Uschi Zietsch

Elfenzeit 6: Zeiterbe


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      Am Nachmittag entschied Edmond, dass er trotz des Vorfalls zur üblichen Tee-Versammlung der Royal Society gehen würde, um die Stimmung unter seinen Kollegen auszuloten.

      Er wollte gerade Richtung Park abbiegen, als ihm eine schlanke Gestalt in grauer Kutte auffiel, die zwischen den ersten Bäumen stand. Die Kapuze war nach unten gezogen, das Gesicht nicht auszumachen. Die Person hielt die Hände in den weit fallenden Ärmeln verborgen. Ganz so, wie es die Mönche und Prediger gern taten.

      Edmond presste die Lippen aufeinander und blieb stehen. Die Gestalt blicke direkt in seine Richtung. Unbewegt, wie ein grauer, drohender Schatten zwischen den reichbehängten Kastanienbäumen.

      Panik stieg in Edmond auf. Bilder des vergangenen Abends flackerten vor seinem inneren Auge. Er glaubte, den Schmerz erneut in seiner Magengrube zu spüren. Es ist helllichter Tag, ermahnte er sich. Niemand wird es wagen, dich jetzt anzugreifen, wo alle es sehen können. Der Mann ist nur ein ganz normaler Geistlicher. Er sieht nur zufällig in meine Richtung. Mehr nicht.

      Doch sein Körper wollte ihm nicht recht glauben, die Beine nicht gehorchen, als er versuchte weiterzugehen. Nicht, wenn er diese Richtung einschlagen wollte. Sollte er umkehren? Fliehen? Vor einem Hirngespinst?

      Nein. Auf keinen Fall wollte er sich der Angst beugen. Er würde einfach den Umweg über die Straße wählen, statt den angenehmeren Weg durch den Park. Dann würde sich zeigen, dass er sich etwas einbildete.

      Mit einem kurzen verlegenen Blick in den Himmel drehte Edmond sich nach links und marschierte möglichst unbekümmert den Fußweg entlang. Weg vom Eingang des Parks. Weg von seinem potentiellen Attentäter.

      Er hatte bereits eine Straße hinter sich gelassen, als er Schritte zu hören meinte. Auffällig hektische Schritte. Solche, die ihn verfolgten. Edmond spannte die Kiefer an. Hirngespinste waren das. Angstgestalten. Reine Phantasie! Aber so gewaltig, dass sie sein Herz rasen ließen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, seinen Atem wurde zusehends kürzer und abgehackter.

      Näher und immer näher schienen die Schritte zu kommen. Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster. Trugen Mönche Lederschuhe? Seine Logik versuchte durch das Wirrwarr seiner Gefühle emporzusteigen, dagegen anzukämpfen. Ohne Erfolg.

      Edmond glaubte, den Atem seines Verfolgers bereits im Nacken zu spüren. Doch immer noch wagte er nicht, sich umzudrehen. Bloß nicht stehenbleiben. Ja nicht innehalten. So wenig wie möglich Angriffsfläche bieten. In der Menge verschwinden. Ja, er musste sich verstecken. Zwischen den Menschen. Irgendwo. In einem der Läden.

      Edmond blickte hektisch die schmalen Eingänge der Geschäfte entlang. Beim Schuster war zu wenig los. In der Parfümerie für Damen würde er zu sehr auffallen. Als nächstes kamen mehrere kleine Fensterausschnitte aus Bleikristall in Sicht, die Auslagen eines Hofschneiders, der auch die Fertigung von Kleidung für den vermögenden eleganten Herrn anbot. Braune und weiße Allonge-Perücken, Justaucorps in Samt und Seide mit breiten Ärmelaufschlägen mit Spitzenbesatz, Westen, Culottes und Jabots.

      Kurzerhand trat Edmond ein.

      »Guten Tag, Sir«, wünschte ein hagerer Mann in adrettem Justaucorps. In der angrenzenden, offen einsehbaren Schneiderei wurde fleißig gewerkelt.

      »Guten Tag«, sagte Edmond und merkte, dass in seiner Stimme etwas Gehetztes lag. Also atmete er gezwungen einmal durch und trat hin zu den Auslagen für weiße Spitzenhalstücher.

      »Was kann ich für Sie tun? Wünschen Sie etwas zu Ihrem aktuellen Kleider-Ensemble?« Der Mann, der wohl für den Verkauf zuständig war, klang höflich-reserviert und deutete auf die verschiedenen Auslagen ringsum.

      Edmond konnte nicht anders, er blickte über die Schulter hin zum Eingang. Und tatsächlich, auf der anderen Seite einer Scheibe stand jemand und schaute herein. Edmond konnte ihn zwischen zwei Perückenständern nicht genau erkennen.

