durch sein ganzes Auftreten zu zeigen, wie wenig die Geschichte ihn angehe. Aber es hielt ihn nicht; als er das Verhandlungszimmer, das ihm bezeichnet war, betrat, war man dort noch bei einer ganz anderen Sache. Jadassohn, der in seiner schwarzen Robe einen ungemein drohenden Anblick bot, war eben damit beschäftigt, für einen kaum erwachsenen Menschen aus dem Volk zwei Jahre Arbeitshaus zu verlangen. Das Gericht gewährte ihm freilich nur eins, aber der jugendliche Verurteilte brach in ein solches Geheul aus, daß es Diederich, angstvoll, wie er selbst gestimmt [pg 224]war, vor Mitleid übel ward. Er begab sich hinaus und betrat eine Toilette, obwohl an der Tür stand: Nur für den Herrn Vorsitzenden! Gleich nach ihm erschien auch Jadassohn. Wie er Diederich sah, wollte er sich wieder zurückziehen, aber Diederich fragte sofort, was das denn sei, ein Arbeitshaus, und was so ein Zuhälter dort tue. Jadassohn erklärte: „Wenn wir uns darum auch noch kümmern müßten!“ und war schon draußen. Diederichs Inneres zog sich noch mehr zusammen unter dem Gefühl eines schaudererregenden Abgrundes, wie er sich auftat zwischen Jadassohn, der hier die Macht vertrat, und ihm selbst, der sich zu nahe ihrem Räderwerk gewagt hatte. Es war aus frommer Absicht geschehen, in übergroßer Verehrung der Macht: gleichviel, jetzt hieß es sich besonnen verhalten, damit sie einen nicht ergriff und zermalmte; sich ducken und ganz klein machen, bis man ihr vielleicht doch noch entrann. Wer erst wieder dem Privatleben gehörte! Diederich versprach sich, fortan ganz seinem geringen, aber wohlverstandenen Vorteil zu leben.
Draußen im Korridor standen jetzt Leute: ein minder gutes Publikum und auch das beste. Die fünf Töchter Buck, herausgeputzt, als sei der Prozeß ihres Schwagers Lauer die größte Ehre für die Familie, schnatterten in einer Gruppe mit Käthchen Zillich, ihrer Mutter und der Frau Bürgermeister Scheffelweis. Die Schwiegermutter dagegen ließ den Bürgermeister nicht los, und aus den Blicken, die sie nach dem Bruder des Herrn Buck und seinen Freunden Cohn und Heuteufel schleuderte, war zu ersehen, daß sie ihn gegen die Sache der Bucks einnahm. Der Major Kunze, in Uniform, stand mit finsterer Miene dabei und enthielt sich jeder Äußerung. Gerade erschien auch Pastor Zillich mit Professor Kühnchen; aber beim [pg 225]Anblick der zahlreichen Gesellschaft blieben sie hinter einem Pfeiler. Der Redakteur Nothgroschen seinerseits ging grau und unbeachtet von den einen zu den anderen. Vergebens suchte Diederich jemand, an den er sich hätte halten können. Jetzt bereute er, daß er es den Seinen verboten hatte, herzukommen. Er blieb im Dunkeln, hinter der Biegung des Korridors, und streckte nur vorsichtig den Kopf heraus. Plötzlich zog er ihn zurück: Guste Daimchen mit ihrer Mutter! Sie ward sofort von den Töchtern Buck umringt, als eine kostbare Verstärkung ihrer Partei. Gleichzeitig ging dahinten eine Tür, und Wolfgang Buck trat auf, in Barett und Robe, und darunter Lackschuhe, die er sehr einwärts setzte. Er lächelte festlich, wie bei einem Empfang, gab allen die Hand, und seiner Braut küßte er sie. Es werde sehr schön werden, verhieß er; der Staatsanwalt sei gut disponiert, er selbst auch. Dann begab er sich zu den von ihm geladenen Zeugen, um mit ihnen zu flüstern. In diesem Augenblick verstummte man, denn in der Mündung der Treppe erschien der Angeklagte Herr Lauer und neben ihm seine Frau. Die Bürgermeisterin fiel ihr um den Hals: wie sie tapfer sei! „Was ist dabei?“ erwiderte sie mit tiefer, klangreicher Stimme. „Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wie, Karl?“ Lauer sagte: „Gewiß nicht, Judith.“ Gerade jetzt aber ging der Landgerichtsrat Fritzsche vorbei. Ein Schweigen entstand; wie er und die Tochter des alten Buck sich begrüßten, blinzelte man einander zu, und die Schwiegermutter des Bürgermeisters machte eine Bemerkung, halblaut, aber sie war ihr von den Augen zu lesen.
Diederich auf seinem schattigen Posten war von Wolfgang Buck entdeckt worden. Buck zog ihn hervor und führte ihn zu seiner Schwester. „Liebe Judith, ich weiß nicht, ob [pg 226]du schon unseren werten Feind kennst, den Herrn Doktor Heßling. Heute wird er uns vernichten.“ Aber Frau Lauer lachte nicht, sie erwiderte auch Diederichs Gruß nicht, sie sah ihn nur an mit rücksichtsloser Neugier. Es war schwer, diesen dunklen Blick auszuhalten, und ward noch schwerer, weil sie so schön war. Diederich fühlte, wie das Blut ihm ins Gesicht trat, seine Augen irrten ab, er stammelte: „Der Herr Rechtsanwalt scherzt wohl. In der Sache muß ein Irrtum vorliegen ...“ Da zogen in dem weißen Gesicht die Brauen sich zusammen, die Mundwinkel sanken ausdrucksvoll herab, und Judith Lauer wandte Diederich den Rücken.
