Uschi Zietsch

Elfenzeit 6: Zeiterbe


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nah bei ihm verstummte. Jemand stand zwischen ihm und der Laterne und warf seinen Schatten. Edmond konnte die Präsenz des Fremden fast schon körperlich spüren, als er sich über ihn beugte.

      »Mister? Hören Sie mich?« Eine Hand griff nach Edmonds immer noch ausgestrecktem Arm und rüttelte ihn leicht. »Mein Name ist Constable Donald Leonard Johnson. Können Sie mich verstehen?«

      Edmond schlug die Augen auf und wollte antworten. Doch es kam nur ein unartikulierter Laut aus seiner Kehle. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Scharfer Schmerz brannte in seiner Magengrube und strahlte bis hoch in die Brust aus.

      »Halley«, brachte er schließlich immer noch atemlos hervor. »Ich heiße Edmond Halley.«

      »Halley, der Astronom und Mathematiker?« Die Stimme des Constable klang überrascht und fast schon ehrerbietig. Offensichtlich gab es doch noch Männer in London, die die Wissenschaft dem Aberglauben vorzogen.

      »Genau der«, gab Edmond zurück. Ein Hustenanfall trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch soweit er in seinem Schockzustand beurteilen konnte, war er ohne größere körperliche Schäden davongekommen. Lediglich der Schmerz in Leibesmitte erschwerte ihm das Atmen.

      Als er endlich saß, zog er sich mit zusammengebissenen Zähnen das Hemd aus der Hose nach oben. Im trüben Licht sah seine Bauchdecke rot, mit einem ins Violette gehenden Schimmer aus. Bei einer massiven Einblutung hätte sich das Bindegewebe wohl schon dunkelschwarz verfärbt.

      »Benötigen Sie einen Arzt?«, fragte Johnson.

      Edmond winkte ab und streckte ihm anschließend seine Hand entgegen. »Helfen Sie mir lieber auf. Aber langsam.«

      Der Constable packte zu und zog Edmond vorsichtig auf die Beine. »Eigentlich war ich auf dem Nachhauseweg und hatte von der Straßenecke Pendelton verdächtige Geräusche gehört.«

      »Das war mein Glück«, stellte Edmond immer noch etwas gepresst fest. Vorsichtig richtete er sich in seiner Gänze auf und atmete sacht einmal durch. Dann sah er sich erneut nach seiner Kladde um.

      »Leider sind mir die Burschen entwischt. Nach meinem Warnschuss haben die sich sofort davongemacht. Heutzutage ist man nirgends mehr sicher vor diesen Räuberbanden«, merkte Johnson an und hob für Edmond die Tasche auf.

      »Oder vor religiösen Fanatikern«, fügte Edmond hinzu.

      Der Constable nickte andeutungsweise. Da er Edmond am Namen erkannt hatte, konnte er sich den Rest gewiss denken. »Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte Johnson nach einer Pause.

      Edmond strich seine Kleidung notdürftig glatt. Was würde Isaac ihm raten? Es auf sich beruhen lassen? Keinen weiteren Staub aufwirbeln? Oder in die Offensive gehen? Den Gegnern die Stirn bieten?

      Kämpferisch geht der Stier zugrunde, hieß es in einem der Gedichtbände, die sie gemeinsam gelesen hatten. Edmond wollte ein Stier sein. Für die Sache, für die Wissenschaft und für das Ego. Ob das klug war, würde sich später herausstellen.

      »Das will ich«, antwortete Edmond ernst.

      Der Constable sah wenig erfreut aus. Kein Wunder. Er war ja nicht einmal im Dienst. Wahrscheinlich hielt ihn die ganze Sache vom Abendessen mit der Familie ab. Aber darauf konnte Edmond jetzt keine Rücksicht nehmen. Es gab Kämpfe, die man durch Schweigen und Stillhalten gewann. Durch seine Ausdauer und bloße Anwesenheit. Aber dieser hier brauchte Standfestigkeit und laute Widerworte.

      »Ja, ich will Anzeige erstatten«, wiederholte Edmond mit fester Stimme und erhobener Hand. »Das hier war mehr als nur eine Lappalie. Es ging ihnen nicht darum, mir ein paar Schillinge aus der Tasche zu rauben. Sie wollten mich verletzen, ja vielleicht sogar umbringen!«

      Constable Donald Leonard Johnson nickte knapp und kramte in seiner Manteltasche. »Natürlich, Sir. Das ist Ihr gutes Recht.«

      Edmond verfolgte, wie der Wachmann nun in seiner Innentasche herumsuchte, doch er schien nicht fündig zu werden. Stattdessen ließ er die Hände sinken und sah Edmond das erste Mal direkt an. »In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit und Ihres Zustandes, werden wir die Befragung besser morgen früh durchführen. Wäre Ihnen acht Uhr genehm?«

      »Nichts zu schreiben dabei?«, fragte Edmond und drückte die Kladde dabei an seine Brust.

