selbst verantwortlich. „Fünfundzwanzigtausend bar und ein Achtel des Reingewinnes, mehr ist nicht zu holen.“ Kienast trommelte auf den Tisch. „Ich weiß noch nicht, ob ich deine Schwester dafür übernehmen kann“, erklärte er. „Mein letztes Wort behalte ich mir noch vor.“ Diederich zuckte die Achseln, und sie tranken ihr Bier aus. Kienast kam mit zum Essen; Diederich hatte schon gefürchtet, er werde sich drücken. Glücklicherweise war Magda noch verführerischer hergerichtet als gestern, – „wie wenn sie gewußt hätte, es geht ums Ganze“, dachte Diederich, der sie bewunderte. Bei der Mehlspeise hatte sie Kienast wieder so sehr erwärmt, daß er die Hochzeit in vier Wochen [pg 214]wünschte. „Dein letztes Wort?“ fragte Diederich neckisch. Als Antwort zog Kienast die Ringe aus der Tasche.
Nach Tisch ging Frau Heßling auf den Fußspitzen aus dem Zimmer, wo die Verlobten saßen, und auch Diederich wollte sich zurückziehen, aber sie holten ihn zum Spazierengehen. „Wohin geht es denn, und wo sind Mutter und Emmi?“ Emmi hatte sich geweigert, mitzukommen, und darum blieb auch Frau Heßling zu Hause. „Weil es sonst schlecht aussehen würde, weißt du“, sagte Magda. Diederich stimmte ihrer Einsicht zu. Er wischte ihr sogar den Staub fort, der beim Eintritt in die Fabrik an ihrem Pelzjackett hängengeblieben war. Er behandelte Magda mit Achtung, denn sie hatte Erfolg gehabt.
Man ging gegen das Rathaus zu. Es schadete nichts, nicht wahr, wenn die Leute einen sahen. Der erste freilich, dem man gleich in der Meisestraße begegnete, war nur Napoleon Fischer. Er fletschte die Zähne vor dem Brautpaar und nickte Diederich zu, mit einem Blick, der sagte, er wisse Bescheid. Diederich war dunkelrot; er würde den Menschen angehalten und ihm auf offener Straße einen Krach gemacht haben: aber konnte er? „Es war ein schwerer Fehler, daß ich mich mit dem hinterhältigen Proleten auf Vertraulichkeiten eingelassen habe! Es wäre auch ohne ihn gegangen! Jetzt schleicht er um das Haus, damit ich daran denke, daß er mich in der Hand hat. Ich werde noch Erpressungen erleben.“ Aber zwischen ihm und dem Maschinenmeister war gottlob alles unter vier Augen vor sich gegangen. Was Napoleon Fischer über ihn behaupten konnte, war Verleumdung. Diederich ließ ihn einfach einsperren. Dennoch haßte er ihn für seine Mitwisserschaft, daß ihm bei zwanzig Grad Kälte heiß und feucht ward. Er sah sich um. Fiel denn kein Ziegelstein auf Napoleon Fischer?
In der Gerichtsstraße fand Magda, daß der Gang sich lohne, denn bei Landgerichtsrat Harnisch standen hinter einer Scheibe Meta Harnisch und Inge Tietz, und Magda wußte bestimmt, daß sie bei Kienasts Anblick sehr beunruhigte Gesichter gemacht hatten. Auf der Kaiser-Wilhelm-Straße war heute leider wenig los; höchstens daß Major Kunze und Dr. Heuteufel, die in die „Harmonie“ gingen, von ferne neugierige Gesichter machten. An der Ecke der Schweinichenstraße aber trat etwas ein, was Diederich nicht vorausgesehen hatte: gleich vor ihnen ging Frau Daimchen mit Guste. Magda beschleunigte sofort den Schritt und plauderte lebhafter. Richtig drehte Guste sich um, und Magda konnte sagen: „Frau Oberinspektor, hier stelle ich Ihnen meinen Bräutigam Herrn Kienast vor.“ Der Bräutigam ward gemustert und schien zu entsprechen, denn Guste, mit der Diederich zwei Schritte zurückblieb, fragte nicht ohne Achtung: „Wo haben Sie ihn denn hergenommen?“ Diederich scherzte. „Ja, so nah wie Sie, findet nicht jede den ihren. Aber dafür solider.“ – „Fangen Sie schon wieder an?“ rief Guste, aber ohne Feindlichkeit. Sie streifte sogar Diederichs Blick und seufzte dabei leicht. „Meiner ist ja immer Gott weiß wo. Man kommt sich vor wir die reine Witwe.“ Gedankenvoll sah sie Magda nach, die an Kienasts Arm hing. Diederich gab zu bedenken: „Wer tot ist, kann es auch bleiben. Es gibt noch genug Lebendige.“ Dabei drängte er Guste bis an die Häuserwand und sah ihr werbend ins Gesicht; und wirklich, ihr liebes, dickes Gesicht ward einen Augenblick lang gewährend.
Leider war Schweinichenstraße 77 schon erreicht, und man nahm Abschied. Da hinter dem Sachsentor alles aus war, kehrten die Geschwister mit Herrn Kienast wieder um. [pg 216]Magda, die auf dem Arm ihres Verlobten ruhte, sagte ermunternd zu Diederich: „Nun, was meinst du?“ – worauf er rot ward und schnaufte. „Was ist da zu meinen“, brachte er hervor, und Magda lachte.
