Karl Balrich sah einen seiner Finger in Leinen gewickelt, er prüfte ihn, die Brauen gefaltet, unter dem Tisch. Jeder in diesem Augenblick hatte ein Gesicht, das den allertiefsten Ernst des Lebens trug. Da, in einer Stille, sagte Balrich:
»Das hat seine Zeit, und dann kommt die Gerechtigkeit.«
»So ist es!« sagten sie, und ein Geschwirr entstand, aus leisen Zustimmungen, den halben Lauten der Gläubigkeit. Auf dem Wege sind wir, zur Gerechtigkeit, – und sähest du täglich mehr, dass er lang ist, gezählt sind die Tage der Reichen. Wir werden, mit dem was jetzt sie uns kosten, selbst reich sein, alle; werden in gelüfteten Sälen gemeinsam unser gutes Essen haben, und Maschinen, die uns gehören, arbeiten für uns. Mit jenen aber wird es aus sein. Wäre dem anders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.
Das tun wir nicht, weil wir vernünftiger sind als sie. Wir können frei aufatmen, so, ganz frei, mitten in unserer Stickluft, denn bei uns sind Vernunft und Zukunft. Ihr dort seid erblindet durch den Besitz, ihr wisst nicht einmal mehr, was ihr in Händen habt. Wer unter euch schätzt das Wissen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn vergessen, in eurem Fett. Wir, wir begreifen, dass er es ist, der die Welt erobert, und dass er auch wieder ihr Ziel ist. Jede Bibliothek, die wir zusammenbringen oder abringen eurem Geiz, ist ein Wegmal für unsere Heraufkunft und euren Untergang.
Dinkl, mit einem Luftsprung von seinem Sitz auf, rief aus:
»Nichts freut mich, wie die hunderttausend Mark, die ihn die Bibliothek kostet!«
Und alle frohlockten über diese Niederlage des Generaldirektors. Kämpfe freilich kostete noch die Verwaltung der Bibliothek, denn satzungsgemäß stimmten auch Beamte beim Ankauf der Bücher, und verhinderten, so viel sie konnten, die Aufnahme der Parteischriften. Herbesdörfer schmunzelte, tief befriedigt. Seit gestern hatte er, sicher verschlossen in seinem Zimmer, »das Kapital«.
Da betrachtete Balrich ihn, sein armes grobes Gesicht, das verriegelt aussah und hinter seiner großen Brille immer in Anstrengung und Angst schien, ob es nicht endlich sich öffnen, klarsehen und begreifen werde, sein tapferes, vergeblich ringendes Gesicht.
»So steht es um uns,« fühlte Balrich. »Wir sind zu schwach, obwohl wir die Stärkeren scheinen. Die Bücher, mit denen Ausbeutung und Elend zu besiegen wären, liegen in unserer Lade, wir aber sitzen hier, verbraucht vom Knechtstum der ganzen Woche und ohne Handhabe, um unsere Waffen nutzen zu lernen. Kommt dennoch einer von uns dahin, die wissenschaftlichen Werke zu erfassen, seinen Kindern kann er es darum nicht leichter machen. Wir bleiben, wo wir sind. Trachten wir das Glück zu genießen, das Armut uns erlaubt!«
Hier erinnerte er sich, dass ein Mädchen auf ihn wartete – sein Mädchen, wenn er wollte. Aber wollte er, und musste es diese sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drüben, hätte sich fast daran niedergelassen, – und als er dann hinausgelangte, stand dort hinten unter der Friedhofmauer schon das Mädchen. Sie stand in ihrem braunen Tuch ein wenig gebeugt, als wartete sie seit einiger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.
»Thilde!« rief er aufmunternd, worauf sie ihm ein Gesicht zeigte, das voll Gram war. Er kam aber so mutig herbei, breit, spannkräftig und fest, mit dem dunkeln Schopf unter der Mütze hervor, so wohlgeraten kam er, dass sie ihm dennoch entgegenlächelte.
»Warst du schon drinnen?« fragte er gedämpft und wies nach der Friedhofpforte.
Sie nickte. »Mein Kleines hat alles was es braucht. Wenn auch wir das hätten.«
»Das sollst du nicht sagen,« verlangte er; und zarter: »Gehen wir noch einmal hinein?«
Da sie den Kopf schüttelte, bestand er nicht darauf. Es machte nur traurig, und hatten sie nicht beide mehr vor als hinter sich? »Komm fort!« sagte er bestimmt, nahm ihren Arm und ging schneller. Im Schatten der Mauer, von der Büsche hingen, drängte sie sich an ihn mit den Hüften. Sie waren breit, die Brust voll, und dazu das magere Gesicht, aus dem sie bange zu ihm aufsah.
Am Ende der Mauer pfiff sogleich der Wind. Balrich wickelte Thilde fester ein. Erst März; kahl dämmerndes Feld; und sie stapften durch Regenlachen. Rechts zwischen dürren Bäumchen die Villen, genannt Arbeitervillen; aber fast nur noch Beamte wohnten darin. Als Arbeiter musste man sehr wohl gelitten sein. »Der Jauner wird hereinkommen, wir nicht.«
Und wegen der Pfützen bald getrennt, bald wieder beisammen, begannen sie zu rechnen. Balrich hatte seine zwei jungen Brüder, der eine noch schulpflichtig, der andere unbezahlt. Das kleine Mädchen Thildes war keine Last mehr, sagte Balrich. Nur noch ihre Mutter, zu schwach um zu arbeiten, hing an ihr. »Wäre das nicht,« sagte er, im Drang sie zu schützen, »du solltest gar nicht mehr arbeiten, du Ärmste, und ich für zwei.«
Hierauf sah sie ihn an, bitter und misstrauisch, und mit einer höheren, schärferen Stimme sagte sie, dass sie nichts brauche und ihre Mutter sei ihr so wenig zur Last, wie früher das Kind. »Du möchtest wohl, auch sie läge schon draußen!«
Da merkte Balrich, dass sie einander nicht verstanden, – und wollten einander doch lieben? Er hätte darauf bestehen sollen, dass sie zusammen an das Grab gingen. Nun argwöhnte sie, dass er ihr das Kind verdenke, vielleicht immer es ihr verdenken werde. »Das nicht,« fühlte er. »Das wirklich nicht. Aber sie hat ihr Leben gehabt, bevor ich da war. Sie hat einen anderen gekannt, und ich glaube zwei. Nun denkt sie von mir bisweilen nicht gut.«
Sie war zwanzig, so alt wie er; und auch er hatte schon zwei Mädchen gehabt. Ihm aber war nichts zurückgeblieben, er hätte lieben können wie das erste Mal. Nur, warum denn diese, die manchmal so fremd schien, als sei sie aus einem anderen Land. Durch sie hindurch erblickte er plötzlich seine Schwester Leni, unberührt, unbeschwert und vertrauend auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zukunft. Diese hier, wie müde!
Fühlte sie denn, was er dachte? Anklagend erhob sie nochmals das Gesicht gegen ihn und sagte in einem Ton, der weh tun wollte: »Gib acht auf deine Schwester Leni! Sie ist vor dem Kind nicht sicherer als wir anderen.«
Balrich ließ sich aber nicht wehtun. Er nahm fest ihren Arm in den seinen und sagte sanft:
»Dein Kind war ein gutes und liebes Kind.«
Er erlaubte ihr nicht, sich loszumachen, und am Ende gab sie nach, sank leise gegen ihn, und aus ihren geschlossenen Augen rannen Tränen. Langsam, in der Dämmerung und im Wind, erreichten sie den »Arbeiterwald«, der Bänke hatte. Umschlungen setzten sie sich auf eine feuchtkalte Bank, unter großen schwarzen Ästen ohne Blätter. Vor ihnen die Fabrik, und hinter den drei Reihen der Fabrikgebäude ging die Sonne unter, von Wolkenstreifen überzogen wie von Rauch. Sie starrten in die Röte und dachten beide, dass es gut wäre, warm zu haben.