Lucas stapfte voraus in den Flur, wo er bereits seine Gitarre geparkt hatte, sodass Lulu und mir nichts anderes übrig blieb, als die vier großen Tupperdosen zu übernehmen.
Zuerst tastete ich aber noch einmal nach dem Anhänger, der mir um den Hals baumelte, und warf einen schnellen Prüfblick darauf. Die Uhr zeigte exakt Viertel nach sechs.
3
»Pünktlisch um ssehn, verstanden?«
»Jaha.« Lulu schlängelte sich als Erste aus dem Auto und ich folgte ihr. Lucas, der vorne gesessen hatte, holte bereits seine Sachen aus dem kleinen Kofferraum des alten Twingo, den Lulus Eltern angeschafft haben mussten, als sie gerade frisch verheiratet gewesen waren.
Für zwei Menschen, die sich sehr gern hatten, hatte der babyblaue Twingo vermutlich die optimale Größe. Drei Teenager, eine Gitarre, einen Verstärker und vier riesige Tupperdosen mit Törtchen darin unterzubringen, war eine sportliche Herausforderung, die vor allem darin bestand, beim Aussteigen aus dem Zweitürer nicht sämtliche Tupperdosen auf den Bordstein vor dem Schultor fallen zu lassen. Erst hielt ich die Dosen, dann reichte ich sie Lulu nach draußen, die beinahe hinter dem Tupperturm auf ihrem Arm verschwand.
»Und wenn isch ssehn sage, meine ich ssweiundswanssisch Uhr nach deutsche Seitverständnis, nicht nach portugiesische. Also nicht ssehn nach ssehn und nicht sswansig nach ssehn, sondern Punkt ssehn!« Auch wenn Marisas Zunge lustig über die vielen Z stolperte, bestand kein Zweifel daran, wie ernst sie es meinte. Lulus Mutter war in vielen Punkten entspannt, zum Beispiel, was das Chaos in Lulus Zimmer betraf oder ihren kreativen Kleidungsstil. Aber wenn Lulu nur fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit nach Hause kam, herrschte bei den da Costas Gewitterstimmung.
»Ich warte hier an die Tor.«
»Jaha«, wiederholte Lulu mit Nachdruck.
»Viel Spaß«, rief Marisa uns noch hinterher, doch Lulu warf bereits mit einem eleganten Schwung ihres Hinterteils die Autotür zu. Sie eilte so schnell Richtung Schule, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihr wenigstens ein oder zwei der Tupperdosen abzunehmen, die sie einer akrobatischen Darbietung ähnlich auf den Armen balancierte.
»Meine Mutter nervt!«, beschwerte meine Freundin sich, während wir durch das Schultor liefen.
»Sie macht sich halt Sorgen«, verteidigte ich Marisa abwesend, weil ich damit beschäftigt war, den Schulhof nach der Gestalt von Lucas abzusuchen. Aber der war bereits in der gegenüberliegenden Sporthalle verschwunden.
»Ja klar«, ätzte Lulu. »Weil eine Schulparty ja auch so wahnsinnig gefährlich ist. Passiert dauernd, dass Teenager auf Schulpartys entführt werden. Quasi jede Woche … Da!« Sie fuhr herum, was den Tupperdosenstapel in eine bedenkliche Schieflage brachte. »Siehst du? Meine Mutter steht immer noch da und schaut uns hinterher. Was glaubt sie eigentlich, wie alt ich bin? Fünf?«
Lulu schnaubte wütend und drückte mir ohne Vorwarnung den Dosenstapel in den Arm, um ihrer Mutter vehement zum Abschied zu winken. Tatsächlich trat Marisa daraufhin so kräftig aufs Gas, dass der babyblaue Twingo unter vernehmlichem Protest losbrauste. Sie hupte dreimal laut zum Abschied und verschwand.
Das bekam ich allerdings nur aus dem Augenwinkel mit. Denn ich war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, die schwankenden Tupperdosen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Was leider nicht funktionierte! Die Dosen mit ihrem süßen Inhalt rutschten, stürzten und landeten eine über der anderen mit lautem Poltern auf dem Schulhof. Eine der Boxen verlor prompt ihren Deckel, sämtliche Törtchen kullerten heraus und verteilten sich um meine Füße auf dem Schulhof.
»Achtung, die Schwerkraft ist heute wieder besonders heimtückisch«, vernahm ich eine mir nur allzu vertraute Stimme. Und schon wehte meine Stiefschwester Sophie in einer süßlichen Parfümwolke durch das Schultor herein, dicht gefolgt von ihren zwei unvermeidlichen Begleiterinnen, Doreen und Daphne. Lulu und ich hatten Sophies Schatten der Einfachheit halber die Doppel-Ds getauft, was sowohl ihrem gut gepolsterten Brustumfang als auch ihrer Intelligenz – doppelt doof – entsprach.
