allerdings laut sagt, fallen die drei direkt in Ohnmacht. Oder verpetzen sie sogar bei Manati. Den Schutz der Quelle infrage zu stellen ist noch schlimmer, als an die Oberfläche oder zur Eisstadt zu schwimmen oder die Quellwächter cool zu finden oder vor Svalgur keine Angst zu haben oder keinen Fisch zu essen … Manchmal hat Aquina das Gefühl, ihr Leben besteht überhaupt nur aus Verboten.
»Dann bis morgen!«, verabschiedet sich Ruby mitten in ihre Gedanken.
»Bis morgen«, kommt das Echo von Orchid und Jade.
»Bis morgen!« Aquina biegt ab zu der großen Palastgrotte, in der sie mit ihren Eltern lebt. Mit den Muschelmosaiken ist es die schönste in der ganzen Stadt. Die Außenwände erstrahlen im edlen Weiß der Perlmuschel. Das Portal ist umsäumt von Säulen aus Tropfsteinen, statt massiver Türflügel versperrt ein Wasserfall den Eingang. Aquina dreht an der zweiten Säule von links und klopft auf einen Felsvorsprung an der rechten Seite, um eingelassen zu werden.
Die Pracht setzt sich im Inneren fort und hat dem Palast völlig zu Recht den Namen Muschelpalast eingebracht: Die Gänge glänzen in Silber mit kleinen, verspielten Ornamenten und Ranken aus Muscheln, und jeden einzelnen Raum hat Kailani mit Dingen ausstatten lassen, die sie an ihr früheres Leben erinnern. Aquina durchquert den offiziellen Empfangsraum. Es ist ihr sehr recht, ihn leer vorzufinden, ihre Mutter hat wahrscheinlich gerade anderweitig zu tun. Trotzdem muss Aquina zugeben, dass es der schönste Raum im ganzen Palast ist mit seinem halbkugelförmigen Himmelszelt, den funkelnden Sternen und in der Mitte die Sonne in glänzendem Gold, die das Abbild der Göttin Frigg umrahmt. Frigg wird von allen Sirenen als Retterin geliebt und verehrt.
Den Speise- und Aufenthaltsraum zieren Blumen wie von einer Sommerwiese. Und das Schlafzimmer von Kailani und Bror gleicht mit seinen Bäumen einem Wald, durch dessen Baumkronen in der Deckenmitte der Mond herableuchtet, genau über der Schlafstelle, einem Felsenbett gepolstert mit beigegelbem Meerschwamm.
Aquina darf ihr Zimmer nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Sie mag es am liebsten kunterbunt und verwendet nicht nur Muscheln, sondern alles Mögliche, was sie auf ihren Streifzügen findet: Turban- und Kreiselschnecken, farbiger Sand, Steine, Holzstückchen, Algen und Gräser bilden ein hübsches Mosaik an den Wänden. Selten ist es etwas Außergewöhnliches, weil Odins Fluch es ihnen nicht erlaubt, sich weiter als drei Meilen von Rulantica fortzubewegen. Und genau deshalb empfindet Aquina ihre Unterwasserwelt oft als zu eng und klein für ihre große Neugierde.
Wenigstens in ihrem Zimmer will sie regelmäßig etwas verändern, nur das Bild von Snorri hängt schon immer dort. Sie kennt ihn seit ihrer Geburt – oder eher andersrum – er kennt sie seit ihrer Geburt, denn sie kann sich an ihr erstes Jahr natürlich nicht mehr erinnern. Aber ihre Mutter hat ihr erzählt, dass er schon auf sie aufgepasst hat, als sie noch ein Baby war, und sie in den Schlaf gewiegt hat. Im Gegensatz zu den Meermenschen kann Snorri auch außerhalb der Dreimeilengrenze frei herumschwimmen. Aquina beneidet ihn glühend darum, aber zumindest bringt er ihr oft den ein oder anderen Schatz von dort mit. Snorris Geschenke wandern dann ebenfalls in das Mosaikbild.
Während Aquina hin- und hergerissen zwischen Stolz und Wehmut ihre Wände betrachtet, fällt ihr etwas ein. Hatte diese Frucht von heute Mittag nicht im Inneren Kerne? Sie wühlt in ihrer Fischledertasche, holt die rote Frucht heraus und beißt herzhaft hinein – hm, genauso lecker wie vorhin! Sie knabbert sich bis zu Mitte durch und … da sind sie! Winzige braune Kerne, deren Form Aquina an Tropfen erinnert oder an Tränen. Zehn Kerne pult Aquina aus ihrer Frucht. Daraus lässt sich bestimmt ein prima Muster machen. Andererseits … vielleicht sind die Kerne sogar richtige Samen. Ob die Riesenpflanze auch hier in ihrem kleinen Unterwassergarten wachsen würde? Einen Versuch ist es wert!
