Heinrich Mann

Gesammelte Werke


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Schneewüste. „Kein Mensch da!“

      „Wenn ich Sie zu einem Glas Wein einladen darf –“ wagte Diederich zu sagen, aber er kam übel an. „Danke, Ihr Sekt liegt mir noch im Magen.“ Der Major bestellte Bier und saß da, stumm und mit einem Gesicht zum Fürchten. Um nur das schreckliche Schweigen zu beenden, [pg 188]sagte Diederich drauf los: „Nun, und der Kriegerverein, Herr Major? Ich habe immer geglaubt, ich würde einmal etwas hören über meine Aufnahme.“

      Der Major sah ihn lange nur an, als wollte er ihn fressen. „Ach so. Sie haben geglaubt. Sie haben wohl auch geglaubt, es würde mir eine Ehre sein, wenn Sie mich in Ihre Skandalaffäre hineinziehen?“

      „Meine?“ stotterte Diederich. Der Major donnerte. „Jawohl, Herr! Ihre! Dem Herrn Fabrikbesitzer Lauer ist mal ein Wort zu viel ausgerutscht, das kann vorkommen, sogar bei alten Soldaten, die sich für ihren König haben zu Krüppeln schießen lassen. Sie aber haben den Herrn Lauer raffinierterweise zu seinen unbedachten Äußerungen verleitet. Das bin ich bereit, vor dem Untersuchungsrichter zu bekunden. Den Lauer kenne ich: der war in Frankreich mit und ist in unserem Kriegerverein. Sie, Herr, wer sind Sie? Weiß ich, ob Sie überhaupt gedient haben? Her mit Ihren Papieren!“

      Diederich griff in die Brusttasche. Er würde stramm gestanden haben, wenn der Major es befohlen hätte. Der Major hielt sich den Militärpaß weit von den Augen fort. Plötzlich warf er ihn hin, er feixte grimmig. „Na also. Landsturm mit der Waffe. Hab’ ich es nicht gesagt? Plattfüße wahrscheinlich.“ Diederich war bleich, bebte bei jedem Wort des Majors und hielt beschwörend die Hand vor sich hin. „Herr Major, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich gedient habe. Infolge eines Unglücksfalles, der mir nur zur Ehre gereicht, mußte ich nach drei Monaten austreten ...“

      „Solche Unglücksfälle kennen wir ... Zahlen!“

      „Sonst wäre ich ganz dabei geblieben“, sagte Diederich noch, mit fliegender Stimme. „Ich war mit Leib und Seele Soldat, fragen Sie meine Vorgesetzten.“

      „’n Abend.“ Der Major hatte schon den Mantel an. „Ich will Ihnen bloß noch sagen, Herr: wer nicht gedient hat, den gehen die Majestätsbeleidigungen anderer Leute den Teufel an. Majestät legt keinen Wert auf nicht gediente Herrschaften ... Grützmacher,“ sagte er zum Wirt, „Sie sollten sich Ihr Publikum genauer ansehen. Wegen eines Gastes, der mal zuviel da ist, ist nun der Herr Lauer beinahe verhaftet worden, und ich muß mit meinem steifen Bein zu Gericht als Belastungszeuge und es mit allen Leuten verderben. Der Harmonieball ist schon abgesagt, ich bin beschäftigungslos, und wenn ich hier zu Ihnen komme –“ er warf wieder einen Blick wie über Schneewüsten – „ist kein Mensch da. Außer, natürlich, der Denunziant!“ schrie er noch auf der Treppe.

      „Mein Ehrenwort, Herr Major –“ Diederich lief hinterher, „ich habe keine Anzeige erstattet, das Ganze ist ein Mißverständnis.“ Der Major war schon draußen, Diederich rief ihm nach: „Wenigstens bitte ich um Ihre Diskretion!“

      Er trocknete die Stirn. „Herr Grützmacher, Sie müssen doch einsehen –“ sagte er, mit Tränen in der Stimme. Da er Wein bestellte, sah der Wirt alles ein.

      Diederich trank und schüttelte wehmütig den Kopf. Diese Fehlschläge begriff er nicht. Seine Absichten waren rein gewesen, nur die Tücke seiner Feinde verdunkelte sie ... Da erschien der Landgerichtsrat Dr. Fritzsche, sah sich zögernd um, – und als er Diederich wirklich ganz allein fand, kam er zu ihm. „Herr Doktor Heßling,“ sagte er und gab ihm die Hand, „Sie sehen ja aus, als ob Ihnen die Ernte verhagelt wär.“ In einem großen Betrieb, murmelte Diederich, gebe es freilich immer Ärger. Aber da er die mitfühlende Miene des anderen sah, erweichte er sich vollends. [pg 190]„Ihnen kann ich es sagen, Herr Landgerichtsrat, die Sache mit dem Herrn Lauer ist mir verdammt unangenehm.“

