Heinrich Mann

Der Untertan


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mal! In­fa­me Ban­de!« mur­mel­te Die­de­rich, und in sei­nen blas­sen Au­gen glomm es. Plötz­lich duck­te er sich; fast fiel er in das Chlor­bad. Der Schritt ei­nes Ar­bei­ters hat­te ihn auf­ge­stört aus sei­nem läs­ter­li­chen Ge­nuss.

      Denn recht ge­heu­er und sei­ner Sa­che ge­wiss fühl­te er sich nur, wenn er selbst die Prü­gel be­kam. Kaum je wi­der­stand er dem Übel. Höchs­tens bat er den Ka­me­ra­den: »Nicht auf den Rücken, das ist un­ge­sund.«

      Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Lie­be zum ei­ge­nen Vor­teil fehl­te. Aber Die­de­rich hielt da­für, dass Prü­gel, die er be­kam, dem Schla­gen­den kei­nen prak­ti­schen Ge­winn, ihm selbst kei­nen rea­len Ver­lust zu­füg­ten. Erns­ter als die­se bloß idea­len Wer­te nahm er die Schaum­rol­le, die der Ober­kell­ner vom »Net­zi­ger Hof« ihm schon längst ver­spro­chen hat­te und mit der er nie her­aus­rück­te. Die­de­rich mach­te un­zäh­li­ge Male erns­ten Schrit­tes den Ge­schäfts­weg die Mei­se­stra­ße hin­auf zum Markt, um sei­nen be­frack­ten Freund zu mah­nen. Als der aber ei­nes Ta­ges von sei­ner Ver­pflich­tung über­haupt nichts mehr wis­sen woll­te, er­klär­te Die­de­rich und stampf­te ehr­lich ent­rüs­tet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich her­aus­rücken, sag’ ich’s Ihrem Herrn!« Da­rauf lach­te Schorsch und brach­te die Schaum­rol­le.

      Das war ein greif­ba­rer Er­folg. Lei­der konn­te Die­de­rich ihn nur has­tig und in Sor­ge ge­nie­ßen, denn es war zu fürch­ten, dass Wolf­gang Buck, der drau­ßen war­te­te, dar­über zu­kam und den An­teil ver­lang­te, der ihm ver­spro­chen war. In­des fand er Zeit, sich sau­ber den Mund zu wi­schen, und vor der Tür brach er in hef­ti­ge Schimpfre­den auf Schorsch aus, der ein Schwind­ler sei und gar kei­ne Schaum­rol­le habe. Die­de­richs Ge­rech­tig­keits­ge­fühl, das sich zu sei­nen Guns­ten noch eben so kräf­tig ge­äu­ßert hat­te, schwieg vor den An­sprü­chen des an­de­ren – die man frei­lich nicht ein­fach au­ßer acht las­sen durf­te, da­für war Wolf­gangs Va­ter eine viel zu ach­tung­ge­bie­ten­de Per­sön­lich­keit. Der alte Herr Buck trug kei­nen stei­fen Kra­gen, son­dern eine weiß­sei­de­ne Hals­bin­de und dar­über einen großen wei­ßen Kne­bel­bart. Wie lang­sam und ma­je­stä­tisch er sei­nen oben gol­de­nen Stock aufs Pflas­ter setz­te! Und er hat­te einen Zy­lin­der auf, und un­ter sei­nem Über­zie­her sa­hen häu­fig Frack­schö­ße her­vor, mit­ten am Tage! Denn er ging in Ver­samm­lun­gen, er be­küm­mer­te sich um die gan­ze Stadt. Von der Ba­de­an­stalt, vom Ge­fäng­nis, von al­lem, was öf­fent­lich war, dach­te Die­de­rich: »Das ge­hört dem Herrn Buck.« Er muss­te un­ge­heu­er reich und mäch­tig sein. Alle, auch Herr Hess­ling, ent­blö­ßten vor ihm lan­ge den Kopf. Sei­nem Sohn mit Ge­walt et­was ab­zu­neh­men, wäre eine Tat voll un­ab­seh­ba­rer Ge­fah­ren ge­we­sen. Um von den großen Mäch­ten, die er so sehr ver­ehr­te, nicht ganz er­drückt zu wer­den, muss­te Die­de­rich lei­se und lis­tig zu Werk ge­hen.

      Ein­mal nur, in Un­ter­ter­tia, ge­sch­ah es, dass Die­de­rich jede Rück­sicht ver­gaß, sich blind­lings be­tä­tig­te und zum sie­ges­trun­ke­nen Un­ter­drücker ward. Er hat­te, wie es üb­lich und ge­bo­ten war, den ein­zi­gen Ju­den sei­ner Klas­se ge­hän­selt, nun aber schritt er zu ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Kund­ge­bung. Aus Klöt­zen, die zum Zeich­nen dienten, er­bau­te er auf dem Ka­the­der ein Kreuz und drück­te den Ju­den da­vor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz al­lem Wi­der­stand; er war stark! Was Die­de­rich stark mach­te, war der Bei­fall rings­um, die Men­ge, aus der her­aus Arme ihm hal­fen, die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit drin­nen und drau­ßen. Denn durch ihn han­del­te die Chris­ten­heit von Net­zig. Wie wohl man sich fühl­te bei ge­teil­ter Verant­wort­lich­keit und ei­nem Schuld­be­wusst­sein, das kol­lek­tiv war!

