scheinbar völlig ferne lag — auf dem der Kunst.
Eine neue Ära war in München angebrochen. Aus Norddeutschland übernommen, wo Wolzogen sein Überbrettl gegründet, wurde die neue Kunstrichtung von einer Schar Münchner Künstler mit süddeutscher Kultur und dem Blute der Türkenstrasse belebt, die mit dem Montmartre jedenfalls mehr Berührungspunkte hatte, als der Berliner Westen je trotz allen guten Willens aufweisen konnte: Die Herrschaft des Chansons begann.
Die Literatur des Tages und das Vergnügen der Nacht bewegten sich seit langem in enger Berührung. In Deutschland allerdings erst mit einem stillen, verwunderten Protest. Dann in einer Art spontaner Übereinstimmung. Und plötzlich entwickelte sich aus dieser Verbindung heraus eine neue Literatur, eine Mischung naiven Lasters und raschlebiger Talente, eine Kultur für sich, die an den Stundenzeiger der Uhr gebunden war und um Mitternacht mit einem zynisch kindlichen Lächeln, dessen Verbindung restlos nur den Grisetten des quartier latin gelingt, durch die Grossstadt irrte.
Die Poesie des Cafés. Ein Kind verzehrender Träume, eingehüllt in Zigarrenwolken, die den dürstenden nackten Leib nicht verhüllten. Ein Nebel wirrer Phantasie krönte ihr Haupt. Zigeunerweisen umgaukelten ihren Flug.
Das Cafélied, das Chanson, trat auf eine provisorische Bühne, auf schnell und lose gezimmerter Bretter, und bot sich preis. Wie die Dirnen der Place Pigalle noch in den frühen Morgenstunden ein giftiges Getränk schlürfen, so suchte das Chanson dem Deutschen den Absynth zu ersetzen und Verlaines grünblaue Vorstellungswelt nach München zu importieren.
In dem Saal des alten Hirschen-Gasthofes in der Türkenstrasse etablierten sich die „Elf Scharfrichter“, als deren geistige Führer Marc Henri und Frank Wedekind gelten durften, deren geschicktester Satiriker aber Schlesinger war, der später in der prosaischen Redaktionsstube einer Tageszeitung landete. Alsbald begannen die literarischen Hinrichtungen. Sie begründeten die süddeutsche Kleinkunst. Sie schufen aus abgelauschten Vorbildern des Boulevard Saint Michel einen künstlerischen Stil, als deren sensitivste Mittlerin Marya Delvard gross wuchs.
Der Erfolg, den die Elf und die neue Richtung überhaupt in München errangen, liessen den kleinen Direktor der Monachia nicht ruhen. Josef Vallier war ein ungewöhnlicher Rechner, ein Genie der Nachahmung, ein Kleinhändler der Literatur, der in der ideenreichen Zeit der neunziger Jahre reichen Boden für Beute aller Art vorfand. Er erfasste mit scharfem Blick das unsichere Fundament, auf dem die künstlerische Produktion des Überbrettls in München fusste. Er kannte das Publikum aus vielfältiger Erfahrung, denn er war nicht nur ausübender Künstler und Schausteller von der Art des klassischen Schichtl gewesen. Er hatte nicht gezögert, die günstige Konjunktur, welche die Passionsspiele in Oberammergau boten, mit einer Truppe internationaler Ringkämpferinnen aus der Au und Giesing an Ort und Stelle auszunutzen, und er hielt sich für einen künstlerischen Märtyrer, seitdem er damals knapp der Steinigung entgangen war.
Immerhin hatten ihn seine Studien über den Geschmack des Publikums zu der Überzeugung gebracht, dass nur eine geschickte Vereinigung der jeweiligen modernen Strömung mit der ausgesprochenen Mittelmässigkeit Aussicht auf einen dauernden Bestand hatte.
Die extravagante Art der Darstellung, die künstlerische Zuchtwahl, die die Elf in ihrem Stadel an der Türkenstrasse betrieben, mussten zu einer Reaktion der Weisswurstweltanschauung führen.
Darauf baute Vallier seinen Plan.
Er wollte mit allen Mitteln aus den Niederungen des Tingeltangels zu den Sphären der reinen Kunst emporklimmen.
In einer Zeit, wo Biedermeierkravatten und Urwaldsträhnen die rechte Mischung des Übermenschentums in München ergaben, denen noch Nietzsches Weibverachtung die rechte Weihe verlieh, schien Vallier das Experiment nicht schwer.
Er begründete zunächst ein Theater ohne Männer, in der sicheren Voraussetzung, dass in dieser Epoche der Sensation, die durch bedingungslose Nachäfferei geheiligt wurde, die Männer am ehesten in seinem Theater vertreten sein würden, ohne ihm den Vorwurf der Geschmacklosigkeit zu machen.
Als aber diese Spekulation in künstlerischer Hinsicht misslang, verzichtete er schnell auf seinen geistigen Einfall und hielt sich an das Vorhandene.
