nickte. »Klar, was dachtest du denn? Ich wusste gar nicht, dass du so reden kannst – so … so kalt und streng.«
»Ich wollte das eigentlich nicht, aber er hat mich richtig wütend gemacht. Meine Güte, ich bin Mitte vierzig, und er meint immer noch, er kann mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Das ist doch nicht zu fassen!« Antonia fuhr Kyra liebevoll durch die Haare. »Versprich mir, mich an diese Situation zu erinnern, wenn du so alt bist wie ich jetzt und ich versuche, dir immer noch Vorschriften zu machen.«
Kyra kicherte. »Ich weiß nicht, ob ich mich dann noch daran erinnere, Mami. Das sind noch über dreißig Jahre.«
»Da hast du auch wieder Recht, und so lange sollte man sich an unangenehme Situationen überhaupt nicht erinnern, das würde einem nur das Leben vergiften.«
»Kann ich den anderen von Opas Besuch erzählen?«
»Was machst du, wenn ich jetzt ›nein‹ sage?«
Kyra seufzte. »Dann würde ich es vielleicht nur Kevin erzählen.«
Antonia musste lachen, und damit fiel der erste Teil der Anspannung von ihr ab. Der zweite folgte, als Kyra und sie in der Küche einen Saft tranken, wobei Kyra ihr erzählte, wie ihr allerbester Freund Peter Stadler heute den Mathematiklehrer beeindruckt hatte.
Danach machten sie sich gemeinsam an die Vorbereitungen fürs Abendessen, und dabei entspannte sich Antonia vollends.
Irgendwann würden ihr Vater und sie wieder zusammenfinden, daran zweifelte sie nicht. Aber noch nicht gleich. Zu groß war ihr Zorn auf ihn, als dass sie ihm seine Kritik sofort hätte verzeihen können.
*
»Heute hole ich Flo noch einmal ab, Mama, nächste Woche bist du dann wieder dran«, sagte Miro.
Anke nickte. »Ist gut. Es wird ja jeden Tag besser. Der Doktor meint auch, dass ich bald wieder arbeiten kann. Sogar mein Appetit kehrt allmählich zurück.«
»Ich gehe dann mal los«, sagte Miro.
Anke drückte ihren Großen an sich. »Danke«, sagte sie leise. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Ach, Mama! Heute Abend bin ich übrigens mit Fritz verabredet, hatte ich dir das schon gesagt?«
»Ja, hattest du. Schön, dass du einen Freund gefunden hast.«
»Du lernst ihn bald kennen.« Miro rannte los. Vielleicht gelang es ihm ja heute, vor Ende des Ballettunterrichts einen Blick in den Saal zu werfen? Er war nun einmal neugierig, wie Flora aussah, wenn sie in einer größeren Gruppe ihre Tanzschritte übte. Er sah sie ja immer nur in der Wohnung, wenn sie ihm mit glühenden Wangen vorführte, was sie gelernt hatte. Aber wie sah das aus, wenn sich ein Dutzend kleine Mädchen und vielleicht halb so viele kleine Jungs abmühten, den Forderungen des Tanzlehrers zu genügen?
Aber als er die Ballettschule erreichte, sah er gleich, dass er zu spät gekommen war, denn die ersten Kinder verließen bereits das Gebäude. Er würde sich also noch gedulden müssen.
Flora kam ziemlich spät, natürlich mit ihrer Freundin Ida. Die beiden waren in ein so angeregtes Gespräch vertieft, dass Flora ihren Bruder erst bemerkte, als er ihren Namen rief. Im selben Moment wurde auch Ida gerufen, deren Mutter in einem großen Wagen auf sie wartete.
»Wir fahren zu meiner Oma«, sagte Ida, »bis morgen, Flora. Hallo, Miro!« Sie winkte, während sie an ihm vorbeirannte und gleich darauf in den Wagen ihrer Mutter stieg.
»Na, wie was habt ihr heute gelernt?«, fragte Miro.
Flora stieß einen langen Seufzer aus. »Pliés«, sagte sie. »Weißt du, was das ist?«
Miro kramte sein Schulfranzösisch hervor. »Verbeugungen vielleicht?«
»Ja, so ähnlich. Ich zeige dir nachher, wie das geht. Ich würde mich so gern mal drehen, das heißt ›Pirouette‹, aber so weit sind wir noch nicht, sagt Herr von Braun.«
Den Namen ihres Ballettlehrers sprach Flora beinahe mit Ehrfurcht aus. Er war nicht direkt ein Star gewesen, aber doch ein bekannter Tänzer. Flora war stolz darauf, seine Schülerin zu sein. Seine Tanzschule hatte einen sehr guten Ruf, weit über die Stadt hinaus.