Eigentlich passten die beiden gar nicht zu meiner Stiefschwester. Ich vermutete, sie waren nur mit ihr befreundet, weil sie sie gelegentlich die Hausaufgaben abschreiben ließ. Und Sophie konnte froh sein, überhaupt Freundinnen zu haben.
»Um deine feinmotorischen Fähigkeiten würde dich jede Dampfwalze beneiden.« Mit hocherhobener Nase schritt Sophie an mir und dem Törtchendesaster vorbei. Die Doppel-Ds folgten ihr kichernd, dabei war ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht wussten, was feinmotorische Fähigkeiten überhaupt waren.
»Und auf deine emotionale Intelligenz wäre jeder Zombie neidisch«, rief Lulu Sophie hinterher, aber meine Stiefschwester streckte bloß ihr Näschen noch etwas höher gen Himmel und klapperte Richtung Sporthalle davon, von wo bereits die gedämpften Bässe des Soundchecks zu uns drangen. Dass Sophie es sogar auf hohen Hacken schaffte, grazil wie eine Primaballerina herumzutrippeln, war ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass wir aus komplett unterschiedlichen Genpools stammten.
Sophie und ich waren am ersten Tag in der Grundschule nebeneinandergesetzt worden. Sie war diejenige mit den geflochtenen Bauernzöpfen, aus denen am Ende des Vormittags keine einzige Strähne herausstand. Ich war diejenige, die den Pausenkakao über sich schüttete. Sie war die mit dem Querflötenunterricht, ich diejenige, die selbst mit einer Blockflöte überfordert war. Sie war diejenige, die den Lük-Kasten im Akkord löste. Ich war diejenige, die vier Schulstunden lang den Vögeln vor dem Fenster beim Loopingfliegen zuschauen konnte. Und sie war dann diejenige, die bei unserer Klassenlehrerin petzte, dass ich versucht hatte, die Rechenaufgaben bei ihr abzuschreiben. Es dürfte nun wirklich niemanden überraschen, dass Sophie und ich uns vom ersten Tag an nicht ausstehen konnten.
Dummerweise war es meinem Vater und Sophies Mutter völlig anders ergangen, als sie sich beim Elternabend über den Weg gelaufen waren. Und sie hatten sogar geglaubt, uns etwas Gutes zu tun, als sie nur ein knappes Jahr später den Bund der Ehe eingegangen waren.
Ich versuchte, mich seither mit dem Gedanken zu trösten, dass auch viele andere Menschen es nicht leicht in ihrem Leben haben. Manche haben eine Warze im Gesicht, andere kreisrunden Haarausfall, und es gibt zahllose Menschen auf der Welt, die unter wirklich schweren Krankheiten, Armut und Hunger zu leiden haben.
Und ich hatte eben Sophie. Ich bemühte mich, diese Prüfung positiv zu betrachten. Ihre täglichen Sticheleien zu ertragen, verschaffte mir langfristig bestimmt ein paar Karma-Pluspunkte, sodass ich vielleicht irgendwann mal als Schmetterling statt als Regenwurm wiedergeboren werde.
Leider trafen Sophies Sticheleien regelmäßig ins Schwarze, zum Beispiel, was meine motorischen Fähigkeiten anging. Um die war es gelinde gesagt eher bescheiden bestellt. Für den Sportunterricht brauchte ich mir inzwischen keine Entschuldigungen mehr auszudenken, weil Herr Helmich, unser Sportlehrer, fast dankbar zu sein schien, wenn ich am Rand sitzen blieb. Wenn ich versuchte, Sport zu treiben, brachte ich grundsätzlich mich oder andere in Lebensgefahr. Immerhin gingen bereits zwei Platzwunden auf mein Konto, eine an meinem eigenen Kopf (Barren) und eine am Kopf von Samuel Sauermann (Badmintonschläger).
»Die gehen noch, man muss nur den Dreck ein bisschen abkratzen.« Lulu kniete zu meinen Füßen, sammelte die verstreuten Törtchen ein und legte sie zurück in die Tupperdose.
»Meinst du wirklich? Das ist doch irgendwie eklig.« Ich hockte mich zu ihr und hob eins der Sahnetörtchen mit spitzen Fingern vom dreckigen Boden auf. Es war so über und über mit Schotter gesprenkelt, dass es aussah wie ein Mohnmuffin.
»Quatsch. Dreck reinigt den Magen.« Lulu brach eine Ecke von einem Kokostörtchen ab, die besonders matschig wirkte, und stellte es neben das Mohn-Sahnetörtchen.
»Na ja.« Ich beschloss, die Tupperdose heimlich verschwinden zu lassen, bevor Lulu sie auf dem Buffet platzieren konnte. Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass unsere Mitschüler eine Lebensmittelvergiftung erlitten.
»Ich