Uschi Zietsch

Elfenzeit 6: Zeiterbe


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eine Kutsche zu nehmen. Doch als er nach einer Ausschau hielt, war weit und breit keine in Sicht. Also marschierte er müde und ausgelaugt den Weg zu Fuß zurück zu seiner Wohnung.

      Mistress Delainy, die Vermieterin seines Arbeitsdomizils, schien einmal mehr in ihrem Sessel am Kamin zu sitzen und zu stricken. Ihre Silhouette zeichnete sich trotz des dünnen Vorhangs dunkel vor der Lampe ab. Die restlichen Fenster waren dunkel.

      Als Edmond seinen Schlüssel aus der Hosentasche fischte, erklang ein Poltern. Eine Ratte huschte den Bordstein entlang. Nur eine Ratte, dachte er erleichtert. Dann hörte er die Schritte. Schritte von mehreren Personen, die schneller wurden.

      Instinktiv drehte Edmond sich um und zuckte zurück, als ein Holzknüppel knapp an seinem Kopf vorbei schwang.

      »Verdammt!« Er keuchte vor Schreck auf, wankte einige Meter rückwärts, drückte die Tasche fest an den Körper und riss den freien Arm in die Höhe, um einen möglichen zweiten Schlag abzuwehren.

      Stattdessen erwischte ihn ein tief angesetzter Fausthieb in den Magen, bevor er den Angreifer überhaupt kommen sah. Schwarz gekleidete Gestalten. Zwei, vielleicht drei. Ihre Mäntel blähten sich, während sie herumwirbelten, um zu einer neuen Attacke anzusetzen.

      Edmond stieg der beißende Geruch von Ruß und Schmieröl in die Nase. Sie hatten sich getarnt. Deshalb erkannte er keine Gesichter. Das hier waren keine Trunkenbolde, die auf Streit aus waren. Dies war ein Angriff mit Vorsatz. Ein geplanter Überfall, der ihm galt. Ihm ganz allein.

      Edmond fühlte pure Panik. Er war kein Kämpfer. Kein Soldat. War er nie gewesen. Seine Welt bestand aus Zahlen und Papier. Mühsam richtete er sich auf. Die Tasche hatte er nach dem Magenschwinger fallen gelassen. Seine Unterlagen. Er wollte danach greifen, sein Werk und sich selbst in Sicherheit bringen. Der Hauseingang war nur noch wenige Meter entfernt. Doch ein weiterer Schlag mit dem Prügel ließ ihn kopfüber zu Boden stürzen.

      Abermals erklangen Schritte. Dann zerriss ein Schuss den nächtlichen Dunstschleier.

      3.

       La Porte des Secrets

      Paimpont

      David warf sich in seiner Unterwäsche auf das Hotelbett, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Noch etwas länger und wir wären bei diesem Regenguss im Stehen ertrunken.«

      »Gern geschehen«, gab Rian schnippisch zurück, während sie seine und ihre Sachen in dem kleinen Badezimmer verteilte, um sie trocknen zu lassen.

      »Ernsthaft. Noch eine halbe Stunde länger, und mir wären die Ohren geschmolzen bei so viel Süßholzraspelei. Er wäre die perfekte Besetzung für eine dieser Soap-Operas im Fernsehen.« David bewegte die Augenbrauen mehrmals hoch und runter.

      »Du meinst solche, die du dir mit mir zusammen so gern anschaust?«, konterte seine Schwester.

      »Nur, um etwas von deinem ewig währenden Süßigkeitenvorrat abzubekommen«, erwiderte er schmunzelnd und schleuderte Rian ein Kissen in den Rücken.

      »Hey! Die Kissenschlacht spar dir lieber für dich und Nadja auf.« Kaum ausgesprochen, gefror Rian in der Bewegung und drehte sich dann langsam zu ihm um. »Entschuldige, das war wohl etwas gedankenlos von mir.«

      Davids Herz krampfte sich zusammen, doch er mimte den Starken und zuckte mit den Achseln. »Du hast ja recht. Sobald wir sie gefunden und sicher zurückgebracht haben, werde ich sie in mein Bett zerren und nie wieder hinauslassen.«

      »Chauvinist.« Rian mühte sich um ein Lächeln. Doch auch sie vermisste unübersehbar ihre beste Freundin und machte sich große Sorgen um sie.

      Trotz des nagenden Gefühls, weil sie Nadja nicht selbst suchen gingen, sondern es Fabio überließen, entschieden sie, den Abend und die Nacht im Ort zu verbringen und erst am folgenden Tag bei hoffentlich besserem Wetter zum See von Nimue aufzubrechen. So wie die Blaue Dame es ihnen ausgerichtet hatte.

