Heinrich Mann

Der Untertan


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frag­te gleich nach ganz Net­zig und vor al­lem nach dem al­ten Buck. Denn ob­wohl sein Kinn­bart nun auch er­graut war, hat­te er doch, wie Die­de­rich, nur, wie es schi­en, aus an­de­ren Grün­den, schon als Kna­be den al­ten Buck ver­ehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Ei­ner von de­nen, die das deut­sche Volk hoch­hal­ten soll­te, hö­her als ge­wis­se Leu­te, die im­mer al­les mit Blut und Ei­sen ku­rie­ren woll­ten und da­für der Na­ti­on rie­si­ge Rech­nun­gen schrie­ben. Der alte Buck war schon achtund­vier­zig da­bei­ge­we­sen, er war so­gar zum Tode ver­ur­teilt wor­den. »Ja, dass wir hier als freie Män­ner sit­zen kön­nen«, sag­te Herr Göp­pel, »das ver­dan­ken wir sol­chen Leu­ten wie dem al­ten Buck.« Und er öff­ne­te noch eine Fla­sche Bier. »Heu­te sol­len wir uns mit Küras­siers­tie­feln tre­ten las­sen …«

      Herr Göp­pel be­kann­te sich als frei­sin­ni­ger Geg­ner Bis­marcks. Die­de­rich be­stä­tig­te al­les, was Göp­pel woll­te; er hat­te über den Kanz­ler, die Frei­heit, den jun­gen Kai­ser kei­ner­lei Mei­nung. Da aber ward er pein­lich be­rührt, denn ein jun­ges Mäd­chen war ein­ge­tre­ten, das ihm auf den ers­ten Blick durch Schön­heit und Ele­ganz gleich furcht­bar er­schi­en.

      »Mei­ne Toch­ter Ag­nes«, sag­te Herr Göp­pel.

      Die­de­rich stand da, in sei­nem fal­ten­rei­chen Geh­rock, als ma­ge­rer Ka­dett, und war ro­sig über­zo­gen. Das jun­ge Mäd­chen gab ihm die Hand. Sie woll­te wohl nett sein, aber was war mit ihr an­zu­fan­gen? Die­de­rich ant­wor­te­te ja, als sie frag­te, ob Ber­lin ihm ge­fal­le; und als sie frag­te, ob er schon im Thea­ter ge­we­sen sei, ant­wor­te­te er nein. Er fühl­te sich feucht vor Un­ge­müt­lich­keit und war fest über­zeugt, sein Auf­bruch sei das ein­zi­ge, wo­mit er das jun­ge Mäd­chen in­ter­es­sie­ren kön­ne. Aber wie war von hier fort­zu­kom­men? Zum Glück stell­te ein an­de­rer sich ein, ein brei­ter Mensch na­mens Mahl­mann, der mit un­ge­heu­rer Stim­me Meck­len­bur­gisch sprach, stud. ing. zu sein schi­en und bei Göp­pels Zim­mer­herr sein soll­te. Er er­in­ner­te Fräu­lein Ag­nes an einen Spa­zier­gang, den sie ver­ab­re­det hät­ten. Die­de­rich ward auf­ge­for­dert, mit­zu­kom­men. Ent­setzt schütz­te er einen Be­kann­ten vor, der drau­ßen auf ihn war­te, und mach­te sich so­fort da­von. »Gott sei Dank«, dach­te er, wäh­rend es ihm einen Stich gab, »sie hat schon einen.«

      Herr Göp­pel öff­ne­te ihm im Dun­keln die Fl­ur­tür und frag­te, ob sein Freund auch Ber­lin ken­ne. Die­de­rich log, der Freund sei Ber­li­ner. »Denn wenn Sie es bei­de nicht ken­nen, kom­men Sie noch in den falschen Om­ni­bus. Sie ha­ben sich ge­wiss schon mal ver­irrt in Ber­lin.« Und als Die­de­rich es zu­gab, zeig­te Herr Göp­pel sich be­frie­digt. »Das ist nicht wie in Net­zig. Hier lau­fen Sie gleich hal­be Tage. Was glau­ben Sie wohl, wenn Sie von Ih­rer Tieck­stra­ße bis hier­her zum Hal­le­schen Tor ge­hen, dann sind Sie ja schon drei­mal durch ganz Net­zig ge­stie­gen … Na, nächs­ten Sonn­tag kom­men Sie nun aber zum Mit­ta­ges­sen!«

      Die­de­rich ver­sprach es. Als es so weit war, hät­te er lie­ber ab­ge­sagt; nur aus Furcht vor sei­nem Va­ter ging er hin. Dies­mal galt es so­gar, ein Al­lein­sein mit dem Fräu­lein zu be­ste­hen. Die­de­rich tat ge­schäf­tig und als sei er nicht auf­ge­legt, sich mit ihr zu be­fas­sen. Sie woll­te wie­der vom Thea­ter an­fan­gen, aber er schnitt mit rau­er Stim­me ab: er habe für so et­was kei­ne Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr ge­sagt, Herr Hess­ling stu­die­re Che­mie?

      »Ja. Das ist über­haupt die ein­zi­ge Wis­sen­schaft, die Be­rech­ti­gung hat«, be­haup­te­te Die­de­rich, ohne zu wis­sen, wie er dazu kam.

