Heinrich Mann

Die Armen


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      Heinrich Mann

      Die Armen

      Roman

      Heinrich Mann

      Die Armen

      Roman

      Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

       EV: Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1917

       1. Auflage, ISBN 978-3-962818-27-2

      null-papier.de/708

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      Inhaltsverzeichnis

       I. Has­sen­de, Lie­ben­de

       II. Der Ar­bei­ter und das Bür­sch­lein

       III. Mit Euch, Herr Dok­tor, zu spa­zie­ren

       IV. Die sitt­li­chen Fak­to­ren

       V. Das Richt­fest

       VI. Geh’ nicht fort!

       VII. Ul­ti­ma ra­tio

      Dan­ke

      Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

      Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

      Ihr

       Jür­gen Schul­ze

      Die Kin­der schri­en to­send vor dem großen Ar­bei­ter­haus von Gau­sen­feld; hun­der­te von Kin­dern, her­vor­ge­quol­len aus dem über­füll­ten Haus, worin sie alle ge­bo­ren wa­ren, rann­ten, zap­pel­ten, prü­gel­ten sich auf der grau­en Wie­se. Alte Män­ner, die nicht mehr ar­bei­te­ten, stan­den, wenn sie be­sonnt war, an der Mau­er und sa­hen ih­nen zu. Die Kleins­ten fie­len un­auf­hör­lich in den Gra­ben, der die Wie­se von der Land­stra­ße trenn­te, im­mer eil­ten Müt­ter oder Schwes­tern zum Ret­ten her­bei. Die Grö­ße­ren spran­gen hin­über, am liebs­ten auf der Sei­te, wo der Gra­ben ne­ben dem Weg zum Fried­hof lief; und drü­ben war­fen sie ein­an­der ge­gen den wack­li­gen Zaun der Vil­la Klin­ko­rum. Brach ein Brett her­aus, dann rasch hin­ein und Äp­fel ho­len. Der Be­sit­zer hör­te mit Zorn und Ent­set­zen das Knacken der Zwei­ge, die sie mit­ris­sen, aber auf sei­nen stei­fen Bei­nen kam er im­mer zu spät, sie wa­ren schon drau­ßen und zeig­ten ihm aus ei­ni­ger Ent­fer­nung das un­rei­fe Obst, es sei auf der Stra­ße ge­le­gen. Dann hielt er ih­nen eine Rede über das Ei­gen­tum und die Bil­dung, im­mer die­sel­be Rede, denn nie­mals merk­te er, dass er es mit den­sel­ben Jun­gen zu tun hat­te. Klin­ko­rum war Schul­leh­rer ge­we­sen, aber ei­ner für die Rei­chen; und weil ihm schon die Zäh­ne aus­ge­fal­len wa­ren, woll­te er nun hier sich mau­sig ma­chen. Kaum war er fort, pol­ter­ten alle ge­gen sei­nen Zaun, und ir­gend­ei­ner kroch hin­ein und setz­te ihm et­was auf den Gar­ten­weg. Der alte Ma­ler­meis­ter, der un­ten im Haus wohn­te, durf­te es se­hen, er lach­te, wenn er auch schalt. Nur den klei­nen Mäd­chen war es von ih­ren Müt­tern streng ver­bo­ten, ihm zu nahe zu kom­men.

      Dies war nicht al­les, was Pro­fes­sor Klin­ko­rum zu er­dul­den hat­te. Kehr­te er aus der Stadt heim, zu­wei­len schon ganz nahe bei sei­nem Grund­stück über­hol­te ihn, wie er auch has­te­te, das Heß­ling­s­che Au­to­mo­bil und be­deck­te ihn mit Staub oder Schmutz. Ge­ne­ral­di­rek­tor Ge­hei­mer Kom­mer­zi­en­rat Dr. Heß­ling in sei­nem Staub­man­tel blick­te un­er­bitt­lich ge­ra­de­aus, und Klin­ko­rum, von au­ßen ge­gen sei­nen ei­ge­nen Zaun ge­drängt, äug­te mit ohn­mäch­ti­gem Hass, bis er, ganz in ei­ner stin­ken­den Wol­ke be­fan­gen, die Au­gen schloss. In­ner­lich hielt er in sol­chen Mi­nu­ten sei­ne zwei­te Rede über das Ei­gen­tum, die Rede da­ge­gen, – wenn es näm­lich schran­ken­los und über­heb­lich war. Die Bil­dung war das Ers­te und muss­te es blei­ben.

      Da­mit ging er hin­auf in sein Stu­dier­zim­mer. Von hier über­sah er ganz Gau­sen­feld, hin­ter den Ar­bei­ter­häu­sern das wüs­te Ge­län­de, bis zum Wald, bis zur Fa­brik. Es ward Nacht, an der Fried­hofs­mau­er die Lam­pe leuch­te­te nahe, und weit dort­hin­ten die ge­reih­ten Lich­ter der Fa­brik.

