Heinrich Mann

Der Untertan


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über den Dör­f­ler, der Guts­ver­wal­ter über den Bau­ern, der Be­am­te über Leu­te, die sach­lich mit ihm zu tun hat­ten. Und je­der streb­te nur im­mer da­nach, so ein Amt, so eine Stel-lung zu be­kom­men – hat­te er die, er­gab sich das Üb­ri­ge von selbst. Das Üb­ri­ge war: sich du­cken und re­gie­ren und herr­schen und be­feh­len.

      Die voll­kom­me­ne Un­fä­hig­keit, an­ders zu den­ken als in sol­chem Ap­pa­rat, der weit wich­ti­ger war denn al­les Le­ben, die Stu­pi­di­tät, zwi­schen Be­am­ten­miss­wirt­schaft und An­ar­chie nicht die ein­zig mög­li­che drit­te Ver­fas­sung zu se­hen, die es für an­stän­di­ge Men­schen gibt: sie bil­det den Grund­bass des Bu­ches. (Und of­fen­bart sie sich nicht heu­te wie­der aufs herr-lichs­te?) Sie kön­nen alle nur ihre Pf­licht tun, wenn man sie du­cken und ge­duckt wer­den lässt; un­zer­trenn­lich er­scheint Bil­dung und Skla­ven­tum, Be­sitz und Duo­dez­re­gie­rung, bür­ger­li­ches Le­ben und Un­ter­ge­be­ne und Vor­ge­setz­te. Sie fas­sen es nicht, dass es wohl Leu­te ge­ben mag, die sach­lich Wei­sun­gen er­tei­len, aber nim­mer­mehr: Vor­ge­setz­te; wohl Men­schen, die für Geld aus­füh­ren, was an­de­re ha­ben wol­len, aber nim­mer­mehr: Un­ter­ge­be­ne. Das Land war – war … – ein ein­zi­ger Ka­ser­nen­hof.

      Und noch eins scheint mir in die­sem Werk, das auch noch die klei­nen und kleins­ten Züge der Hur­ra­mie­ne mit dem auf­ge­bürs­te­ten Ka­ter­schnurr­bart ein­ge­fan­gen hat, auf das glück­lichs­te dar­ge­stellt zu sein; das Rät­sel der Kol­lek­ti­vi­tät. Was der Ju­rist Otto Gier­ke einst die rea­le Ver­bands­per­sön­lich­keit be­nann­te, die­se Er­schei­nung, dass ein Ve­rein nicht die Sum­me sei­ner Mit­glie­der ist, son­dern mehr, son­dern et­was andres, über ih­nen Schwe­ben­des: das ist hier in nuce auf­ge­malt und dar­ge­tan. Neu­teu­to­nen und Sol­da­ten und Ju­ris­ten und schließ­lich Deut­sche – es sind al­les Kol­lek­ti­vi­tä­ten, die den ein­zel­nen von je­der Verant­wor­tung frei ma­chen, und de­nen an­zu­ge­hö­ren Ruhm und Ehre ein­bringt, Ach­tung er­heischt und kein Ver­dienst be­an­sprucht. Man ist es eben, und da­mit fer­tig. Der Mus­ke­tier Lyck, der den Ar­bei­ter er­schießt – his­to­risch – und da­für Ge­frei­ter wird; der Bür­ger Hess­ling, der – nicht his­to­risch, aber mehr als das: ty­pisch – alle an­ders­ge­ar­te­ten wie Wil­de an­sieht: sie sind Skla­ven der rät­sel­vol­len Kol­lek­ti­vi­tät, die die­sem Lan­de und die­ser Zeit so un­end­lich Schmach­vol­les auf­ge­bür­det hat. »Dem Eu­ro­pä­er ist nicht wohl, wenn ihm nicht et­was vor­an­weht«, hat Mey­rink mal ge­sagt. Es weh­te ih­nen al­len et­was vor­an, und sie schwö­ren auf die Fah­ne.

      Klei­ne und kleins­te Züge be­lus­ti­gen, böse Blink-feu­er der Ero­tik blit­zen auf, der Kampf der Ge­schlech­ter in Fla­nell und mö­blier­ten Zim­mern ist hier ein Gue­ril­la­krieg, es wird mit ver­gif­te­ten Pfei­len ge­schos­sen, und es ist bit­ter­lich spa­ßig, wie Lie­be schließ­lich zum le­gi­ti­men Ge­schlechts­ge­nuss wird. Eine bun­te Fül­le Le­ben zieht vor­bei, und al­les ist auf die letz­te For­mu­lie­rung ge­bracht, und al­les ist ty­pisch, al­les ein für alle Mal. Die alte For­de­rung ist ganz er­füllt: »Wenn nun gleich der Dich­ter uns im­mer nur das ein­zel­ne, in­di­vi­du­el­le vor­führt, so ist, was er er­kann­te und uns da­durch er­ken­nen las­sen will, doch die Idee, die gan­ze Gat­tung.« Lei­der: so ist die gan­ze Gat­tung.

      Aus klei­nen Er­eig­nis­sen wird die letz­te Ent­hül­lung des deut­schen See­len­zu­stan­des: am fünf­und­zwan­zigs­ten Fe­bru­ar 1892 de­mons­trier­ten die Ar­beits­lo­sen vor dem Kö­nig­li­chen Schloss in Ber­lin, und dar­aus wird in dem Buch eine gran­dio­se Sze­ne mit dem opern­haf­ten Kai­ser als Mit­tel­staf­fa­ge, ei­ner be­geis­ter­ten Men­ge Volks und in ih­nen, un­ter ih­nen und ganz mit ih­nen: Hess­ling, der Deut­sche, der Claqueur, der jun­ge Mann, der das Staats­er­hal­ten­de liebt, der Un­ter­tan.

