auf unserer bretonischen Flagge eben diesen Hirsch darstellen. Doch mit dieser Vermutung liegen Sie falsch. So groß und imposant das Tier mit seinem Geweih auch sein mag, es steht in der Gunst der Bretonen nur an zweiter Stelle. Wappentier und heiligstes Geschöpf dieses Waldes ist das Hermelin.«
Gleichzeitig mit dieser Verkündigung betraten David und Rian den nächsten Abschnitt und standen unversehens in einem schummrigen Raum, der an den Wänden Szenen aus dem Wald nachstellte.
»Es ist eine Projektion«, staunte Rian. Denn die Figuren, die in einer Art Scherenschnitt-Technik gezeigt wurden, bewegten sich. Abermals erklang die Musik der Natur und bannte auch Davids Aufmerksamkeit, während Pierre seine Geschichten weiterspann.
»Da ist es wieder!«, rief David, als plötzlich ein weißes Tier in der Kulisse auftauchte und flink von einer Seite zur anderen lief.
Die restlichen Zuschauer, die sich in diesem Raum eingefunden hatten, drehten sich um und musterten David mit unverhohlenem Grinsen.
»Wieso wieder?«, frage seine Schwester hinter vorgehaltener Hand, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erregen.
»Weil ich es bereits bei unserer Ankunft am Hotel gesehen habe«, gab David zu.
»Das weiße Hermelin, genau wie der weiße Hirsch und die ebenso schneeweiße Eule sind, der Sage nach, einige der Boten jener Fee, die unter dem Namen Viviane, Nimue oder auch Herrin vom See aus der Artus-Sage bekannt geworden ist.« Wieder war es Pierre, der für Aufklärung sorgte.
»Also beobachtet Nimue uns bereits?«, fragte Rian.
David zuckte unschlüssig mit den Schultern.
Als die Show vorbei war, blieben sie ein Stück zurück, während der Besucherstrom sich vorwärts, den Gang entlang zum nächsten Abschnitt bewegte.
»Ein bisschen seltsam sind diese Zufälle schon. Findest du nicht?«, sagte seine Schwester mit gedämpfter Stimme. »Du siehst weiße Tiere, dann schickt uns die Café-Besitzerin hierher und ich ziehe dazu auch noch Nimues Karte.«
»Oder die Karten waren gezinkt und hätten alle das gleiche gezeigt, weil sie Werbung für diese Touristen-Attraktion machen soll«, konterte David.
»Und das Hermelin?«, blieb Rian hartnäckig.
David verzog den Mund. »Es hat geregnet. Der Himmel war voller Blitze. Vielleicht habe ich auch nur eine weggeworfene Flasche gesehen, die am Parkplatzrand entlangrollte und nur weiß gewirkt hat.« Er wusste selbstverständlich, dass es Übernatürliches in vielfältiger Form in der Menschenwelt gab. Aber nicht alles was danach aussah, hatte wirklich einen magischen Ursprung. Dennoch. Ein leiser Zweifel blieb und nistete sich ein.
»Schau doch! Da sind Kobolde!«, rief Rian. Sie war vorgegangen und winkte David eilig zu sich.
»Du willst doch nicht etwa behaupten, Ceridwen wäre ein Kobold!«, tönte hinter David eine wohl bekannte Stimme. Pierre. Live und leibhaftig!
»Ceridwen, die Göttin?«, fragte Rian verwirrt.
»Oh, sie war vieles, aber allem voran war sie eine mächtige Fürstin und Druiden-Priesterin. Ihr Haar soll so schwarz wie die Nacht gewesen sein und so wundervoll glitzernd wie das Firmament«, berichtete der stämmige Mann routiniert und strich sich sinnend über seinen kastanienfarbenen Vollbart.
»Was hat sie mit den Korrigans zu tun?«, hakte Rian wie immer neugierig nach. Denn die Göttin war auf dem Bild von einer Schar kleiner Gestalten umringt.
»Der Legende nach ist die Fürstin mit einigen anderen Frauen in den Wald geflohen, um den Pfaffen zu entkommen. Die Kirche hat damals regelrecht Jagd auf alle Andersgläubigen gemacht. Es heißt, sie hätten sich mit der Natur vereinigt, um so zu wunderschönen, wie auch überaus gefährlichen Feen zu werden – magische Gestalten, die in die Zukunft blicken konnten, Krankheiten heilen und in jeder beliebigen Gestalt erscheinen konnten, um jenen zu helfen, die es verdienten. Die Bösen hingegen verfolgten sie und führten sie mit Hilfe von Trugbildern in die Irre.«
Es war schwer herauszulesen, wie viel Pierre davon wirklich glaubte und was einfach nur Teil einer guten Geschichte war. Ceridwen war in Earrach durchaus ein Begriff. Getroffen hatte David sie nie und wie es aussah, konnte er froh darüber sein.
