Heimkehr ihrer Tante nicht sofort mitbekam. Als sie die Augen öffnete und Linda an der Tür stehen sah, schaltete sie die Musik aus.
»Da bist du ja endlich.«
»Ja, jetzt fühle ich mich ausreichend vorbereitet. Wenn ich jetzt noch ein paar Stunden schlafe, ist von meiner Seite aus alles gut.«
»Ich habe mich in ihn verliebt, Tante Linda.«
»Das dachte ich mir schon, als ich euch im Café sitzen sah. Das muss ja sehr schnell gegangen sein.«
»Blitzschnell, ja. Ich weiß gar nicht genau, warum ich mich zu ihm gesetzt habe. Er wirkte so … verloren. Ich habe ihn angesprochen, und dann hat er mir gesagt, was mit ihm los ist und hat mir seine Geschichte erzählt. Währenddessen habe ich ihn angesehen und konnte plötzlich nicht mehr wegsehen. Ich wollte nur noch bei ihm sein. So etwas ist mir vorher noch nie passiert.« Selina unterbrach sich. »Ist das ein Problem für dich? Verstärkt das den Druck?«
Linda setzte sich zu ihr. »Vielleicht, aber das ist nicht schlimm. Du weißt, ich kann Druck gut aushalten.«
»Ich habe Angst um ihn«, gestand Selina. »Ich habe ihn ja gerade erst gefunden. Die Vorstellung, ihn gleich wieder zu verlieren, ist schrecklich.«
»Jemanden zu verlieren, den man gern hat oder liebt, ist immer schrecklich. Denkst du, du kannst schlafen?«
»Ich versuch’s. Und du?«
Linda lächelte. »Ich versuche es auch.«
*
»Lass uns aufstehen, Leon«, sagte Antonia um halb fünf am nächsten Morgen. »Du wälzt dich nur noch von einer Seite auf die andere. Da ist es doch besser, wenn wir in Ruhe frühstücken und du das Haus verlässt, bevor die Kinder aufstehen.«
Er zog sie in seine Arme und küsste sie. »Wie immer hast du Recht«, murmelte er. »In einer Stunde hätte ich sowieso aufstehen müssen.«
Während er duschte, bereitete Antonia das Frühstück zu. Sie selbst hatte so früh noch keinen Appetit, aber sie wusste aus Erfahrung, dass Leon anders reagierte als sie.
Er trank eine Tasse Kaffee und aß mit gutem Appetit eine Scheibe Brot, aber natürlich war er mit seinen Gedanken bereits in der Klinik. Sie störte ihn nicht beim Nachdenken.
Endlich wandte er sich mit entschuldigendem Lächeln ihr zu. »Tut mir leid, ich bin nicht besonders unterhaltsam heute Morgen«, sagte er.
»Das ist schon in Ordnung. Ich bin selbst aufgeregt wegen Herrn Flossbach.«
Er betrachtete sie nachdenklich. »Wenn er den Anfall nicht bei euch in der Praxis gehabt hätte, sondern woanders …«
Sie nickte. »Das war Glück für ihn«, sagte sie.
»So wie für die verletzten Kinder nach dem Busunglück. Du weißt, ich war nicht begeistert von deinem Wunsch, noch einmal in den Beruf einzusteigen. Das war egoistisch von mir, ich habe vor allem daran gedacht, was ich verlieren würde, wenn du wieder arbeitest. Jetzt erst ist mir klar geworden, wie viel du bewirken kannst. Oder ihr, Frau Böhler und du. Ich muss gestehen, dass ich mich schäme für meine Engstirnigkeit.«
»Du warst nicht begeistert, aber du hast mir auch keine Steine in den Weg gelegt. Und du hast mich nicht beschimpft, wie mein Vater.«
»Trotzdem, ich schäme mich. Und was deinen Vater angeht, so …«
Antonia winkte ab. »Lass uns nicht über ihn reden, das verdirbt mir nur die Laune. Ich warte ab, bis mein Zorn auf ihn sich etwas abgekühlt hat. Vielleicht bin ich dann bereit, wieder mit ihm zu reden. Aber so weit ist es noch längst nicht.«
»Trotz allem: Er ist dein Vater.«
»Und ich bin seine Tochter«, erklärte Antonia heftig. »Er hätte auch einfach stolz auf mich sein und mich unterstützen können – und das gilt für damals wie für heute.«
Leon lächelte. »Gut, wir reden heute wirklich besser nicht über ihn.« Er hatte in der Zwischenzeit seine zweite Tasse Kaffee getrunken und eine weitere Scheibe Brot gegessen.