      Und aus all dem To­hu­wa­bo­hu, aus dem Ge­wirr der spie­ßi­gen Klein­stadt, aus den Klatsch­pro­zes­sen und aus den Schie­bun­gen – man sagt: Ver­ord­nun­gen; und meint: Grund­stückss­pe­ku­la­ti­on –, aus lä­cher­li­chen Ehren­ko­de­xen und sim­peln Gau­ne­rei­en strahlt die Fi­gur des al­ten Buck. Man muss so has­sen kön­nen wie Mann, umso lie­ben zu kön­nen. Der alte Buck ist ein al­ter Achtund­vier­zi­ger, ein Mann von da­mals, wo man die heu­te ge­schmäh­ten Idea­le hat­te, sie zwar nicht ver­wirk­lich­te, schlecht ver­wirk­lich­te, ver­wor­ren war – ge­wiss, aber es wa­ren doch Idea­le. Wie schön ist das, wenn der alte Mann dem neu­en Hess­ling sein al­tes Ge­dicht­buch in die Hand drückt: »Da, neh­men Sie! Es sind mei­ne ›Sturm­glo­cken‹! Man war auch Dich­ter – da­mals!« Die von heu­te sinds nicht mehr. Sie sind Re­al­po­li­ti­ker, ver­la­chen den Idea­lis­ten, weil er – schein­bar – nichts er­reicht, und wis­sen nicht, dass sie ihre küm­mer­li­chen klei­nen Er­fol­ge ne­ben den cha­rak­ter­lo­sen Pak­ten je­nen ver­dan­ken, die einst wahr ge­we­sen sind und un­er­schüt­ter­lich.

      Und das Buch ›Der Un­ter­tan‹ (er­schie­nen bei Kurt Wolff in Leip­zig) zeigt uns wie­der, dass wir auf dem rech­ten Wege sind, und be­stä­tigt uns, dass Lie­be, die nach au­ßen in Hass um­schla­gen kann, das ein­zi­ge ist, um in die­sem Vol­ke durch­zu­drin­gen, um die­sem Vol­ke zu hel­fen, um end­lich, end­lich ein­mal die Far­ben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich ver­rannt ha­ben wie die Stie­re, von dem Deutsch­land ab­zu­tren­nen, das wir lie­ben, und das die Bes­ten al­ler Al­ter ge­liebt ha­ben. Es ist ja nicht wahr, dass ver­sipp­tes Cli­quen­tum und ge­hor­sa­me Lüg­ner ewig und un­trenn­bar mit un­serm Lan­de ver­knüpft sein müs­sen. Be­schimp­fen wir die, lo­ben wir doch das an­de­re Deutsch­land; läs­tern wir die, be­seelt uns doch die Lie­be zum Deut­schen. Al­ler­dings: nicht zu die­sem Deut­schen da. Nicht zu dem Bur­schen, der un­ter­tä­nig und re­spekt­voll nach oben him­melt und nie­der­träch­tig und ge­schwol­len nach un­ten tritt, der Rad­fah­rer des lie­ben Got­tes, eine ent­ar­te­te Spe­zi­es der gens hu­mana.

      Weil aber Hein­rich Mann der ers­te deut­sche Li­te­rat ist, der dem Geist eine ent­schei­den­de und mit­be­stim­men­de Stel­lung fern al­ler Li­te­ra­tur ein­ge­räumt hat, grü­ßen wir ihn. Und wis­sen wohl, dass die­se we­ni­gen Zei­len sei­ne künst­le­ri­sche Grö­ße nicht aus­ge­schöpft ha­ben, nicht die Kraft sei­ner Dar­stel­lung und nicht das selt­sa­me Rät­sel sei­nes ge­misch­ten Blu­tes.

      So wol­len wir kämp­fen. Nicht ge­gen die Herr­scher, die es im­mer ge­ben wird, nicht ge­gen Men­schen, die Ver­ord­nun­gen für an­de­re ma­chen, Las­ten den an­de­ren auf­bür­den und Ar­beit den an­de­ren. Wir wol­len ih­nen die ent­zie­hen, auf de­ren Rücken sie tanz­ten, die, die stumpf­sin­nig und im­mer zu­frie­den das Un­heil die­ses Lan­des ver­schul­det ha­ben, die, die wir den Staub der Hei­mat von den be­blüm­ten Pan­tof­feln ger­ne schüt­teln sä­hen: die Un­ter­ta­nen!

      I­g­naz Wro­bel

       Die Welt­büh­ne, 20.03.1919, Nr. 13, S. 317.

      1 Ver­schleie­rung, Ver­dun­ke­lung <<<

      Die­de­rich Hess­ling war ein wei­ches Kind, das am liebs­ten träum­te, sich vor al­lem fürch­te­te und viel an den Ohren litt. Un­gern ver­ließ er im Win­ter die war­me Stu­be, im Som­mer den en­gen Gar­ten, der nach den Lum­pen der Pa­pier­fa­brik roch und über des­sen Gold­re­gen- und Flie­der­bäu­men das höl­zer­ne