Aquina steckt zwei der Kerne beiseite, die restlichen sollen an die Wand, gleich neben Snorri ist noch eine freie Stelle, wo sie aus den Kernen die Umrisse der Frucht nachformen könnte …
»Da bist du ja, mein Schatz! Wie war der Unterricht?«
Ohne dass sie es bemerkt hat, ist Kailani in ihr Zimmer geschwommen. Ihre Mutter ist einen knappen Kopf größer als sie, hat einen kräftigen grünblauen gezackten Fischschwanz mit einer elegant gebogenen Flosse, und für eine Sirene, die ansonsten eher schlank und feingliedrig sind, hat Kailani erstaunlich muskulöse Oberarme. Dazu passen ihre nur schwer zu bändigende dunkelbraune Haarmähne, die ebenso dunklen, aufmerksamen Augen und die markante Nase.
Aquina ist immer wieder überrascht, wie wenig sie ihrer Mutter ähnelt, auch äußerlich. Sie hat ihr eigenes Gesicht zwar bisher nur als Spiegelung auf der Wasseroberfläche gesehen, entsprechend unscharf und verzerrt. Trotzdem fühlt sich ihre Nase, wenn sie sie betastet, zierlicher an und mit einer runden Spitze. Aquina hat helle Augen, auch wenn sie die genaue Farbe nicht kennt, und ihre Haare sind genauso weiß wie der Sand an Rulanticas Strand, noch viel heller als Papas inzwischen spärliche Haare.
Ihre Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Wange, dabei fällt ihr Blick in Aquinas halb geöffnete Handfläche.
»Ah, hast du wieder Schätze ges…?«
Aquina ballt die Hand zu einer Faust, aber sie reagiert zu spät, ihre Mutter hat die Kerne bereits gesehen. Kailanis fröhliche Stimmung schlägt sofort um. »Was hast du da, Aquina?«
»Nichts!«
»Zeig mir sofort, was du da in der Hand hast!«
»Das geht dich gar nichts an!«
»Wenn es das ist, was ich glaube, dann geht es mich sehr wohl etwas an!«
»Wenn du es schon weißt, muss ich es dir ja nicht mehr zeigen!«
»Du öffnest jetzt augenblicklich deine Faust!«
»Nein!«
»Doch!«
Kailani greift nach ihrer Hand und zwingt sie, die Finger zu öffnen. Aquina ist völlig überrumpelt und leistet kaum Gegenwehr. Mit Drohungen und dem harschen Ton ihrer Mutter hat sie gerechnet, das kennt sie, doch noch nie hat ihre Mutter ihr körperlich zugesetzt. Die Tränen steigen ihr in die Augen, eine Mischung aus Wut und Schock macht sich in ihr breit. Ihre Mutter scheint es nicht zu bemerken und hält ihr einen der kleinen braunen Kerne unter die Nase.
»Woher hast du das?«
Aquina zuckt mit den Schultern.
»Ich will eine Antwort, Aquina, woher hast du diese Apfelkerne?«
Apfelkerne dringt es in Aquinas Gedanken, nun weiß sie wenigstens, wie die Frucht heißt.
»Hat Snorri sie dir gegeben?«, bohrt Kailani unerbittlich weiter.
Es wäre so einfach. Sie könnte so tun, als hätte Snorri ihr die Kerne mitgebracht, wie er es ab und zu tatsächlich mit einem besonders schön geformten Stück Holz, einer Muschel oder einem Stein tut. Aquina müsste bloß nicken und sie wäre aus der Schusslinie. Snorri bekäme den Ärger, wenn überhaupt. Ihm kann Kailani schließlich nicht verbieten, an die Oberfläche zu schwimmen.
Aber etwas in Aquina wehrt sich gegen diese simple Ausrede. Sie will sich nicht drücken, sie will nicht lügen, sich nicht hinter Snorri verstecken und schon gar nicht soll er etwas für sie ausbaden müssen! Aquina streckt den Rücken durch und blickt ihrer Mutter in die Augen.
»Wir … ich habe die Frucht, die du Apfel nennst, von oben, von der Insel. Und wenn du es genau wissen willst: Sie war das Leckerste, was ich je gegessen habe!«
Kailanis Nasenflügel beginnen zu beben, ein sicheres Zeichen für einen bevorstehenden Wutanfall. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du oben nichts zu suchen hast?«
»Doch«, sagt Aquina. »Hast du. Ständig.«
»Würdest du mir dann bitte verraten, was du trotz meines Verbots dort gemacht hast?«
Aquina denkt an die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht,