Heinrich Mann

Die Armen


Скачать книгу

Karl Bal­rich sah einen sei­ner Fin­ger in Lei­nen ge­wi­ckelt, er prüf­te ihn, die Brau­en ge­fal­tet, un­ter dem Tisch. Je­der in die­sem Au­gen­blick hat­te ein Ge­sicht, das den al­ler­tiefs­ten Ernst des Le­bens trug. Da, in ei­ner Stil­le, sag­te Bal­rich:

      »Das hat sei­ne Zeit, und dann kommt die Ge­rech­tig­keit.«

      »So ist es!« sag­ten sie, und ein Ge­schwirr ent­stand, aus lei­sen Zu­stim­mun­gen, den hal­b­en Lau­ten der Gläu­big­keit. Auf dem Wege sind wir, zur Ge­rech­tig­keit, – und sä­hest du täg­lich mehr, dass er lang ist, ge­zählt sind die Tage der Rei­chen. Wir wer­den, mit dem was jetzt sie uns kos­ten, selbst reich sein, alle; wer­den in ge­lüf­te­ten Sä­len ge­mein­sam un­ser gu­tes Es­sen ha­ben, und Ma­schi­nen, die uns ge­hö­ren, ar­bei­ten für uns. Mit je­nen aber wird es aus sein. Wäre dem an­ders, warum säuft man nicht, oder bricht ein.

      Das tun wir nicht, weil wir ver­nünf­ti­ger sind als sie. Wir kön­nen frei auf­at­men, so, ganz frei, mit­ten in un­se­rer Stick­luft, denn bei uns sind Ver­nunft und Zu­kunft. Ihr dort seid er­blin­det durch den Be­sitz, ihr wisst nicht ein­mal mehr, was ihr in Hän­den habt. Wer un­ter euch schätzt das Wis­sen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn ver­ges­sen, in eu­rem Fett. Wir, wir be­grei­fen, dass er es ist, der die Welt er­obert, und dass er auch wie­der ihr Ziel ist. Jede Biblio­thek, die wir zu­sam­men­brin­gen oder ab­rin­gen eu­rem Geiz, ist ein Weg­mal für un­se­re Her­auf­kunft und eu­ren Un­ter­gang.

      Dinkl, mit ei­nem Luft­sprung von sei­nem Sitz auf, rief aus:

      »Nichts freut mich, wie die hun­dert­tau­send Mark, die ihn die Biblio­thek kos­tet!«

      Und alle frohlock­ten über die­se Nie­der­la­ge des Ge­ne­ral­di­rek­tors. Kämp­fe frei­lich kos­te­te noch die Ver­wal­tung der Biblio­thek, denn sat­zungs­ge­mäß stimm­ten auch Be­am­te beim An­kauf der Bü­cher, und ver­hin­der­ten, so viel sie konn­ten, die Auf­nah­me der Par­tei­sch­rif­ten. Her­bes­dör­fer schmun­zel­te, tief be­frie­digt. Seit ges­tern hat­te er, si­cher ver­schlos­sen in sei­nem Zim­mer, »das Ka­pi­tal«.

      Da be­trach­te­te Bal­rich ihn, sein ar­mes gro­bes Ge­sicht, das ver­rie­gelt aus­sah und hin­ter sei­ner großen Bril­le im­mer in An­stren­gung und Angst schi­en, ob es nicht end­lich sich öff­nen, klar­se­hen und be­grei­fen wer­de, sein tap­fe­res, ver­geb­lich rin­gen­des Ge­sicht.

      »So steht es um uns,« fühl­te Bal­rich. »Wir sind zu schwach, ob­wohl wir die Stär­ke­ren schei­nen. Die Bü­cher, mit de­nen Aus­beu­tung und Elend zu be­sie­gen wä­ren, lie­gen in un­se­rer Lade, wir aber sit­zen hier, ver­braucht vom Knecht­stum der gan­zen Wo­che und ohne Hand­ha­be, um un­se­re Waf­fen nut­zen zu ler­nen. Kommt den­noch ei­ner von uns da­hin, die wis­sen­schaft­li­chen Wer­ke zu er­fas­sen, sei­nen Kin­dern kann er es dar­um nicht leich­ter ma­chen. Wir blei­ben, wo wir sind. Trach­ten wir das Glück zu ge­nie­ßen, das Ar­mut uns er­laubt!«

      Hier er­in­ner­te er sich, dass ein Mäd­chen auf ihn war­te­te – sein Mäd­chen, wenn er woll­te. Aber woll­te er, und muss­te es die­se sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drü­ben, hät­te sich fast dar­an nie­der­ge­las­sen, – und als er dann hin­aus­ge­lang­te, stand dort hin­ten un­ter der Fried­hof­mau­er schon das Mäd­chen. Sie stand in ih­rem brau­nen Tuch ein we­nig ge­beugt, als war­te­te sie seit ei­ni­ger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

      »Thil­de!« rief er auf­mun­ternd, wor­auf sie ihm ein Ge­sicht zeig­te, das voll Gram war. Er kam aber so mu­tig her­bei, breit, spann­kräf­tig und fest, mit dem dun­keln Schopf un­ter der Müt­ze her­vor, so wohl­ge­ra­ten kam er, dass sie ihm den­noch ent­ge­gen­lä­chel­te.

