George Sand

Die kleine Fadette


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er mir zu tun riet, habe ich mich stets gefügt. Wenn er nur sagte, ich solle in Gegenwart unserer lieben Mutter nicht weinen, habe ich die Tränen zurückgedrängt, wenn auch der Kopf zu springen drohte. Er hatte mir versprochen, dass er nicht fortgehen wolle, ohne mir vorher noch einmal Mut eingeredet zu haben, und ohne mit mir am Ende des Hanfackers zu frühstücken, grade an der Stelle, wohin wir sonst immer miteinander gingen, um zu plaudern und zu spielen. Ich wollte ihm seine Sachen zusammenpacken und ihm mein Messer schenken, das viel besser ist als das seinige. Nun hast du ihm wohl gestern Abend seine Sachen gepackt, ohne mir etwas davon zu sagen, und du wusstest also darum, liebe Mutter, dass er fortgehen wollte, ohne mir Adieu zu sagen?«

      »Ich habe nach dem Willen deines Vaters gehandelt«, lautete die Antwort der Mutter.

      Und sie sagte ihm dann alles, was sie nur ersinnen konnte, um ihn zu trösten. Er aber wollte auf nichts hören, und erst als er bemerkte, dass auch die Mutter weinte, bat er sie mit zärtlichem Kuss um Verzeihung, dass er ihren Schmerz vergrößert habe und gab ihr das Versprechen, dass er wenigstens bei ihr bleiben wolle, um ihr einen Ersatz zu gewähren. Sobald sie ihn aber allein gelassen hatte, um nach dem Geflügel zu sehen, oder die Wäsche zu besorgen, machte er sich fort und lief in der Richtung nach la Priche, ohne nur daran zu denken wohin er ging, ganz sich seinem Instinkt überlassend, wie der Tauber, der seinem Täubchen nacheilt, ohne sich um den Weg zu bekümmern.

      Er würde in dieser Weise nach la Priche gekommen sein, wenn er nicht seinem heimkehrenden Vater begegnet wäre. Dieser aber nahm ihn bei der Hand, um ihn wieder mit zurückzunehmen und sprach zu ihm: »Wir wollen heute Abend zu ihm gehen. Dein Bruder darf bei der Arbeit nicht gestört werden; das würde seinen Herrn verdrießen, und überdies ist bei uns zu Hause die Mutter sehr betrübt, und ich rechne darauf, dass du sie trösten wirst.«

      Fünftes Kapitel

      Sylvinet kehrte also ins Haus zurück, und hing sich wie ein kleines Kind an den Rock seiner Mutter, die er den ganzen Tag nicht mehr verließ. Er plauderte ihr fortwährend von Landry vor, mit dem seine Gedanken unablässig beschäftigt waren; jeder Ort und jeder Winkel, wo sie gewöhnlich beisammen gewesen waren, erinnerte ihn daran. Als es Abend wurde, ging er mit seinem Vater, der ihn ja begleiten wollte, nach la Priche. Sylvinet war ganz außer sich vor Freude, dass er nun seinen Zwillingsbruder wiedersehen würde. Es drängte ihn so sehr fortzukommen, dass er sich nicht die Zeit nahm zu Abend zu essen. Da er darauf rechnete, dass Landry ihm entgegenkommen würde, glaubte er schon immer von Weitem zu erkennen, wie er auf ihn zulaufe. Landry indessen, obgleich er wirklich gute Lust dazu gehabt hätte, rührte sich nicht von der Stelle. Er fürchtete, dass die jungen Leute und die Buben von la Priche ihn wegen dieser Zwillingsliebe ausspotten möchten, die unter dem Volk für eine Art von Krankheit galt. So fand Sylvinet seinen Bruder am Tisch sitzend, wo das Abendessen aufgetragen war, und wo er es sich schmecken ließ, als ob er sein Leben lang bei der Familie Caillaud gewesen wäre.

      Sobald Landry den Bruder eintreten sah, schlug ihm das Herz vor Freude, und er musste sich mit Gewalt bezwingen, sonst hätte er Tisch und Bank bei Seite gestoßen, um ihn desto schneller umarmen zu können. Aber er wagte es nicht, weil die Familie seines Herrn ihn neugierig beobachtete. Alle freuten sich darauf in dieser Zwillingsliebe etwas Neues zu sehen, etwas wie ein Naturwunder, wie der Schullehrer des Dorfes sich darüber ausdrückte.

      Als Sylvinet nun dem Bruder um den Hals fiel, ihn unter Tränen küsste, sich an ihn schmiegte, wie im Nest sich ein Vogel an den anderen drängt, um sich zu erwärmen, wurde Landry der anderen wegen ärgerlich, wenn ihm an und für sich diese Äußerungen der brüderlichen Liebe auch nur wohltuend waren. Er wollte verständiger erscheinen als sein Bruder und machte diesem ab und zu ein Zeichen, dass er sich zusammennehmen solle, worüber Sylvinet nicht weniger erstaunt als betrübt war. Während der alte Barbeau sich neben den Vater Caillaud setzte, um zu plaudern und zu trinken, gingen die beiden Zwillinge miteinander hinaus, denn es drängte Landry mit seinem Bruder zärtlich zu sein, ihn zu umarmen und zu küssen, nur wollte er dabei von den anderen nicht gesehen sein. Aber die anderen Burschen hatten die beiden aus der Ferne beobachtet, und sogar die kleine Solange, die jüngste von Vater Caillauds Töchtern, die wie ein echter Nestling schalkhaft und neugierig war, schlich mit leisen Schritten hinter ihnen her bis zu den Haselsträuchern. Wenn sie zufällig von den Zwillingen bemerkt wurde, lächelte sie mit verlegener Miene, aber ohne deshalb ihre Absicht aufzugeben. Sie bildete sich nämlich steif und fest ein, dass sie irgendetwas Seltsames erblicken werde, ohne zu begreifen, was es denn so Merkwürdiges an der innigen Freundschaft zweier Brüder sein könne.