      „Ihm noch mehr“, sagte Fritzsche, nicht ohne Strenge. „Wenn bei ihm nicht jeder Fluchtverdacht ausgeschlossen wäre, hätten wir ihn gleich heute verhaften lassen müssen.“ Er sah Diederich erbleichen und fügte hinzu: „Was sogar uns Richtern peinlich gewesen wäre. Schließlich ist man Mensch und lebt unter Menschen. Aber natürlich –“ Er befestigte seinen Klemmer und machte sein trockenes Gesicht. „Das Gesetz muß befolgt werden. Wenn Lauer an dem betreffenden Abend – ich selbst hatte das Lokal ja schon verlassen – tatsächlich die unerhörten Majestätsbeleidigungen geäußert hat, die von der Anklage behauptet werden, und für die Sie als Hauptzeuge aufgestellt sind –“

      „Ich?“ Diederich fuhr verzweifelt auf. „Ich habe nichts gehört! Kein Wort!“

      „Dagegen spricht Ihre Aussage vor dem Ermittelungsrichter.“

      Diederich verwirrte sich. „Im ersten Moment weiß man doch nicht, was man sagen soll. Aber wenn ich mir den fraglichen Vorgang jetzt rekonstruiere, dann scheint es mir doch, daß wir alle ziemlich stark angeheitert waren. Ich besonders.“

      „Sie besonders“, wiederholte Fritzsche.

      „Ja, und da habe ich wohl anzügliche Fragen an Herrn Lauer gestellt. Was er mir darauf geantwortet hat, das könnte ich jetzt nicht mehr beschwören. Das Ganze war doch überhaupt nur ein Scherz.“

      „Ach so: ein Scherz.“ Fritzsche atmete auf. „Ja, aber was hindert Sie denn, das einfach dem Richter zu sagen?“ Er erhob den Finger. „Ohne daß ich natürlich im geringsten Ihre Aussage beeinflussen möchte.“

      Diederich erhob die Stimme. „Dem Jadassohn vergeß ich den Streich nicht!“ Und er berichtete die Machenschaften dieses Herrn, der sich während der Szene vorsätzlich entfernt habe, um nicht als Zeuge in Betracht zu kommen; der dann sofort Material für die Anklage gesammelt, den halb unzurechnungsfähigen Zustand der Anwesenden mißbraucht und sie von vornherein festgelegt habe mit ihren Aussagen. „Herr Lauer und ich, wir halten einander für Ehrenmänner. Wie untersteht sich so ein Jude, uns zu verhetzen!“

      Fritzsche erklärte ernst, daß hier nicht Jadassohns Persönlichkeit in Betracht komme, sondern nur das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. Freilich war zuzugeben, daß Jadassohn vielleicht zum Übereifer neigte. Mit gedämpfter Stimme setzte er hinzu: „Sehen Sie, das ist eben der Grund, weshalb wir mit den jüdischen Herren nicht gern zusammenarbeiten. Solch ein Herr legt sich nicht die Frage vor, welchen Eindruck es auf das Volk machen muß, wenn ein gebildeter Mann, ein Arbeitgeber, wegen Majestätsbeleidigungen verurteilt wird. Sachliche Bedenken verschmäht sein Radikalismus.“

      „Sein jüdischer Radikalismus“, ergänzte Diederich.

      „Er stellt unbedenklich sich selbst in den Vordergrund, – womit ich keineswegs leugnen will, daß er auch ein amtliches und nationales Interesse wahrzunehmen glaubt.“

      „Wieso denn?“ rief Diederich. „Ein gemeiner Streber, der mit unseren heiligsten Gütern spekuliert!“

      „Wenn man sich scharf ausdrücken will –“ Fritzsche lächelte befriedigt. Er rückte näher. „Nehmen wir einmal an, ich wäre Untersuchungsrichter: es gibt Fälle, in denen man gewissermaßen Grund hätte, sein Amt niederzulegen.“

      „Sie sind mit dem Lauerschen Hause eng befreundet“, sagte Diederich und nickte bedeutsam. Fritzsche machte sein [pg 192]weltmännisches Gesicht. „Aber Sie begreifen, damit würde ich gewisse Gerüchte ausdrücklich bestätigen.“

      „Das geht nicht“, sagte Diederich. „Es wäre gegen den Komment.“

      „Mir bleibt nichts übrig, als meine Pflicht zu tun, ruhig und sachlich.“

      „Sachlich sein heißt deutsch sein“, sagte Diederich.

      „Besonders, da ich annehmen darf, daß die Herren Zeugen mir meine Aufgabe nicht unnötig erschweren werden.“ Diederich legte die Hand auf die Brust. „Herr Landgerichtsrat, man kann sich hinreißen lassen, wo es um eine große Sache geht. Ich bin eine impulsive Natur. Aber ich bleibe mir bewußt, daß ich für alles meinem Gott Rechenschaft schulde.“ Er schlug die Augen nieder. Mit männlicher Stimme: „Auch ich bin der Reue zugänglich.“ Dies schien Fritzsche zu genügen, denn er zahlte. Die Herren schüttelten einander ernst und verständnisvoll die Hände.

      Schon