Ein Gerichtsdiener zeigte sich; Wolfgang Buck ging, seinen Schwager Lauer zur Seite, in das Verhandlungszimmer; und da die Tür nicht eben freigebig geöffnet ward, stießen alle einander in Hast hindurch, das minder gute Publikum ward von dem besten überwältigt. Die Unterröcke der fünf Schwestern Buck rauschten heftig bei dem Kampf. Diederich gelangte als letzter hinein und mußte sich auf der Zeugenbank neben den Major Kunze setzen, der sofort ein Stück wegrückte. Landgerichtsdirektor Sprezius, anzusehen wie ein alter wurmiger Geier, erklärte von dort oben die Sitzung für eröffnet und rief die Zeugen auf, um ihnen den Ernst des Eides in Erinnerung zu bringen – wobei Diederich sofort ein Gesicht bekam wie ehemals in der Religionsstunde. Landgerichtsrat Harnisch ordnete Akten und sah sich im Publikum nach seiner Tochter um. Mehr beachtet ward der alte Landgerichtsrat Kühlemann, der das Krankenzimmer verlassen und seinen Platz zur Linken des Vorsitzenden eingenommen hatte. Man fand ihn schlecht aussehen, die Schwiegermutter des Bürgermeisters wollte wissen, er werde [pg 227]sein Reichstagsmandat niederlegen – und wohin ging das viele Geld, wenn er starb? Bei den Zeugen drückte Pastor Zillich die Hoffnung aus, der Alte werde seine Millionen für einen Kirchenbau bestimmen; aber Professor Kühnchen bezweifelte es, mit durchdringender Flüsterstimme. „Der gibt auch nach’m Tode nischt her, der hat immer gedacht, man muß das Seine zusammennähm, und womöglich den andern ihr’s auch ...“ Da entließ der Vorsitzende die Zeugen aus dem Sitzungssaal.
Sie fanden sich, da kein Zeugenzimmer vorhanden war, im Korridor wieder zusammen. Die Herren Heuteufel, Cohn und Buck junior nahmen eine Fensternische ein; Diederich, unter dem wütenden Blick des Majors, dachte peinvoll: „Jetzt wird der Angeklagte vernommen. Wüßte ich, was er sagt. Ich möchte ihn ebenso gern entlasten wie ihr!“ Vergebens versuchte er gegenüber Pastor Zillich seine milde Gesinnung zu beteuern: er habe immer gesagt, die Sache sei aufgebauscht worden. Zillich wandte sich verlegen weg, und Kühnchen pfiff, davonlaufend, durch die Zähne: „Na warte nur, mein Schibbchen, dir wer’n mer das Handwerk legen.“ Stumm lastete die allgemeine Mißbilligung auf Diederich. Endlich erschien der Gerichtsdiener. „Herr Doktor Heßling!“
Diederich riß sich zusammen, um nur in kommentmäßiger Haltung an den Zuschauern vorbeizukommen. Er sah krampfhaft geradeaus; der Blick der Frau Lauer lag jetzt auf ihm! Er schnaufte, und er schwankte ein wenig. Links neben dem Beisitzer, der seine Nägel betrachtete, stand drohend aufgerichtet Jadassohn. Das Licht des Fensters hinter ihm schien durch seine abstehenden Ohren, die blutig leuchteten, und seine Miene heischte von Diederichs eine so leichenhafte Gefügigkeit, daß Diederichs Blick die Flucht [pg 228]ergriff. Rechts, vor dem Angeklagten und etwas tiefer, fand er Wolfgang Buck sitzen, nachlässig, mit den Fäusten auf den fetten Schenkeln, von denen die Robe zurückfiel, und so gescheit und aufmunternd anzusehen, als vertrete er den Geist des Lichts. Landgerichtsdirektor Sprezius sprach Diederich die Eidesformel vor, immer nur zwei Worte zur Zeit und mit Herablassung. Diederich schwor folgsam; dann sollte er den Hergang der Dinge an jenem Abend im Ratskeller berichten. Er begann.
„Wir waren eine angeregte Gesellschaft, drüben am Tisch saßen auch Herren ...“
Da er schon steckenblieb, ward im Publikum gelacht. Sprezius fuhr auf, er hackte mit dem Geierschnabel zu und drohte, er werde den Saal räumen lassen. „Sonst wissen Sie nichts?“ fragte er unwirsch. Diederich gab zu bedenken, infolge geschäftlicher und anderer Aufregungen hätten sich ihm die Vorgänge inzwischen etwas verwirrt. „Dann werde ich Ihnen zur Auffrischung des Gedächtnisses Ihre Aussage vor dem Untersuchungsrichter vorlesen“ – und der Vorsitzende ließ sich das Protokoll reichen. Daraus erfuhr Diederich zu seiner peinlichen Verwunderung, er habe vor dem Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Fritzsche die bestimmte Angabe gemacht, daß von seiten des Angeklagten eine schwere Beleidigung Seiner Majestät des Kaisers gefallen sei. Was er darüber zu äußern habe. „Es kann wohl sein,“ stammelte er; „aber es waren viele Herren da. Ob es nun gerade der Angeklagte war, der das gesagt hat ...“ Sprezius beugte sich über den Richtertisch. „Denken Sie nach, Sie stehen hier unter Ihrem Eid. Andere Zeugen werden bekunden, daß Sie ganz allein auf den Angeklagten zugetreten sind und das betreffende Gespräch mit ihm geführt haben.“ –
„War