Robert Heymann

Die Narrentour der Liebe


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suchte. Sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Sie bat, biss, kratzte und entdeckte zugleich mit Entsetzen, dass Harlekin die Züge des Todes annahm, wie seine Mienen sich versteinerten und nichts in seinem Gesichte mehr lebendig war als die kristallenen Augen, die plötzlich aus der weissen Schneefläche seines Antlitzes fielen und auf der Erde zerbrachen.

      Von ihrem eigenen Schrei geweckt, fuhr sie hoch. Gedrückt begab sie sich in den Zirkus, in der Hoffnung, dort etwas von ihrem Geliebten zu erfahren. Man sagte ihr aber nur, was sie schon wusste: Harlekin war Hals über Kopf nach dem Orient geflohen. Der Direktor fluchte wie ein Flösser, und der Stallmeister erklärte, dass sie nun nichts mehr hier zu suchen hätte.

      Sie hielt sich zitternd und bebend eine Weile im Zuschauerraum verborgen.

      Sie wunderte sich, wie verändert das Bild in der Manege aussah, wenn man es von den Logen aus betrachtete. Eine Weile sass sie ganz still und beobachtete die Probe. Der Stallmeister mit seinem mattbronzenen Kopf sah eine Sekunde lang herauf. Mie gegenüber brannte der purpurne Vorhang zu den Ställen. Die Loge, in der sie sass, war mit mattroten Plüschstreifen bezogen. Violett, grün, rot, gelb — eine Komposition von aufgesogenen Farben, lag der Teppich. Die rassigen Pferde, die sich eben in einem Paradestückchen übten, trugen einen Abglanz dieses aufregenden Farbengewirrs. Wie Pferdchen beim Konditor hoben sie in schöngemeisselten Bewegungen die weissen Vorderfüsse. Eine Reiterin stand in kurzem, veilchenblauem Rock und einem Mieder à la Eugenie neben einer Österreicherin, die Kunstfahrerin war und die Kaiserin Elisabeth kopierte. Sie hatte dieselbe königliche Figur und war sehr schön. Aber ihr fehlte der Adel wie er um den strengen Mund der toten Kaiserin gespielt hatte. Ein Clown mit roter Nase und dicken schwarzen Augenbrauen sprang umher. Ein anderer trug ein spanisches Jäckchen mit schweren Stickereien; der hatte die Lippen scharlachrot und breit wie einen Vorhang angemalt. Ihre Stimmen klangen heiser und übernächtig auf einen dressierten Pudel ein, der melancholische Sprünge machte, die jetzt, wo niemand die Naivität des Lachens fand, traurig abgeschmackt anmuteten. Der Direktor dirigierte das Lieblingspferd Hassan mit den edlen Nüstern und den wunderbar flammenden Augen, das Produkt einer sorgsamen Rassenhygiene. Dieser Aristokrat unter den Pferden musste auf zwei Hufen durch die Arena stolzieren und vor den Damen die Verneigung eines spanischen Granden üben.

      Als die Probe zu Ende war, näherte sich Mie dem Stallmeister von neuem und bat in beweglichen Worten, sie doch nicht dem Elend und Schlimmerem preiszugeben. Der Stallmeister riet ihr, aufs bayrische Konsulat zu gehen und sich das Billett für die Heimreise nach München besorgen zu lassen.

      Indes er mit ihr sprach, betrachtete er sie näher. Er fand, dass dieses halbe Kind einen seltsam reizvollen Körper und ein Versprechen ungewöhnlicher Lust im Auge trug. Er sagte zu, sich für sie zu verwenden.

      „Kannst du reiten?“

      „Ich will versuchen, es zu lernen, wenn Sie mir Ihre Zeit opfern wollen.“

      Er lächelte wie ein Faun und begann gleich am selben Tage mit der Lektion. Mie war gelenkig, hatte Mut und besass Kraft. Wenn sie atemlos dem galloppierenden Pferde nachjagte, um sich, am Sattelgurt anklammernd, im schnellen Lauf am Halse hochzuziehen, keuchend zum Rücken aufzuschnellen, dann folgte ihr das Auge des Stallmeisters bewundernd und gierig. Geza, der Lehrer, war mit einer Artistin verheiratet, denn ehedem war er selbst ein Meister auf dem Trapez gewesen. Jetzt zählte er nicht mehr zu den Jungen. Aber seine martialische Figur und die Mittel, die er anwandte, um sein Alter zu verbergen, machten ihn in der Menge immer noch zu einer rennomistischen Erscheinung.

      Im Verlaufe von acht Tagen lernte Mie das Reiten. Geza schonte die Peitsche nicht, weder bei Mensch noch Tier. Mie empfing manch schmerzhaften Streichhieb über Rücken und Schultern. Obgleich in ihr ein wilder Hass gegen ihren Peiniger aufflammte, wagte sie nicht dies zu zeigen. Geza aber schien das zu fühlen. Es machte ihm Vergnügen sie zu quälen, und je mehr Fortschritte sie machte, um so halsbrecherischer wurden die Übungen, zu denen er sie anhielt.