      »So ist es«, gab der Constable zu.

      »Kann passieren«, kommentierte Edmond und hob müde lächelnd einen Mundwinkel. Ihm gefiel Johnsons Art, nicht um den heißen Brei herum zu reden. Kein langes Geschwafel oder anbiederndes Gerede, um ja nichts Falsches zu sagen oder um sich aus der Verantwortung zu ziehen.

      »Acht Uhr also«, erbat der Constable nochmals die Bestätigung. »Ist das hier Ihre Wohnadresse?« Er deutete auf die Eingangstür des Hauses.

      »Ich wohne mit meiner Familie in Islington. Dies hier ist nur mein Arbeitsdomizil. Erster Stock. Meine Vermieterin, Mistress Delainy, wird Ihnen aufmachen und den Weg weisen«, sagte Edmond.

      Trotz seines von Wut gespeisten Tatendrangs war er genau genommen froh, die Befragungsprozedur nicht noch heute Abend durchstehen zu müssen. Denn mit der wiedergewonnenen Klarheit wurden auch die Schmerzen immer deutlicher spürbar.

      Das schien auch Johnson zu bemerken. Er drehte sich zum Gehen, zögerte und wandte sich nochmals um. »Wirklich alles in Ordnung, Sir? Ich kann Sie noch bis zur Schwelle begleiten. Es ist keine Schande, etwas wacklig auf den Beinen zu sein, nach so einer Attacke. Das kann selbst den stärksten Mann aus dem Tritt bringen.«

      Edmond besah ihn sich genauer. Der Constable hatte klare helle Augen, die selbst im Halbdunkel der Straßenlaternen blau schimmerten. Der Nasenrücken war ein wenig schief. Vielleicht die Folge eines Kampfes oder anderweitigen Scharmützels im Dienst. Er war mittleren Alters, soweit sich das sagen ließ. Doch seine Haut war die eines Jugendlichen. Kaum Spuren eines Bartes. Und das, obwohl der Tag gewiss lang gewesen war und man in seinem Beruf gewiss keinen gesteigerten Wert darauf legte, sich zum Fünf-Uhr-Tee noch frisch rasiert zu zeigen.

      Er war keiner dieser Schnösel, die zu sehr in ihr eigenes Spiegelbild verliebt waren. Einer, der sich unbequemen Situationen stellte, anstatt aus Bequemlichkeit wegzusehen oder gar die Hand aufzuhalten. Das war in diesen Zeiten nicht selbstverständlich. Schließlich wurden die Constables mehr schlecht als recht bezahlt.

      Edmond beschloss, Donald Leonard Johnson zu mögen. Daher lächelte er ehrlich und schüttelte dann den Kopf. »Danke, Constable. Sie haben bereits genug getan. Mehr, als ich erwarten durfte. Ich danke Ihnen und wünsche einen guten Heimweg. Wir sehen uns morgen. Tee oder Kaffee?«

      »Selbstverständlich Tee. Mit viel Milch«, erwiderte Johnson und deutete einen Salut an.

      Nachdem Edmond sich ins Haus geschleppt hatte, fing ihn Mistress Delainy im Treppenaufgang ab. »Wer waren diese Männer?«, polterte sie in gewohnt forscher Art. War es denn wirklich zu viel verlangt, erst einmal nach seinem Befinden zu fragen?

      »Irgendwelche Diebe und Rumtreiber«, antwortete Edmond, weil er keine Energie mehr hatte, sich näher zu erklären.

      »Das sah mir aber eher nach etwas Persönlichem aus!«, insistierte die Hausherrin unnachgiebig.

      Edmond stöhnte innerlich auf. Aber er musste sich zusammenreißen. Seine Professur machte ihn nicht gerade reich. Und mit der Hetze, die ihn in den letzten Wochen ungut in den Mittelpunkt rückte, würde er in nächster Zeit wohl kaum eine andere Bleibe finden. Vor allem nicht in so einer Lage. Das Arbeitszimmer war sein Rückzugsort und der einzige Platz, an dem er sein konnte, wie er wirklich war.

      »Der Constable war ja da und wird die Angelegenheit klären«, versuchte er die zu erwartende Diskussion abzukürzen.

      »Dass mir das nicht noch einmal vorkommt. Nicht vor meinem Haus«, sagte Mistress Delainy mit pikiert hochgerecktem Kinn.

      »Natürlich, Madam.« Edmond Halley verbeugte sich schicksalsergeben vor der Matriarchin des Hauses und schickte sich an, die Treppe zu seinem Zimmer hinauf zu gehen.

      »Und bluten Sie mir ja nicht die Möbel