      Sylvinet war freilich erstaunt gewesen, dass sein Bruder ihn so kühl empfangen hatte; aber er dachte doch nicht daran, ihm deshalb einen Vorwurf zu machen, so glücklich war er, einmal wieder mit ihm zusammen zu sein. Am folgenden Morgen, – da Landry wusste, dass der Tag ihm gehöre, weil der Vater Caillaud ihn von aller Arbeit befreit hatte, – machte er sich früh auf den Weg nach la Cosse, da er glaubte, er werde seinen Bruder noch im Bett überraschen. Aber trotzdem, dass Sylvinet die Gewohnheit hatte von den beiden am längsten zu schlafen, so erwachte er doch grade, als Landry die Umzäunung des Kampos1 überschritt. Hastig sprang er aus dem Bett und eilte mit bloßen Füßen hinaus, als ob irgendetwas ihm zugeflüstert hätte, dass sein Zwillingsbruder ihm nahe sei. Für Landry war dies ein Tag vollkommener Freude. Sein Entzücken, das Vaterhaus und seine Familie wieder zu sehen, wurde durch das Bewusstsein erhöht, dass dies nicht mehr alle Tage geschehen könne, dass es gleichsam wie eine Belohnung für ihn sei. Sylvinet vergaß alle seine Schmerzen wenigstens während der einen Hälfte des Tages. Beim Frühstück sagte er sich vor, dass er mit seinem Bruder zu Mittag essen werde, als aber der Abend nahte, dachte er daran, dass dies nun für eine Zeit lang die letzte gemeinsame Mahlzeit wäre, und darüber begann er unruhig und betrübt zu werden. Er sorgte mit zärtlicher Aufmerksamkeit für seinen Zwillingsbruder, gab ihm das Beste von seinem eigenen Essen, die Kruste von seinem Brot und die zarten Mittelstückchen von seinem Salat. Auch die Kleider seines Bruders und dessen Schuhe waren ein Gegenstand seiner Fürsorge, als ob dieser einen weiten Weg zu gehen habe, und als ob derselbe überhaupt sehr zu beklagen sei. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass er selbst der Beklagenswerteste von ihnen sei, weil er der am meisten Betrübte war.

      Sechstes Kapitel

      So verging die ganze Woche. Sylvinet ging täglich hinaus, um seinen Bruder zu besuchen, und wenn er dann vom Zwillingshof herübergekommen war, blieb dieser für ein paar Augenblicke bei ihm stehen. Landry fügte sich immer besser in seine Lage; Sylvinet aber wusste sich in die seinige gar nicht zu finden, und wie eine im Fegefeuer auf Erlösung harrende Seele begann er die Tage und Stunden der Trennung zu zählen.

      Auf der ganzen Welt gab es niemanden als Landry, der ihn hätte zur Vernunft bringen können. Auch die Mutter wandte sich an diesen, dass er ihr helfen möchte, den Bruder zu beruhigen, denn mit der Betrübnis des armen Knaben wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Er mochte sich an keinem Spiel mehr beteiligen, und arbeitete nur noch, wenn es ihm gradezu befohlen wurde. Seine kleine Schwester führte er wohl noch spazieren, aber fast ohne ein Wort dabei zu reden, oder ihr auf irgendeine andere Art die Zeit zu vertreiben; er gab nur darauf acht, dass sie nicht fallen oder auf eine andere Art zu Schaden kommen könne. Sobald man ihn nicht immer im Auge behielt, machte er sich davon und wusste sich so gut zu verbergen, dass man gar nicht wusste, wo man ihn suchen sollte. Alle Gräben, alle Furchen, alle Schluchten, wo er gewohnt gewesen war mit Landry zu spielen und zu plaudern, suchte er wieder auf. Er setzte sich auf die Baumwurzeln, auf denen sie miteinander gesessen hatten, und netzte sich die Füße in allen kleinen Bächen, in denen sie wie ein paar junge Enten miteinander herumgepascht waren; er freute sich, wenn er nur ein Stück Holz wieder auffand, welches Landry mit seinem Gartenmesser zugeschnitten hatte; oder irgendeinen Kieselstein, den dieser als Schleuder oder zum Feuerschlagen benutzt hatte. Er sammelte sie alle, diese Kleinigkeiten und versteckte sie in einem hohlen Baum oder unter einer Holzschicht; von Zeit zu Zeit holte er sie dann wieder hervor, um sich an ihrem Anblick zu erlaben, als ob sie Gegenstände von großer Wichtigkeit gewesen wären. In Gedanken ging er alles wieder durch und zerbrach sich den Kopf, auch nur die geringsten Nebenumstände des vergangenen Glückes in seiner Erinnerung wieder heraufzubeschwören. Was