Flora hüpfte neben Miro her und berichtete ihm haarklein, wie die Stunde abgelaufen war. Er kannte das schon und hörte ihr geduldig zu. Er verstand noch immer nicht, was sie am Ballett so großartig fand, aber er hoffte, er würde es mit der Zeit herausfinden.
An der Ampel blieben sie stehen. Der Verkehr brauste an ihnen vorbei, unwillkürlich zog Miro seine kleine Schwester ein Stück vom Rand des Gehwegs zurück.
»Du brauchst keine Angst zu haben, ich gehe nicht bei Rot über die Straße. Weißt du, was wir in der Schule gelernt haben? ›Rotgänger, Totgänger‹. Kennst du das nicht?«
»Doch, ich glaube, das hast du mir schon mal erzählt.«
»Grün!«, rief Flora. »Los geht’s.«
Sie hüpfte jetzt vor ihm her, machte sich einen Spaß daraus, die Straße schneller zu überqueren als er. In diesem Augenblick zischte ein einsamer Fahrradfahrer auf einem Sportrad von links über die Kreuzung. Er fuhr weit vornübergebeugt, in ziemlich hohem Tempo. Als er das kleine Mädchen sah, versuchte er zwar noch zu bremsen und auszuweichen, aber es war zu spät. Er riss Flora zu Boden und schleifte sie noch einige Meter mit sich, bevor er selbst zu Fall kam. In hohem Bogen flog er über den Lenker auf die Straße.
Miro war in der nächsten Sekunde bei seiner kleinen Schwester. Floras Gesicht war blutüberströmt, oben an ihrer Stirn sah er eine klaffende Wunde. Auch Arme und Beine waren aufgeschrammt, aber das sah er nicht, er sah nur die Wunde am Kopf und das viele Blut. »Flora!«, rief er. »Flora, kannst du mich hören?«
Es dauerte ein bisschen, aber dann flatterten ihre Lider und sie öffnete die Augen. Wie klein sie in diesem Moment aussah – und wie blass sie war! »Flora!«
Jemand beugte sich zu ihnen hinunter, ein älterer Mann. »In der Querstraße da drüben ist eine Kinderarztpraxis, die ist an die Kayser-Klinik angeschlossen«, sagte er, »die haben neulich bei dem großen Busunglück schon erste Hilfe geleistet. Nehmen Sie die Kleine auf den Arm und bringen Sie sie dorthin, zur Not bringen die sie dann in die Klinik. Das geht schneller, als wenn Sie jetzt auf den Krankenwagen warten. Der Typ, der die Kleine umgefahren hat, ist bewusstlos, der läuft nicht weg. Die Polizei ist auch schon verständigt.«
»Danke«, stammelte Miro.
Der Mann half ihm, Flora aufzuheben. »Aber sagen Sie mir noch Ihren Namen«, bat er.
Miro diktierte ihm Namen und Telefonnummer, dann rannte er mit seiner blutenden kleinen Schwester über die Straße, auf der der Verkehr weitgehend zum Erliegen gekommen war.
Floras Augen waren wieder geschlossen.
*
»Was ist denn da los?« Carolin Suder, die junge Studentin, die Antonia und Maxi für die Praxisorganisation eingestellt hatten – eine ausgebildete Sprechstundenhilfe hatten sie bislang nicht finden können –, war aufgestanden und spähte hinüber auf die Kreuzung, an der sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet hatte. Sie sah ein Fahrrad am Boden liegen und einen Mann heftig gestikulieren. Zeigte er nicht sogar hierher, zur Praxis?
»Da könnte sich ein Unfall ereignet haben«, sagte sie zu Antonia, nachdem diese eine kleine Patientin und ihre Mutter verabschiedet hatte. Seit die Praxis offiziell eröffnet worden war, hatten sich jeden Tag mehr Patienten eingefunden. Häufig bekamen sie zu hören: »Endlich eine Kinderarztpraxis in der Nähe!« In der Tat hatten sie für die nächste Woche bereits einen gut gefüllten Terminkalender.
Nun spähte auch Antonia hinaus. Als sie sah, dass ein junger Mann mit einem Mädchen auf den Armen direkt auf die Praxis zulief, öffnete sie die Tür.
»Brauchen Sie Hilfe?«, rief sie dem Mann entgegen.
»Ja, meine Schwester ist angefahren worden. Ich … ich glaube, es geht ihr schlecht. Sind