Er begründete das Kabaret der sieben Scharfrichterinnen, stellte eine Amazone mit blutroter Fahne vor das Portal des Tingeltangels, erregte ein Verbot der Polizei, Skandal in der Presse, Aufmerksamkeit des Publikums und ging nun, einmal auf dem Weg eines Erfolges, schnell zur Konstituierung des reinen Kabarets über. Er gewann in dem begabten Komponisten Bela Szigeth einen künstlerisch fühlenden Organisator, der ein feines Tastgefühl für die sentimental-zynische Richtung der Talmikunst besass.
Das neue Kabaret der „Sieben Tantenmörder“ wurde mit einer Reklame eröffnet, die die „Elf Scharfrichter“ in Grund und Boden schmetterte. Dem Publikum wurden Namen aufgezwungen, die es nie vorher gehört. Es vernahm, dass die Sänger und Sängerinnen, Dichter und Komponisten berufen seien, die Moderne zu revolutionieren, und in der Tat hatte Vallier geschickt eine Auswahl von genialen Dilettanten und dilettantierenden Genies getroffen, die in ihrer improvisierten Zusammenstellung ein in literarische Mythe gehülltes Ensemble ergaben. Die Suggestion, die Vallier durch eine für die Kleinstadtverhältnisse Münchens unerhörte Reklame ausgeübt, hatte den grossen Saal des Etablissements Wittelsbach neben der Monachia, wohin die Tantenmörder übergesiedelt waren, vollständig mit einem teilweise sogar sehr distinguierten Publikum gefüllt.
Die elf Scharfrichter, die das Treiben der „Überbrettlhyäne“, wie sie ihren Konkurrenten getauft, bisher mit hohnvoller Überlegenheit verfolgt, spürten nun den Sieg ihres Feindes auf der ganzen Linie.
Im letzten Augenblick, kurz, ehe die so viel versprechende Vorstellung beginnen sollte, zeigte die Diva telegraphisch aus Hamburg an, dass sie nicht mehr rechtzeitig zu diesem Abend eintreffen konnte.
Der Direktor, der schon die letzte Stunde in fiebernder Erwartung verbracht und kaum mehr das kleine Loch am Vorhang verliess, durch das man das fröhlich schnatternde Publikum beobachten konnte, geriet ausser sich. Die Verlegenheit war nicht zu verbergen, denn es fehlte an und für sich schon an guten weiblichen Gesangskräften.
Mie hörte kaum von der Verlegenheit Valliers, da erbot sie sich, einzuspringen. Sie hatte des öfteren ihre niedliche, kleine Stimme erprobt.
Ihr Ehrgeiz, zum Brettl überzugehen, war alt, aber der Direktor wies sie barsch ab, der Kapellmeister lachte sie aus.
Mie liess sich nicht irre machen.
Sie folgte weder einer Überzeugung noch einer Laune, als sie an ihrer Begabung für das Überbrettl festhielt. Sie gehorchte einfach einem Instinkt. Dieser Spürsinn war in Mie in seltener Weise entwickelt, so sehr, dass er sie auch späterhin stets in das rechte Verhältnis zu den Aussendingen stellte und ihr in entscheidenden Momenten eingab, was die Klugheit erforderte.
Auf diese Weise kam Mie in den Verdacht eines besonderen Raffinements, während sie in Wahrheit bloss ein Triebleben führte. Doch war dieser Instinkt, ein hereditäres Erbteil aus Urzeiten her, so stark in ihr, dass sie geradezu mit einem prophetischen Spürsinn ausgestattet war.
Sie hatte sich vor Wochen von einem halbverhungerten Komponisten einen kleinen Singsang für einige Taler gekauft. Voll Aufregung lief sie in die kleine Künstlerkneipe zur Sonne, wo das verkommene Genie verkehrte, und liess sich das Chanson in einer schmierigen Nebenstube einstudieren. Atemlos kam sie zur Vorstellung zurück und wiederholte ihr Begehren, sie statt der ausgebliebenen Sängerin auftreten zu lassen.
Der Direktor sagte in seiner Verzweiflung zu.
Der Anfang des Abends war nicht sonderlich verheissend. Er spielte va, banque, gab schon nach der vierten Nummer, die gänzlich abfiel, seine Sache verloren und konnte auch von Mie nicht mehr Schlimmeres erwarten, als was ihm ohnedies bevorstand. —
Der Kapellmeister bat alle Grazien um Vergebung, als er sich endlich dazu entschliessen musste, Mie, die nicht einmal Lampenfieber hatte, zu begleiten. Da sie keine passende Toilette besass und keine ihrer Kolleginnen sich bereit erklärte, ihr ein Kostüm zu leihen, Mie aber, vom Fieber des Ehrgeizes erfasst, unter keinen Umständen nachgeben wollte, so trat sie in ihren fleischfarbenen Trikots auf, deren