George Sand

Die kleine Fadette


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einmal machte er sich daran, das abschüssige Ufer des Flusses zu untersuchen. Er glaubte im Erdreich einen ganz frischen Riss entdeckt zu haben, als ob jemand ihn bei einem Sprung mit dem Fuß verursacht hätte, oder indem er sich hinuntergleiten ließ. Die Sache war durchaus nicht klar, denn ebensogut konnte der Riss von einer der großen Wasserratten herrühren, die an solchen Stellen, nach Nahrung suchend, wühlen und nagen. Landry aber geriet dadurch in so große Angst, dass er sich nicht mehr auf den Füßen zu erhalten vermochte. Er warf sich auf die Knie, wie um sich Gott zu empfehlen.

      Eine Zeit lang verblieb er in dieser Stellung, denn er hatte weder Kraft noch Mut sich aufzumachen, um es irgendeinem Menschen sagen zu können, was ihn in solche Todesangst versetzte. Die Augen von Tränen geschwollen, betrachtete er den Fluss, als hätte er Rechenschaft von ihm fordern wollen, was er aus seinem Bruder gemacht habe.

      Der Fluss rauschte indessen ruhig fort, über die Zweige schäumend, welche längs der Ufer nieder hingen und ins Wasser tauchten, bis er sich mit leisem Gemurmel zwischen Wiesen und Feldern verlor, wie jemand, der heimlicher Weise andere verspottend, kichert und lacht.

      Der arme Landry gab sich den düstersten Gedanken an ein Unglück hin, und ließ sich davon überwältigen, bis sie ihm den Kopf verwirrten, dass er sich nach dem geringfügigsten Anschein, der ebensogut nichts bedeuten konnte, einen Zusammenhang ausmalte, um darüber an Gott zu verzweifeln.

      »Dieser tückische Fluss! der mich im Schmerz vergehen sieht, ohne mir eine Auskunft zu geben!« dachte er; »und der ein ganzes Jahr lang meine Tränen ansehen würde, ohne mir meinen Bruder zurückzugeben! Gerade hier ist er am tiefsten und seitdem er die Wiese unterwühlt, ist so viel Gesträuch von den Bäumen in ihn hineingefallen, dass man sich nie wieder herausarbeiten könnte, wenn man sich da hinein wagen wollte. Mein Gott! könnte es möglich sein, dass mein Bruder tief unten da im Wasser läge, nur zwei Schritte weit von mir, und dass ich ihn doch nicht sehen und nicht wieder auffinden könnte zwischen alle dem Gezweig und dem Röhricht von Binsen und Schilf, wenn ich auch versuchen wollte da hinunter zu steigen?!«

      Und nun begann er über seinen Bruder zu weinen und machte ihm sogar Vorwürfe, denn noch nie in seinem ganzen Leben hatte er einen so großen Schmerz empfunden.

      Endlich kam er auf den Gedanken, sich Rat zu holen bei einer Frau, die eine alte Witwe war und ›Mutter Fadet‹ genannt wurde. Sie wohnte ganz am Ende der Schilfwiese, dicht an einem Weg, der an die Furt hinunter führte. Diese Frau besaß weder ein Feldstück noch irgendetwas anderes, als ihren kleinen Garten und ihr kleines Häuschen. Trotzdem ging sie nicht darauf aus sich ihr Brot bei anderen zu suchen, denn sie besaß große Kenntnisse, was die Schäden und Gebrechen der Menschen betrifft, und von allen Seiten kam man herbei, um sich ihren Rat zu holen. Sie war im Besitz geheimnisvoller Mittel, mit denen sie Wunden, Verrenkungen und andere Verstümmelungen zu heilen verstand. Sie tat wohl etwas zu groß damit, denn manchmal geschah es, dass sie jemanden von den seltsamsten Krankheiten befreit haben wollte, die er nie gehabt hatte. Ich, für meinen Teil, habe an alle diese Zauberkünste nicht recht geglaubt; ebensowenig an das, was man sich alles von ihr erzählte. Dass sie z. B. bewirken könne, dass die Milch von einer guten Kuh in den Körper einer schlechten übergehe, mochte diese auch noch so alt und ungenügend ernährt sein.

      Aber sie verstand sich auch auf gute und wirksame Heilmittel, die sie gegen Erkältungen anwandte. Dann hatte sie unfehlbare Pflaster für Schnitt- und Brandwunden und selbstbereitete Tränke gegen das Fieber. So konnte es gar nicht zweifelhaft sein, dass sie sich ein schönes Stück Geld verdiente und auch eine Menge von Kranken wieder herstellte, welche durch die Ärzte umgebracht sein würden, wenn sie sich deren Heilmethode unterzogen hätten. Wenigstens sagte sie dies, und Personen, denen sie einmal geholfen hatte, zogen es auch für die Zukunft vor, lieber ihr zu glauben, als dass sie es mit den Ärzten gewagt hätten.

      Da man auf dem Lande nie in den Ruf der Weisheit kommen kann, wenn man sich nicht auch etwas auf Zauberei versteht, waren viele der Meinung, die Mutter Fadet verstehe noch mehr davon, als sie es Wort haben wolle. So schrieb man ihr auch die Macht zu, verlorene Sachen, ja sogar verlorene Personen wieder auffinden zu können. Kurz, da sie vielen Verstand und ein tüchtiges Urteil besaß, um in manchen Fällen, wo es nicht gegen die Möglichkeit stritt, jemanden aus einer Verlegenheit herauszuhelfen, folgerte man des Weiteren daraus, dass sie auch das Unmögliche bewirken könne.