In der leeren, stark dämmernden Straße kam ihnen jemand entgegen. „Ist das nicht –?“ fragte Diederich, ohne Überzeugung. Aber die Figur näherte sich: dick, offenbar noch jung, mit einem großen, weichen Hut, sonst elegant, und die Füße setzte er einwärts. „Wahrhaftig, Wolfgang Buck!“ Er dachte enttäuscht: „Und Guste stellt sich, als wäre er am Ende der Welt. Das Lügen muß ich ihr austreiben!“
„Da sind Sie ja“ – der junge Buck schüttelte Diederich die Hand. „Das freut mich.“ – „Mich auch“, erwiderte Diederich, trotz der Enttäuschung mit Guste, und er machte seinen Schwager mit seinem Schulfreund bekannt. Buck stattete seine Glückwünsche ab, dann trat er mit Diederich hinter die beiden anderen. „Sie wollten gewiß zu Ihrer Braut?“ bemerkte Diederich. „Sie ist zu Hause, wir haben sie hinbegleitet.“ – „So?“ machte Buck und zuckte die Achseln. „Nun, ich finde sie immer noch“, sagte er phlegmatisch. „Vorläufig bin ich froh, daß ich Ihnen mal wieder begegnet bin. Unser Gespräch in Berlin, unser einziges, nicht wahr – es war so anregend.“
Auch Diederich fand dies jetzt – obwohl es ihn damals nur geärgert hatte. Er war ganz belebt durch das Wiedersehen. „Ja, meinen Gegenbesuch bin ich Ihnen schuldig geblieben. Sie wissen wohl, wieviel einem in Berlin immer dazwischen kommt. Hier freilich hat man Zeit. Öde, wie? Zu denken, daß man hier sein Leben verbringen soll“ – und Diederich zeigte die kahle Häuserreihe hinauf. Wolfgang Buck schnupperte mit seiner weich ge[pg 217]bogenen Nase in die Luft, auf seinen fleischigen Lippen schien er sie zu kosten, und er machte tiefsinnende Augen. „Ein Leben in Netzig“, sagte er ganz langsam. „Nun ja, es kommt darauf hinaus. Unsereiner ist nicht in der Lage, bloß für seine Sensationen zu leben. Übrigens gibt es auch hier welche.“ Er lächelte verdächtig. „Der Wachtposten hat bis sehr hoch hinauf Sensation gemacht.“
„Ach so –“ Diederich streckte den Bauch vor. „Sie wollen schon wieder nörgeln. Ich stelle fest, daß ich in der Sache durchaus auf seiten Seiner Majestät stehe.“
Buck winkte ab. „Lassen Sie nur. Ich kenne ihn.“
„Ich noch besser“, behauptete Diederich. „Wer ihm, wie ich, ganz allein und Aug’ in Auge gegenüber gestanden hat, im Tiergarten vorigen Februar, nach dem großen Krawall, und dies Auge blitzen gesehen hat, dies Fritzenauge, sag’ ich Ihnen: der vertraut auf unsere Zukunft.“
„Auf unsere Zukunft – weil ein Auge geblitzt hat.“ Bucks Mund und Wangen sanken schwer melancholisch herab. Diederich stieß Luft durch die Nase. „Ich weiß schon, Sie glauben in unserer Zeit an keine Persönlichkeit. Sonst wären Sie ja Lassalle oder Bismarck geworden.“
„Schließlich könnte ich es mir leisten. Gewiß. Geradeso gut wie er –. Wenn auch weniger begünstigt von den äußeren Umständen.“
Sein Ton ward lebhafter und überzeugter. „Worauf es für jeden persönlich ankommt, ist nicht, daß wir in der Welt wirklich viel verändern, sondern daß wir uns ein Lebensgefühl schaffen, als täten wir es. Dazu ist nur Talent nötig, und das hat er.“
Diederich war beunruhigt, er sah sich um. „Wir sind hier zwar unter uns, die Herrschaften dort vor uns haben Wichtigeres zu besprechen, aber ich weiß doch nicht –“
„Daß Sie immer glauben, ich habe was gegen ihn. Er ist mir wahrhaftig nicht unsympathischer, als ich mir selbst bin. Ich hätte an seiner Stelle den Gefreiten Lück und unseren Netziger Wachtposten genau so ernst genommen. Wäre das noch eine Macht, die nicht bedroht wäre? Erst wenn es einen Umsturz gibt, fühlt man sich. Was würde aus ihm, wenn er sich sagen müßte, daß die Sozialdemokratie gar nicht ihn meint, sondern höchstens eine etwas praktischere Verteilung dessen, was verdient wird.“
„Oho!“ machte Diederich.
„Nicht wahr? Das würde Sie empören. Und ihn auch. Neben den Ereignissen hergehen, die Entwicklung nicht beherrschen, sondern in ihr mit einbegriffen sein: ist das zu ertragen?... Im Innern unbeschränkt! – und dabei außerstande, auch nur Haß zu erregen anders als durch Worte und Gesten. Denn woran halten sich die Nörgler? Was ist Ernstliches geschehen? Auch der Fall Lück ist nur wieder eine Geste. Sinkt die Hand, ist alles wie zuvor: aber Darsteller und Publikum haben eine Sensation gehabt.