      Indessen vollzog sich etwas in Mies Leben, dessen Bedeutung sie nicht begriff und das sie ohne sonderliche Gewissensbisse und Aufregungen hinnahm, weil sie weder den moralischen noch den physischen Konflikt darin erfasste. Geza benutzte eine frühe Vormittagspause, wo niemand anwesend war als er und Mie, sie zu nehmen. Seinen Riesenkräften war sie nicht gewachsen, und so unterlag sie.

      Der Stallmeister tat in der Folge so gleichgültig, als sei nichts geschehen, und Mie verbiss wutvoll das Gefühl aufquellender Scham, das sie überflutete, so oft sie den Zirkus betrat.

      Diese Scham war ein ursprüngliches Empfinden der Auflehnung gegen den räuberischen Akt, der Gezas Gewalttat darstellte, und sie erstreckte sich nur auf die Person, nicht aber auf die Sache. Denn das Schamgefühl als Ausdruck des sittlichen Gewissens war ihr fremd. Sie war entschlossen, dieser Atmosphäre zu entfliehen, sobald sie erst die nötigsten Mittel zur Reise nach München beisammen hatte. Im nächsten Programm trat sie zu Beginn der Vorstellung als Reiterin auf, ohne sonderlichen Beifall zu ernten. Gleich am ersten Abend ereignete sich ein schreckliches Unglück. Vilja, eine junge Elevin, die schon auf den Proben durch die Virtuosität, mit der sie ritt und sprang, den lauten Beifall des Direktors und aller Kollegen gefunden, fiel bei einem Sprung durch den Reif so unglücklich, dass sie mit einer schweren Schädelverletzung weggetragen wurde.

      Rushton, der Clown, welcher den Reif gehalten, wurde mit Vorwürfen überhäuft. Man stellte fest, dass durch sein Verschulden Vilja der Sprung missglückt war, weil er im letzten Moment den Reif so nahe an die Füsse der Reiterin brachte, dass sie sich überschlug. Ein Huf des galoppierenden Pferdes traf sie so unglücklich an den Kopf, dass der Knochen brach.

      Die Frau des zweiten Clowns bespuckte den Urheber der Katastrophe, als er sich verteidigen wollte. Man wusste, dass er Vilja schon seit Eintritt in den Zirkus mit seiner Liebe verfolgte, aber abgewiesen worden war. Der Streit endigte mit seiner Verhaftung. Da ihm aber die Behörde nichts nachweisen konnte, so wurde er wieder freigelassen. Die Artisten weigerten sich, nochmals mit ihm zusammen aufzutreten, und Rushton verschwand, um alsbald in Russland wieder aufzutauchen, wo man sich wenig um dieses Abenteuer bekümmerte.

      Mie hatte die liebreizende, immer freundliche Vilja ins Herz geschlossen. Die Kunstreiterin entstammte keiner Artistenfamilie. Von einem Aristokraten verführt, musste sie aus dem Elternhaus flüchten und war schliesslich, um nicht unterzugehen, im Zirkus gelandet. Nun rang sie einsam in einem Saale der städtischen Klinik um ihr armes, nutzloses Leben.

      Mie konnte den verzweifelten, anklagenden, in seiner Stummheit schreienden Blick Viljas, der über die schreckensbleichen Gesichter der Umstehenden geirrt war, als man sie hinaustrug, nicht mehr vergessen. Eine wahnwitzige Angst vor dem Zirkus, vor den Menschen, vor diesem dämonischen Leben ergriff sie. Als sie nach einigen Tagen wieder den blonden Kavalier in der Loge sitzen sah, steigerte sich diese Angst bis zu krankhaften Vorstellungen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, begab sie sich auf das Konsulat und liess sich die Fahrkarte nach München besorgen. Arm, wie sie von dort gekommen, schiffbrüchig, langte sie wieder in der Heimat an. Sie besass eben noch die paar Pfennige Zehrgeld, die man ihr mitleidig gewährt. Ein kleines Kofferchen in der Rechten, studierte sie die Anschlagssäulen und begab sich vom Bahnhof aus nach dem Varieté Monachia, um ein Engagement zu erbitten.

      Dieses kleine Tingeltangel, das in einer Seitenstrasse des belebtesten Stadtteiles in der Nähe des Karlstores lag, hatte literarische Ambitionen. Als sie in den Saal trat, fand eben eine Probe statt. Der Direktor liess sie in sein Bureau kommen. Sie sah sich einem untersetzten, dicklichten Manne gegenüber, dessen verwaschene Züge auf den ersten Blick nichts Aussergewöhnliches aufwiesen. Nur das seitwärts gescheitelte blonde Haar, das zu beiden Seiten des Gesichts wie fransige Vorhänge niederfiel, verriet die künstlerischen Voraussetzungen Joseph Valliers. Er kam mit Mie überein, sie am Drahtseil auftreten zu lassen, und stellte ihr auch die Apparate, nachdem eine kleine Probe zu seiner völligen Zufriedenheit ausgefallen war.

      In den nächsten Tagen also trat Mie in dem kleinen, raucherfüllten Lokal als Drahtseilkünstlerin auf. Sie erntete rauschenden Beifall, weniger durch ihre Fertigkeit, als durch ihre Beine, deren klassisch schöne Modellierung in der Nähe und bei einem Publikum, das sich in der Hauptsache aus Studenten zusammensetzte, zur erwarteten Geltung kam.

      Schon in den nächsten Wochen bereitete