      Wie die Kinder gern allerlei Arten von Erzählungen anhören, so hatte Landry in la Priche, wo die Leute bekanntlich leichtgläubiger und einfältiger sind, als in la Cosse, davon reden hören, dass die Mutter Fadet, vermittelst eines gewissen Samenkornes, welches sie, einige Worte dabei murmelnd, ins Wasser werfe, den Leichnam eines Ertrunkenen wieder auffinden könne. Das Samenkorn schwamm dann obenauf und glitt mit dem Wasser fort, und an der Stelle, wo man es endlich liegen bleiben sah, konnte man sicher sein, den Körper des Verunglückten zu finden. Es gibt viele, die da glauben, dass geweihtes Brot dieselbe Eigenschaft habe, und es wird kaum eine Mühle geben, wo man nicht stets ein solches zu diesem Zwecke aufbewahrte. Landry indessen hatte keins, aber die Mutter Fadet wohnte ja ganz nahe bei der Wiese, und die Macht des Kummers schließt lange Überlegungen aus.

      Wir sehen also Landry auf die Behausung der Mutter Fadet zu eilen. Er klagte ihr seine Not und bat sie mit ihm zu gehen, bis zu dem verhängnisvollen Einschnitt am Ufer des Flusses, um zu versuchen, ob sie ihm durch ihr Geheimmittel nicht dazu verhelfen könne, seinen Bruder wieder aufzufinden, sei es nun tot oder lebendig.

      Mutter Fadet, der es durchaus nicht angenehm war, wenn ihr Ruhm übertrieben wurde, und die ihre Künste auch nicht gern umsonst benutzen ließ, lachte ihn aus und hieß ihn mit ziemlich barschen Worten weiter gehen. Es war ihr nicht recht gewesen, dass man auf dem Zwillingshof, wenn die Frau der Entbindung nahe war, nicht sie, sondern die Sagette hatte kommen lassen.

      Landry, der eine etwas stolze Natur war, würde zu jeder anderen Zeit vielleicht eine entsprechende Antwort gegeben haben, oder böse geworden sein. Jetzt aber war er so gebeugt, dass er ohne ein Wort der Erwiderung sich umwandte und nach dem Einschnitt zurückkehrte. Er war fest entschlossen auf dem Grund des Flusses nachzusehen, obgleich er weder schwimmen noch untertauchen konnte. Wie er so mit gesenktem Kopf und zu Boden gerichteten Blicken dahinschritt, fühlte er plötzlich, dass ihn jemand auf die Schultern schlug; als er sich umwandte, erblickte er die Enkelin der Mutter Fadet, welche in der Gegend die kleine Fadette genannt wurde, teils weil dies ihr Familienname war, und teils, weil man meinte, dass sie auch etwas von der Zauberei verstehe. Es wird allen bekannt sein, dass Fadet oder der Farfadetto, an anderen Orten auch Poltergeist genannt, ein sehr niedlicher, aber etwas boshafter Kobold ist. Man nennt auch die Feen so, an die man aber bei uns zu Lande nicht recht mehr glauben will. Aber, was eine Fee, oder ein weiblicher Kobold sei, würde jeder beim Anblick der kleinen Fadette leicht begriffen haben. Sie war so klein, so mager, war so keck und hatte ein so zerzaustes Haar, dass jeder, der sie sah, einen Poltergeist vor sich zu haben glaubte. Sie war ein redseliges Kind von spöttischem Wesen, leicht beweglich wie ein Schmetterling, neugierig wie ein Rotkehlchen und sonnenverbrannt wie eine Grille.

      Wenn ich die kleine Fadette mit einer Grille vergleiche, so will ich damit sagen, dass sie nichts weniger als schön war, denn diese arme kleine zirpende Sängerin der Felder ist noch hässlicher als die Heimchen an unserem Herde. Und doch, wer sich noch aus seiner Kinderzeit daran erinnert, mit einer Grille gespielt zu haben, sie in seinem Holzpantoffel herum rasen und schreien ließ, der wird es wissen, dass ihr Gesichtchen nicht eben dumm aussieht, und dass sie eher Lachlust als Zorn erregt. So kam es, dass die Kinder von la Cosse, die nicht einfältiger sind als andere, und auch eben so rasch damit bei der Hand sind, Ähnlichkeiten aufzufinden und Vergleiche anzustellen, die kleine Fadette, wenn sie diese in Zorn bringen wollten, die Grille nannten. Sie taten dies sogar manchmal aus Zuneigung; denn, obgleich sie dieselbe wegen ihrer Schelmerei ein wenig fürchteten, so waren sie ihr doch durchaus nicht abgeneigt, weil sie ihnen allerlei hübsche Geschichten zu erzählen, und immer wieder neue Spiele zu zeigen wusste, denn sie hatte einen erfinderischen Geist.

      Aber über allen diesen Namen und Spitznamen hätte ich beinah vergessen ihren wirklichen Namen zu nennen, den sie in der Taufe erhalten hatte, und den meine verehrten Leser später vielleicht doch gern wissen möchten. Sie hieß also Franziska, und ihre Großmutter, die es nicht leiden konnte, die Namen zu verdrehen, nannte sie deshalb immer Fränzchen.