      Was jetzt? Seine innere Stimme schrie ihn an, sich zu verstecken. Sich zu verkriechen und den Atem anzuhalten, bis die Gefahr vorüber war. Sein Verstand protestierte. Hier in der Öffentlichkeit? Vor Zeugen? Unmöglich.

      Doch die Angst quoll in ihm über. »Einen Rock. Ich benötige einen festlichen Rock für eine Festrede«, stammelte Edmond und stürmte weiter zum rückwärtig gelegenen Regal mit den Stoffen, aus denen maßgefertigte Kleider wurden.

      Im Vorbeigehen sah er, dass der Verkäufer die Augenbrauen hob und den Blick an Edmond entlang wandern ließ. Abschätzend, wen er da vor sich hatte. Doch Edmond war es egal. Er deutete auf einige Stoffe. »Haben Sie wohl irgendwo einen Spiegel, vor dem ich mir ein paar Tücher hinhalten kann, ob mir die Farben und Muster überhaupt stehen? Und das ungestört, ich meine … ohne, dass mir jeder dabei zusieht?«

      »Gewiss doch, Sir, dafür haben wir ein kleines Séparée«, sagte der Mann indigniert. Ihm war deutlich anzumerken, dass er Edmond für keineswegs zahlungskräftig genug hielt, war aber zu sehr Gentleman, um ihn sofort hinauszukomplimentieren. Er suchte Edmond ein paar Reststoffe heraus, die für diesen Zweck gedacht waren, und führte ihn in ein kleines, durch Vorhänge von Geschäft und Schneiderei getrenntes Abteil mit einem halbhohen Spiegel.

      Das Herz hämmerte in seiner Brust. Und weiter? Allzu lange konnte er sich nicht aufhalten, bis er hinausgeworfen wurde.

      Um seinen Atem zu beruhigen, dachte er an die Berechnungsformeln des Längenproblems, über das er in seinem Vortrag gesprochen hatte.

      Eine Männerstimme erklang im Eingang. Ein scharfer, herrischer Bariton. Doch zu weit weg, um das Gesagte klar verstehen zu können. Edmond ging rückwärts, bis er sich im Vorhang verwickelte. Wie dumm er doch war. Hier drinnen saß er in der Falle!

      Erneut waren Schritte zu hören. Jemand blieb auf der anderen Seite des Vorhangs stehen. Edmond konnte elegante Schuhspitzen durch den Spalt zwischen Vorhang und Boden sehen.

      Doch bevor der Vorhang beiseite geschlagen werden konnte, hörte Edmond ein leises Poltern, gefolgt von einem Stolpern und Fluchen, und die Schuhspitzen verschwanden. »Verzeihung, das tut mir wirklich leid. So ein Missgeschick aber auch.«

      Die neue Stimme war zu Edmonds Überraschung weiblich und gehörte ganz offensichtlich einer Französin, die bemüht war, gutes Englisch zu sprechen. Sehr ungewöhnlich für eine Nichtadlige.

      Der Mann mit der Baritonstimme beschimpfte sie. »Was hat ein ungeschicktes Weibsbild hier überhaupt verloren?«

      »Oh, das tut mir sehr leid, was für ein Unglück«, stammelte die Frau in fast schon übertrieben bedauerndem Tonfall. »Ich muss den edlen Herrn übersehen haben, als ich nach meinem Mann Ausschau gehalten habe. Ist er hier?«

      Edmond blinzelte.

      »Das kommt wohl darauf an, wer Ihr werter Herr Gemahl ist«, antwortete der Verkaufsmann hörbar pikiert.

      »Er sagte, er wolle hier hereinschauen!«, gab die Französin ein wenig näselnd zurück. »Er hat einen furchtbaren Geschmack. Daher muss ich ihm bei der Auswahl helfen.«

      »Madam, wir sind ein anständiges Geschäft! Ich weiß nicht, was für verlotterte Sitten in Frankreich Einzug gehalten haben, doch hier sind Sie als Frau fehl am Platze und ich muss Sie augenblicklich bitten zu gehen!«

      »Sie haben ihn also nicht gesehen?«, wiederholte die Frau.

      »Sie gehen jetzt!«, forderte der Gentleman sie erneut auf.

      Der Mann mit dem Bariton pflichtete bei. »Sind wir hier in einer Hafenbar, dass verdorbenes Weibsvolk einfach reinmarschieren kann?«

      Ein Schotte, da war sich Edmond sicher. Es lag an der Betonung der harten Konsonanten.

      Unter Protest wurde die Frau aus dem Geschäft gedrängt, und der Schotte verschwand ebenfalls unter Flüchen.

      Edmond wischte sich fahrig über das Gesicht, löste sich aus dem Vorhang und stürmte an dem Verkaufsmann vorbei, warf ihm die Stoffe in den Arm. »Gefällt mir alles nicht!«, rief er und rannte hinaus auf die Straße.

      Im Moment war niemand in der Nähe. Hoffentlich versteckten sich der unheimliche