      »Warst du schon drin­nen?« frag­te er ge­dämpft und wies nach der Fried­hof­pfor­te.

      Sie nick­te. »Mein Klei­nes hat al­les was es braucht. Wenn auch wir das hät­ten.«

      »Das sollst du nicht sa­gen,« ver­lang­te er; und zar­ter: »Ge­hen wir noch ein­mal hin­ein?«

      Da sie den Kopf schüt­tel­te, be­stand er nicht dar­auf. Es mach­te nur trau­rig, und hat­ten sie nicht bei­de mehr vor als hin­ter sich? »Komm fort!« sag­te er be­stimmt, nahm ih­ren Arm und ging schnel­ler. Im Schat­ten der Mau­er, von der Bü­sche hin­gen, dräng­te sie sich an ihn mit den Hüf­ten. Sie wa­ren breit, die Brust voll, und dazu das ma­ge­re Ge­sicht, aus dem sie ban­ge zu ihm auf­sah.

      Am Ende der Mau­er pfiff so­gleich der Wind. Bal­rich wi­ckel­te Thil­de fes­ter ein. Erst März; kahl däm­mern­des Feld; und sie stapf­ten durch Re­gen­la­chen. Rechts zwi­schen dür­ren Bäum­chen die Vil­len, ge­nannt Ar­bei­ter­vil­len; aber fast nur noch Be­am­te wohn­ten dar­in. Als Ar­bei­ter muss­te man sehr wohl ge­lit­ten sein. »Der Jau­ner wird her­ein­kom­men, wir nicht.«

      Und we­gen der Pfüt­zen bald ge­trennt, bald wie­der bei­sam­men, be­gan­nen sie zu rech­nen. Bal­rich hat­te sei­ne zwei jun­gen Brü­der, der eine noch schul­pflich­tig, der an­de­re un­be­zahlt. Das klei­ne Mäd­chen Thil­des war kei­ne Last mehr, sag­te Bal­rich. Nur noch ihre Mut­ter, zu schwach um zu ar­bei­ten, hing an ihr. »Wäre das nicht,« sag­te er, im Drang sie zu schüt­zen, »du soll­test gar nicht mehr ar­bei­ten, du Ärms­te, und ich für zwei.«

      Hier­auf sah sie ihn an, bit­ter und miss­trau­isch, und mit ei­ner hö­he­ren, schär­fe­ren Stim­me sag­te sie, dass sie nichts brau­che und ihre Mut­ter sei ihr so we­nig zur Last, wie frü­her das Kind. »Du möch­test wohl, auch sie läge schon drau­ßen!«

      Da merk­te Bal­rich, dass sie ein­an­der nicht ver­stan­den, – und woll­ten ein­an­der doch lie­ben? Er hät­te dar­auf be­ste­hen sol­len, dass sie zu­sam­men an das Grab gin­gen. Nun arg­wöhn­te sie, dass er ihr das Kind ver­den­ke, viel­leicht im­mer es ihr ver­den­ken wer­de. »Das nicht,« fühl­te er. »Das wirk­lich nicht. Aber sie hat ihr Le­ben ge­habt, be­vor ich da war. Sie hat einen an­de­ren ge­kannt, und ich glau­be zwei. Nun denkt sie von mir bis­wei­len nicht gut.«

      Sie war zwan­zig, so alt wie er; und auch er hat­te schon zwei Mäd­chen ge­habt. Ihm aber war nichts zu­rück­ge­blie­ben, er hät­te lie­ben kön­nen wie das ers­te Mal. Nur, warum denn die­se, die manch­mal so fremd schi­en, als sei sie aus ei­nem an­de­ren Land. Durch sie hin­durch er­blick­te er plötz­lich sei­ne Schwes­ter Leni, un­be­rührt, un­be­schwert und ver­trau­end auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zu­kunft. Die­se hier, wie müde!

      Fühl­te sie denn, was er dach­te? An­kla­gend er­hob sie noch­mals das Ge­sicht ge­gen ihn und sag­te in ei­nem Ton, der weh tun woll­te: »Gib acht auf dei­ne Schwes­ter Leni! Sie ist vor dem Kind nicht si­che­rer als wir an­de­ren.«

      Bal­rich ließ sich aber nicht weh­tun. Er nahm fest ih­ren Arm in den sei­nen und sag­te sanft:

      »Dein Kind war ein gu­tes und lie­bes Kind.«

      Er er­laub­te ihr nicht, sich los­zu­ma­chen, und am Ende gab sie nach, sank lei­se ge­gen ihn, und aus ih­ren ge­schlos­se­nen Au­gen ran­nen Trä­nen. Lang­sam, in der Däm­me­rung und im Wind, er­reich­ten sie den »Ar­bei­ter­wald«, der Bän­ke hat­te. Um­schlun­gen setz­ten sie sich auf eine feucht­kal­te Bank, un­ter großen schwar­zen Äs­ten ohne Blät­ter. Vor ih­nen die Fa­brik, und hin­ter den drei Rei­hen der Fa­brik­ge­bäu­de ging die Son­ne un­ter, von Wol­ken­strei­fen über­zo­gen wie von Rauch. Sie starr­ten in die Röte und dach­ten bei­de, dass es gut wäre, warm zu ha­ben.