»So, wie ihr die Fürstinnen, die ihr Korrigans nennt, hier in der Ausstellung findet, sehen sie sie nur tagsüber aus. Der Tribut, den ihre magischen Fähigkeiten fordern. Nachts verführerisch schön und am Tage zusammengeschrumpelt und knorrig wie die Wurzeln, mit denen sie ihre Tränke brauen und die Zauber wirken.« Pierre wandte sich an Rian und schnalzte einmal mit der Zunge. »Und da es dunkel ist, bin ich mir gar nicht so sicher, wen ich hier gerade vor mir habe.«
Der nächste Verehrer in der Reihe. David verzog das Gesicht. »Mein Magen knurrt, wir sollten zurückgehen, um es noch rechtzeitig zum Hotel zu schaffen, bevor das Restaurant schließt.«
»Ich begleite euch! In welchem wohnt ihr?«, lud sich Pierre mit unüberbietbarer Dreistigkeit ein.
Rian gluckste, als sie Davids Miene bemerkte. »Warum nicht. Ich höre gern Geschichten. Besonders, wenn sie von machtvollen Frauen handeln.«
Damit sank Davids Laune auf den Nullpunkt. War das die Retourkutsche für seine unfreundlichen Worte im Café? Wenn ja, hatte sie es ihm mit dieser Aktion doppelt und dreifach zurückgezahlt. So viel war sicher.
Den Rest der Ausstellung ließen sie ohne anzuhalten hinter sich. Ihr redseliger Begleiter gab am Ausgang bei der Kassiererin Bescheid, dass er Feierabend machen würde, und schon waren sie auf dem Weg zurück ins Le Relais de Brocéliande.
»Wird es nicht irgendwann langweilig, immer wieder dieselben Geschichten zu erzählen?«, fragte David, als sie sich an einen der Tische auf der von Kerzen erleuchteten Terrasse des Le Bistrot gesetzt hatten.
»Ich mache auch Führungen durch den Wald und zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten«, erklärte Pierre stolz.
Rian war erstaunt. »Ich dachte, das Gebiet ist mehrere Kilometer groß.«
»Das ist es auch. Wer nicht gut zu Fuß ist, kann sich im Bike Tour Shop ein Fahrrad oder E-Bike ausleihen. Gleich rechts um die Ecke vom Hotel. Die bieten selber Touren an. Aber die Informationen, die man dort erhält, sind nur das übliche oberflächliche Geschwafel.« Pierre sah sie nacheinander an. »Damit gebt ihr euch ganz sicher nicht zufrieden. Das habe ich schon auf den ersten Blick erkannt. Es ist diese Aura.«
David hatte gerade die Speisekarte aufschlagen wollen und gefror in der Bewegung. Das war schon das zweite Mal, dass jemand so etwas erwähnte. Hatten die Einwohner elfisches Blut in sich? Konnten sie erkennen, wen sie wirklich vor sich hatten?
Auch Rian wirkte einen Moment lang irritiert, fing sich dann und lächelte. »Was für eine Aura?«
Pierre grinste verschmitzt. »Es ist meine Gabe, die wahrhaft Suchenden in der Masse auszumachen. Die, die nicht nur ein hübsches Foto haben wollen, sondern sich für die machtvolle Essenz interessieren, die hinter all den Hochglanzprospekten steckt, mit denen in der Tourismusbranche geworben wird.«
David atmete erleichtert auf. In dieser von Mythen aufgeheizten Umgebung lief er offensichtlich Gefahr, paranoid zu werden.
Das Essen bestand aus guter französischer Küche und erschreckend kleinen Portionen. So, wie sich das für die bonne cuisine française eben gehörte. Es brauchte vier weitere Gänge und einen doppelten Nachtisch au chocolat, bis er und Rian sich satt und zufrieden zurücklehnten.
»Na, da hatte aber jemand verdammt großen Hunger«, kommentierte Pierre die leer geputzten Teller und lachte. »Aber ihr macht es schon richtig. Es ist ratsam, sich gut gesättigt in den Wald aufzumachen. Denn es besteht immer die Gefahr, sich darin zu verlaufen.«
»Weil er so weitläufig ist?«, hakte Rian nach.
Der Geschichtenerzähler schüttelte den Kopf. »Wegen der Steine.«
Die Elfenprinzessin hob die Brauen und auch David wurde gegen seinen Willen einmal mehr neugierig.
»Ja,