      Aus der Fa­brik kehr­ten die Ar­bei­ter heim; ihr Mas­sen­schritt dröhn­te, von fer­ne fühl­bar, bis in das Stu­dier­zim­mer; und Klin­ko­rum dach­te nicht ohne Ach­tung an den Herrn der Mas­sen, ihn, Heß­ling, Be­sit­zer Gau­sen­felds, großen Reich­tums und man­cher Wür­den. Wie hat­te er es da­hin ge­bracht, als Che­mi­ker und Pa­pier­fa­bri­kant? Durch Ma­chen­schaf­ten und Kunst­grif­fe ge­schäft­li­cher wie po­li­ti­scher Art, über die es auch nach sech­zehn Jah­ren in der Stadt noch nicht still war. Der selbst­ge­mach­te Mann frei­lich blieb zu ach­ten. Er wie­der aber ach­te noch hö­he­re Rech­te! Klin­ko­rum hat­te ge­spart, bis er weit drau­ßen an der Land­stra­ße dies ein­sa­me klei­ne Haus er­ste­hen konn­te, die Freu­de sei­nes letz­ten Le­bens­drit­tels. Ge­pflegt und lau­schig, ein Sitz der Muse, ruh­te es im Grü­nen, un­auf­ge­stört von Wei­he­lo­sen; denn nur lang­sa­me Bau­ern­wa­gen zo­gen, mit Och­sen, breit­stir­ni­gen, schweraus­schrei­ten­den be­spannt, vor­über, und Gau­sen­feld, das ein­zi­ge grö­ße­re An­we­sen in der Wei­te, die­se Stät­te der Pa­pier­fa­bri­ka­ti­on lag jen­seits von Fel­dern und Wald, man sah, hör­te und roch sie nicht. Da aber, was ge­sch­ah? Der neue Herr von Gau­sen­feld ver­grö­ßer­te sei­ne Fa­brik­an­la­gen. Er leg­te den Wald so weit nie­der, als er jene un­ed­len Bau­lich­kei­ten dem Blick ent­zo­gen hat­te. Die Ar­bei­ter-Fa­mi­li­en­häu­ser wuch­sen über das Feld her­an, im­mer nach Wes­ten, im­mer auf Klin­ko­rum zu. Auch kam es da­hin, dass gleich hin­ter sei­nem Zaun dies Volk sich be­gra­ben ließ. Und dem Fried­hof, als vor­letz­tem Streich, folg­ten die Ka­ser­nen der Pro­le­ta­ri­er, Un­ge­heu­er von Häu­sern, hin­schat­tend über Klin­ko­rum und sei­nen be­schei­de­nen Ru­he­sitz, ihn mit Gerü­chen be­drän­gend, in Ruß ver­schüt­tend so Gar­ten wie Haus und um es her eine Zone brei­tend des Ge­stamp­fes, Ge­schreis, Tot­schla­ges und der bil­dungs­feind­li­chen Ro­heit!

      Nun wa­ren die Lich­ter aus­ge­löscht in der Fa­brik und ent­zün­det in den Ka­ser­nen, in der Kan­ti­ne an ih­rem Flü­gel. Dor­ther kam Lärm. Der Ar­bei­ter Karl Bal­rich aber, still in sei­nem Zim­mer 101 des Ar­bei­ter­hau­ses B, stand am Fens­ter, sah vor sich das­sel­be wie der Be­sit­zer der Vil­la Klin­ko­rum und dach­te nach, auch er, über die Welt, die ihn um­gab. Frei­lich, die vie­len Geräusche des Hau­ses selbst, von rechts, links, oben, un­ten über­tön­ten bei Wei­tem sei­ne Ge­dan­ken an das Fer­ne­re. Er hör­te um sich her, des Sonn­tags wenn er ruh­te und jetzt am Abend be­vor er schlief, Streit, Küs­se, Ge­sprä­che über Geld und Es­sen, die Prü­gel für die Kin­der, hör­te durch das hal­len­de und zit­tern­de Haus al­les was vor­ging, was das Le­ben der Men­schen war und was es schon nicht mehr war: ihr letz­tes Wim­mern, ihr Ab­schieds­ge­stöhn. Aber öf­ter als Ster­ben hör­te er Ge­bä­ren. Er sag­te sich dann, je nach­dem ihm an dem Abend zu Sinn war: »Wie­der ein Mann für die Ar­bei­ter­ba­tail­lo­ne« oder: »Heß­ling kann la­chen; wie­der ein Dum­mer.«

      Denn der Ar­bei­ter Bal­rich sah, wie die Din­ge la­gen, in der Per­son des Ge­ne­ral­di­rek­tors Heß­ling den höchs­ten Zweck und das letz­te Er­geb­nis des ihn um­ge­ben­den Le­bens, al­ler die­ser Mü­hen, Auf­re­gun­gen und Schmer­zen – und nicht nur die­ser