      Fräu­lein Göp­pel ließ ih­ren Beu­tel fal­len; er bück­te sich so nach­läs­sig, dass sie ihn wie­der hat­te, be­vor er zur Stel­le war. Trotz­dem sag­te sie dan­ke, ganz weich, fast be­schämt – was Die­de­rich är­ger­te. »Ko­ket­te Wei­ber sind et­was Gräss­li­ches«, dach­te er. Sie such­te in ih­rem Beu­tel.

      »Jetzt hab’ ich es doch ver­lo­ren. Mein eng­li­sches Pflas­ter näm­lich. Es blu­tet wie­der.«

      Sie wi­ckel­te ih­ren Fin­ger aus dem Ta­schen­tuch. Er hat­te so sehr die Wei­ße des Schnees, dass Die­de­rich der Ge­dan­ke kam, das Blut, das dar­auf lag, müs­se hin­ein­si­ckern.

      »Ich habe wel­ches«, sag­te er, mit ei­nem Ruck.

      Er er­griff ih­ren Fin­ger, und be­vor sie das Blut weg­wi­schen konn­te, hat­te er es ab­ge­leckt.

      »Was ma­chen Sie denn?«

      Er war selbst er­schro­cken. Er sag­te mit streng ge­fal­te­ten Brau­en: »Oh, ich als Che­mi­ker pro­bie­re noch ganz an­de­re Sa­chen.«

      Sie lä­chel­te. »Ach ja, Sie sind eine Art Dok­tor … Wie gut Sie das kön­nen«, be­merk­te sie und sah ihm beim Auf­kle­ben des Pflas­ters zu.

      »So«, mach­te er ab­leh­nend, und trat zu­rück. Ihm war es schwül ge­wor­den, er dach­te: »Wenn man nur nicht im­mer ihre Haut an­fas­sen müss­te! Sie ist wi­der­lich weich.« Ag­nes sah an ihm vor­bei. Nach ei­ner Pau­se ver­such­te sie: »Ha­ben wir nicht ei­gent­lich in Net­zig ge­mein­schaft­li­che Ver­wand­te?« Und sie nö­tig­te ihn, mit ihr ein paar Fa­mi­li­en durch­zu­ge­hen. Es stell­te sich Vet­tern­schaft her­aus.

      »Sie ha­ben auch noch Ihre Mut­ter, nicht? Dann kön­nen Sie sich freu­en. Mei­ne ist längst tot. Ich wer­de wohl auch nicht lan­ge le­ben. Man hat so Ah­nun­gen« – und sie lä­chel­te weh­mü­tig und ent­schul­di­gend.

      Die­de­rich be­schloss schwei­gend, die­se Sen­ti­men­ta­li­tät al­bern zu fin­den. Noch eine Pau­se – und wie sie bei­de ei­lig zum Spre­chen an­setz­ten, kam der Meck­len­bur­ger da­zwi­schen. Die Hand Die­de­richs drück­te er so kraft­voll, dass Die­de­richs Ge­sicht sich ver­zerr­te, und zu­gleich lä­chel­te er ihm sieg­haft in die Au­gen. Ohne wei­te­res zog er einen Stuhl bis vor Ag­nes’ Knie und frag­te hei­ter und mit Au­to­ri­tät nach al­lem Mög­li­chen, was nur sie bei­de an­ging. Die­de­rich war sich selbst über­las­sen und ent­deck­te, dass Ag­nes, so in Ruhe be­trach­tet, viel von ih­ren Schre­cken ver­lor. Ei­gent­lich war sie nicht hübsch. Sie hat­te eine zu klei­ne, nach in­nen ge­bo­ge­ne Nase, auf de­ren frei­lich sehr schma­lem Rücken Som­mer­spros­sen sa­ßen. Ihre gelb­brau­nen Au­gen la­gen zu nahe bei­ein­an­der und zuck­ten, wenn sie einen an­sah. Die Lip­pen wa­ren zu schmal, das gan­ze Ge­sicht war zu schmal. »Wenn sie nicht so viel braun­ro­tes Haar über der Stirn hät­te und dazu den wei­ßen Teint …« Auch be­rei­te­te es ihm Ge­nug­tu­ung, dass der Na­gel des Fin­gers, den er be­leckt hat­te, nicht ganz sau­ber ge­we­sen war.

      Herr Göp­pel kam mit sei­nen drei Schwes­tern. Eine von ih­nen hat­te Mann und Kin­der mit. Der Va­ter und die Tan­ten um­arm­ten und küss­ten Ag­nes. Sie ta­ten es mit dring­li­cher In­nig­keit und hat­ten da­bei be­hut­sa­me Mie­nen. Das jun­ge Mäd­chen war schlan­ker und grö­ßer als sie alle und blick­te ein we­nig zer­streut auf sie hin­ab, die eben an ih­ren schmäch­ti­gen Schul­tern hing. Nur ih­rem Va­ter er­wi­der­te sie lang­sam und ernst sei­nen Kuss. Die­de­rich sah dem zu und sah in der Son­ne die hell­blau­en Adern, über­zo­gen von ro­ten Haa­ren, ihre Schlä­fe kreu­zen.

      Er muss­te eine der Tan­ten ins Ess­zim­mer füh­ren. Der Meck­len­bur­ger hat­te Ag­nes’ Arm in den sei­nen ge­hängt. Um den lan­gen Fa­mi­li­en­tisch ra­schel­ten die sei­de­nen Sonn­tags­klei­der. Die Gehrö­cke wur­den über den Kni­en zu­sam­men­ge­legt. Man räus­per­te sich, die Her­ren rie­ben die Hän­de.