      Rian schlug vor, sich mit etwas trockeneren Klamotten einen großen Café au Lait zu gönnen und danach die Umgebung zu erkunden, bevor es dunkel wurde.

      Eine gute Idee, fand David. Und das nicht nur, weil er sich immer noch fragte, was für ein Tier er vorhin am Waldrand gesehen hatte. War es nur ein Trugbild gewesen? Oder ein Feentier, das Nadja geschickt hatte? Solchen Geschöpfen war es möglich, frei zwischen den Welten zu wechseln. Und sie waren vornehmlich weiß. Genau wie das, was David gesehen hatte. Oder zumindest glaubte, gesehen zu haben. Doch dann wäre es wohl kaum davongelaufen. Viel wahrscheinlicher war eine Reflexion der zahlreichen Blitze, die sich am Himmel wie ein Adergeflecht fortgepflanzt hatten. Oder?

      Die Ungewissheit trieb David zusammen mit seiner Schwester hinaus auf die Straße. Das Café Librairie lag nur wenige Schritte entfernt die Rue du Général de Gaulle entlang. Ein kleiner verschwiegener Laden mit einer breiten Schaufensterfront und zwei einfachen Holztischen draußen an der Straße.

      Rian war sofort hellauf begeistert, als sie einen Blick ins Innere warf. »Schau doch, es ist gleichzeitig eine Boutique!«

      David verdrehte die Augen und folgte nur widerwillig. Manchmal war die kindliche Begeisterung seiner Schwester einfach zu viel des Guten. Besonders, wenn der Shopping-Wahn sie überfiel und er am Ende alles tragen musste. Zu seiner Überraschung fanden sich auf den Regalen und Ausstellungsflächen keine typischen Touristen-Souvenirs, sondern ausgesuchte Mineralien, liebevoll gestaltete Kunstobjekte und ein paar handgemachte Halsketten.

      Es roch nach Kiefernharz und Tannenzapfen. Im Hintergrund spielte eine Musik, die aus Wind und vereinzeltem Vogelgezwitscher bestand. Aber das auffälligste war die Energie, die dieser Ort verströmte.

      Rian schritt geradezu andächtig zwischen den Verkaufstischen entlang, berührte hier und da einen der glatt geschliffenen Halbedelsteine oder linste nach dem Preis einer Kette.

      »Bonjour, Monsieur«, erklang eine voluminöse, warme Stimme. Eine ältere Frau war zu ihnen hereingekommen. »Mein Name ist Anne-Marie. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Französisch klang ein wenig härter, als David es bisher in der Region gehört hatte. Doch er konnte noch nicht ausmachen, ob es ein Akzent war oder einfach eine sprachliche Eigenheit.

      »Bonjour«, erwiderte er mit einem leichten Kopfnicken. »Wir sind gerade erst angekommen und wünschen uns einen Café au Lait.«

      Anne-Marie lächelte mit ihrem ganzen Gesicht. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln mehrten sich, die Mundwinkel gehoben, erschienen kleine Grübchen in den vom Alter gezeichneten Wangen.

      »Ich glaube, Sie suchen mehr als das, nicht wahr? Für den Anfang kann ich Ihnen mit Sicherheit weiterhelfen.«

      David guckte sie ein wenig verdattert an. Wusste sie etwas? Las sie in ihm seine Sehnsucht und Sorge ab? »Weiterhelfen?«, brachte er ein wenig stotternd hervor. »Wie meinen Sie das?«

      Jetzt lachte sie auf. Offen, herzlich und ein wenig verschmitzt. »Mit dem Kaffee, mein Herr. Dürfen es zwei sein? Für Sie und ihre wunderhübsche Begleitung?«

      »Unbedingt!«, meldete sich Rian zu Wort und lehnte sich von hinten gegen ihren Bruder. »Das hier ist übrigens mein Zwillingsbruder David und mich können Sie Rian nennen.«

      »Willkommen in Paimpont, dem Tor zum Zauberwald«, sagte Anne-Marie und ihre Augen blitzten erneut geradezu schalkhaft auf. »Hat dich einer der Steine gerufen?«, fragte sie mit einem angedeuteten Nicken in Richtung der Verkaufsauslage.

      Sie war wie selbstverständlich ebenfalls ins Du verfallen. Eine Wirkung die Rian fast immer auf die Menschen hatte, wenn sie mit ihrer überbordend fröhlichen Art zu ihnen sprach.

      »Am liebsten würde ich sie alle nehmen!«, entgegnete sie.

      »Und was ist mit dir, David?«, wandte sich die Inhaberin nun wieder ihm zu. »Was brauchst du?«

      Ein Kribbeln durchfuhr seinen Körper, als würde ihr Blick ihn von innen nach außen abtasten.

      »Immer noch Café au Lait«, sagte er knapp und trat einen Schritt auf den Ausgang zu.

      Rian