      Nach dem Ver­rau­chen des Rau­sches stell­te wohl leich­tes Ban­gen sich ein, aber das ers­te Leh­rer­ge­sicht, dem Die­de­rich be­geg­ne­te, gab ihm al­len Mut zu­rück; es war voll ver­le­ge­nen Wohl­wol­lens. An­de­re be­wie­sen ihm of­fen ihre Zu­stim­mung. Die­de­rich lä­chel­te mit de­mü­ti­gem Ein­ver­ständ­nis zu ih­nen auf. Er be­kam es leich­ter seit­dem. Die Klas­se konn­te die Ehrung dem nicht ver­sa­gen, der die Gunst des neu­en Or­di­na­ri­us be­saß. Un­ter ihm brach­te Die­de­rich es zum Pri­mus und zum ge­hei­men Auf­se­her. We­nigs­tens die zwei­te die­ser Ehren­stel­len be­haup­te­te er auch spä­ter. Er war gut Freund mit al­len, lach­te, wenn sie ihre Strei­che aus­plau­der­ten, ein un­ge­trüb­tes, aber herz­li­ches La­chen, als erns­ter jun­ger Mensch, der Nach­sicht hat mit dem Leicht­sinn – und dann in der Pau­se, wenn er dem Pro­fes­sor das Klas­sen­buch vor­leg­te, be­rich­te­te er. Auch hin­ter­brach­te er die Spitz­na­men der Leh­rer und die auf­rüh­re­ri­schen Re­den, die ge­gen sie ge­führt wor­den wa­ren. In sei­ner Stim­me beb­te, nun er sie wie­der­hol­te, noch et­was von dem wol­lüs­ti­gen Er­schre­cken, wo­mit er sie, hin­ter ge­senk­ten Li­dern, an­ge­hört hat­te. Denn er spür­te, ward ir­gend­wie an den Herr­schen­den ge­rüt­telt, eine ge­wis­se las­ter­haf­te Be­frie­di­gung, et­was ganz un­ter sich Be­we­gen­des, fast wie ein Hass, der zu sei­ner Sät­ti­gung rasch und ver­stoh­len ein paar Bis­sen nahm. Durch die An­zei­ge der an­de­ren sühn­te er die ei­ge­ne sünd­haf­te Re­gung.

      An­de­rer­seits emp­fand er ge­gen die Mit­schü­ler, de­ren Fort­kom­men sei­ne Tä­tig­keit in Fra­ge stell­te, zu­meist kei­ne per­sön­li­che Ab­nei­gung. Er be­nahm sich als pflicht­mä­ßi­ger Voll­stre­cker ei­ner har­ten Not­wen­dig­keit. Nach­her konn­te er zu dem Ge­trof­fe­nen hin­tre­ten und ihn, fast ganz auf­rich­tig, be­kla­gen. Einst ward mit sei­ner Hil­fe ei­ner ge­fasst, der schon längst ver­däch­tig war, al­les ab­zu­schrei­ben. Die­de­rich über­ließ ihm, mit Wis­sen des Leh­rers, eine ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­be, die in der Mit­te ab­sicht­lich ge­fälscht und de­ren En­d­er­geb­nis den­noch rich­tig war. Am Abend nach dem Zu­sam­men­bruch des Be­trü­gers sa­ßen ei­ni­ge Pri­ma­ner vor dem Tor in ei­ner Gar­ten­wirt­schaft, was zum Schluss der Turn­spie­le er­laubt war, und san­gen. Die­de­rich hat­te den Platz ne­ben sei­nem Op­fer ge­sucht. Ein­mal, als aus­ge­trun­ken war, ließ er die Rech­te vom Krug her­ab auf die des an­de­ren glei­ten, sah ihm treu in die Au­gen und stimm­te in Bas­s­tö­nen, die von Ge­müt schlepp­ten, ganz al­lein an:

       »Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den,

       einen bes­sern findst du nit …«

      Üb­ri­gens ge­nüg­te er bei zu­neh­men­der Schul­pra­xis in al­len Fä­chern, ohne in ei­nem das Maß des Ge­for­der­ten zu über­schrei­ten, oder auf der Welt ir­gen­det­was zu wis­sen, was nicht im Pen­sum vor­kam. Der deut­sche Auf­satz war ihm das Frem­des­te, und wer sich dar­in aus­zeich­ne­te, gab ihm ein un­er­klär­tes Miss­trau­en ein.

      Seit sei­ner Ver­set­zung nach Pri­ma galt sei­ne Gym­na­si­al­kar­rie­re für ge­si­chert, und bei Leh­rern und Va­ter drang der Ge­dan­ke durch, er sol­le stu­die­ren. Der alte Hess­ling, der 66 und 71 durch das Bran­den­bur­ger Tor ein­ge­zo­gen war, schick­te Die­de­rich nach Ber­lin.

      *

      Weil er sich aus der Nähe der Fried­rich­stra­ße nicht fort­ge­trau­te, mie­te­te er sein Zim­mer dro­ben in der Tieck­stra­ße. Jetzt hat­te er nur in ge­ra­der Li­nie hin­un­ter­zu­ge­hen und konn­te die Uni­ver­si­tät nicht ver­feh­len. Er be­such­te sie, da er nichts an­de­res vor­hat­te, täg­lich zwei­mal, und in der Zwi­schen­zeit wein­te er oft vor Heim­weh. Er schrieb einen Brief an Va­ter