Als er sich die dritte Tasse einschenkte, erschien Konstantin. »Habe ich doch richtig gehört«, sagte er. »Wieso frühstückt ihr schon? Es ist noch nicht mal halb sechs.«
»Wegen einer schwierigen Operation, der ersten unserer neuen Neurochirurgin«, erklärte Leon.
»Das heißt, du operierst gar nicht selbst?«
»Neurochirurgie gehört nicht zu meinen Fachgebieten«, erwiderte Leon lächelnd. »Ich fand das immer interessant, aber als Gynäkologe und Chirurg bin ich ausgelastet.« Er stand auf. »Ich bin früh dran, aber ich mache mich auf den Weg.«
Er küsste Antonia, schlug seinem ältesten Sohn freundschaftlich auf die Schulter und verließ das Haus.
»Dann dusche ich mal«, sagte Konstantin. »Schlafen kann ich jetzt doch nicht mehr.«
Antonia sah ihm nach, wie er langsam wieder nach oben ging. Täuschte sie sich oder hätte er gern mit seinen Eltern über das geredet, was ihn offenbar seit längerem bewegte?
»Konny?«
Er drehte sich um, sehr langsam. »Ja?«
Etwas Abweisendes lag jetzt in seiner Stimme und seinem Blick, das sie warnte, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge lag. Sie sprang auf und ging auf ihn zu. Es tat ihr weh zu sehen, wie sich sein Körper anspannte, als müsste er eine Gefahr abwenden. Sie umarmte ihn trotzdem. »Nichts weiter«, flüsterte sie. »Ich wollte dich nur mal wieder in den Arm nehmen. Und nun geh dich duschen.«
Sein Körper wurde weich, er erwiderte ihre Umarmung und als sie ihn losließ, war das Abweisende in seinem Blick verschwunden. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und kehrte an den Frühstückstisch zurück.
»Mama?«
»Ja?«
»Danke.« Er drehte sich um und rannte nach oben.
*
Linda stand sehr aufrecht hinter dem Patienten, der auf einem Stuhl vor ihr saß. Seinen geöffneten Schädel hatte sie direkt vor sich, über einen Monitor konnte sie verfolgen, wo sie das Skalpell ansetzen musste. Eckart Sternberg stand neben ihr, gespannt wie eine Feder vor Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie näherten sich der kritischen Phase der Operation. Einen Teil des Tumors hatte sie schon aus dem Hirn geschält, nun kam die Stelle, an der er sich so eingenistet hatte, dass er nur unter Schwierigkeiten zu erreichen war.
Im Operationssaal war es so still, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. Die Geräte surrten leise, ab und zu raschelte ein Kittel oder eins der Instrumente gab ein leises Klingen von sich, aber sonst war es still. Sie kannte Kollegen, die bei Opernmusik operierten, das wäre ihr unmöglich gewesen, weil es sie abgelenkt hätte. Sie dachte auch nicht darüber nach, wer der junge Mann war, in dessen geöffneten Kopf sie hineinsah, und was er ihrer Nichte Selina bedeutete. Sie schaltete alles aus, was nicht unmittelbar mit der Aufgabe zu tun hatte, die sie bewältigen musste.
Millimeter für Millimeter schob sie das Skalpell weiter. Ihre Hand war vollkommen ruhig, sie wusste, dass sie sich kein Zittern erlauben durfte, keine noch so kleine Abweichung vom Wege.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dachte sie und bat mit halblauter Stimme: »Reden Sie mit mir, Herr Flossbach.«
»Was … was soll ich denn sagen?«
»Oh, sagen Sie mir, was Sie sehen. Oder zählen Sie, das wäre auch gut.«
Sie hatte dem jungen Mann erklärt, warum sie ab einem bestimmten Zeitpunkt während des Eingriffs mit ihm reden würde: So konnte sie ihre Arbeit am besten kontrollieren. Er war bei der Aussicht, die Operation bei vollem Bewusstsein zu erleben, zunächst erschrocken gewesen, obwohl sie ihm erklärt hatte, dass er keinerlei Schmerzen verspüren würde. Aber letzten Endes hatte wohl auch das zu seiner Entscheidung beigetragen, sich operieren zu lassen: Ein plötzliches Erwachen unter Schmerzen war bei diesem Eingriff nicht möglich.
Er