Sie löst die Planke vom Rumpf und taucht mit ihr zurück nach oben. Mist, die Holzlatte ist nicht lang genug! Aber wenn sie eine unversehrte wählt, die die volle Schiffslänge hat, dann müsste es klappen. Aquina taucht erneut ab und steuert das nächste geeignete Wrack an. Gar nicht so leicht, eine Planke abzumontieren!

      Aquina zerrt unter Wasser fast so wie Snorri oben. Zum Glück spielt zumindest das Gewicht im Wasser keine große Rolle, aber die alten rostigen Nägel, die die Bretter zusammenhalten, erfüllen auch nach langen Jahren noch erstaunlich gut ihre Aufgabe. Endlich, mit einem lauten Krack, lösen sich die mittleren Nägel, jetzt hängt alles nur noch an einer Seite. Aquina umfasst das Plankenende und zuckt zurück, als ihr ein schlangenförmiger Fisch entgegenschnellt – eine braungraue Wrackmuräne zeigt ihre spitzen