in welchem kein Falsch ist“.
17.
Was tun wir also, Brüder? Sollte dieser der erste sein unter den Aposteln? Er wird nicht bloß nicht als der erste unter den Aposteln erfunden, sondern auch nicht der mittlere noch auch der letzte unter den Zwölfen ist Nathanael236, dem der Sohn Gottes ein solches Zeugnis gab, indem er sprach: „Siehe, wahrhaft ein Israelite, in welchem kein Falsch ist“. Fragt man nach der Ursache? So weit der Herr sie mitteilt, finden wir sie wahrscheinlich. Wir müssen nämlich erwägen, daß Nathanael gelehrt und gesetzeskundig gewesen sei; deshalb wollte ihn der Herr nicht unter die Jünger einreihen, weil er Unwissende erwählte, um durch sie die Welt zu beschämen. Höre den Apostel, der also spricht: „Sehet denn“, sagt er, „eure Berufung, Brüder; denn nicht viele Weise nach dem Fleische237, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme; sondern das Schwache vor der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zu beschämen, und was unansehnlich ist vor der Welt und verachtet, das hat Gott erwählt, und das, was nicht ist, wie das, was ist, um das, was ist, zunichte zu machen“238. Wenn ein Gelehrter erwählt würde, so würde er vielleicht sagen, er sei deshalb erwählt, weil seine Gelehrsamkeit erwählt zu werden verdiente. Da unser Herr Jesus Christus den Nacken der Stolzen brechen wollte, so hat er nicht durch einen Redner den Fischer gesucht, sondern durch einen Fischer hat er den Kaiser gewonnen. Groß war Cyprian der Redner, aber zuerst war Petrus der Fischer, durch den nachher nicht bloß der Redner, sondern auch der Kaiser gläubig werden sollte. Kein Vornehmer, kein Gelehrter wurde anfänglich erwählt, weil Gott das Schwache vor der Welt erwählte, um das Starke zu beschämen. Es war also jener groß und ohne Falsch; deshalb allein wurde er aber nicht erwählt, damit niemand meine, der Herr habe Gelehrte erwählt. Und eben von seiner Gesetzeskunde kam es, daß, als er hörte: „von Nazareth“ (denn er hatte die Schriften durchforscht und wußte, daß von dorther der Heiland zu erwarten war, was anderen Schriftgelehrten und Pharisäern kaum bekannt war) ―, dieser im Gesetze wohlerfahrene Mann also, als er den Philippus sagen hörte: „Wir haben den gefunden, von dem Moses im Gesetze geschrieben hat und die Propheten, Jesus von Nazareth, den Sohn Josephs“, da, als er den Namen „Nazareth“ hörte, wurde er, der die Schriften sehr gut kannte, zur Hoffnung aufgerichtet und sprach: „Von Nazareth kann etwas Gutes kommen“.
18.
Nun wollen wir das übrige von ihm erwägen. „Siehe, ein wahrer Israelite, in welchem kein Falsch ist“. Was heißt: „in welchem kein Falsch ist“? Vielleicht hatte er keine Sünde? Vielleicht war er nicht krank? Vielleicht hatte er keinen Arzt nötig? Das sei ferne. Niemand ist hier so geboren, daß er jenen Arzt nicht bedürfte. Was will es also sagen: „in welchem kein Falsch ist“? Forschen wir etwas sorgfältiger nach; es wird bald an den Tag kommen im Namen des Herrn. „Dolus“ (Falsch) sagt der Herr, und jeder, der die lateinischen Worte versteht, weiß, daß es eine Falschheit ist, wenn man anders handelt als man vorgibt. Eure Liebe merke auf. Dolus ist nicht dolor; ich sage dies deshalb, weil viele Brüder, die des Lateinischen weniger kundig sind, so reden, daß sie sagen: Dolus illum torquet, statt dolor. Dolus ist Trug, Verstellung. Wenn einer etwas im Herzen birgt und anders redet, so ist es dolus, und er hat gleichsam zwei Herzen: er hat eine Falte des Herzens, wo der die Wahrheit sieht, und eine andere, wo er die Lüge erzeugt. Und damit ihr wisset, daß dies Falschheit (dolus) ist, so heißt es in den Psalmen: „Falsche Lippen“ (labia dolosa). Was heißt das: „Falsche Lippen“? Es folgt: „Im Herzen und im Herzen haben sie Böses geredet“239. Was heißt das: „im Herzen und im Herzen“, als: mit doppeltem Herzen? Wenn also in jenem kein Falsch war, so hat ihn der Arzt für heilbar erklärt, nicht für gesund240. Denn etwas anderes ist gesund, etwas anderes heilbar, etwas anderes unheilbar; wer krank ist mit Hoffnung, heißt heilbar; wer hoffnungslos krank ist, unheilbar; wer aber schon gesund ist, bedarf des Arztes nicht. Der Arzt also, welcher kam, um zu heilen, sah jenen heilbar, weil kein Falsch in ihm war. Wie war in ihm kein Falsch? Wenn er ein Sünder ist, bekennt er sich als Sünder. Denn wenn er ein Sünder ist und sich für gerecht ausgibt, so ist Falsch in seinem Munde. Er lobte also in Nathanael das Bekenntnis der Sünde, nicht erklärte er ihn für keinen Sünder.
19.
Als darum die Pharisäer, welche sich für gerecht hielten, den Herrn tadelten, daß er sich als Arzt unter die Kranken mischte, und sagten: „Siehe, mit welchen er ißt, mit Zöllnern und Sündern“, erwiderte der Arzt den Unverständigen: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken; ich bin nicht gekommen die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“241. Das will sagen: Weil ihr euch für gerecht erklärt, da ihr doch Sünder seid, so haltet ihr euch für gesund, weiset die Arznei zurück, erlanget die Gesundheit nicht. Darum hielt sich jener Pharisäer, welcher den Herrn zum Mahle eingeladen hatte, für gerecht; jenes kranke Weib aber drang in das Haus ein, wohin es keine Einladung erhalten hatte, und aus Verlangen nach dem Heile keck geworden, trat sie hinzu, nicht zum Haupte des Herrn, nicht zu den Händen, sondern zu den Füßen; sie wusch sie mit Tränen, trocknete sie mit den Haaren, küßte sie, salbte sie mit Salböl, schloß als Sünderin Friede mit den Füßen des Herrn. Es tadelte jener gleichsam als Gesunder den Arzt, jener Pharisäer, der dort zu Tisch saß, und sprach bei sich: „Wenn dieser ein Prophet wäre, wüßte er, was für ein Weib ihm die Füße berührt hat“. Er vermutete aber deshalb, er kenne sie nicht, weil er sie nicht abwies, gleichsam um nicht von unreinen Händen berührt zu werden; er aber kannte sie, ließ sich berühren, um berührt sie zu heilen. Der Herr, der in das Herz des Pharisäers sah, legte ein Gleichnis vor: „Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfzig Denare schuldig, der andere fünfhundert. Da sie nichts hatten, um zu bezahlen, schenkte er es beiden. Wer hat ihn nun mehr geliebt? Und jener: Ich glaube, Herr, der, dem er mehr geschenkt hat. Und zu dem Weibe sich wendend, sprach er zu Simon: Siehst du dieses Weib? Ich trat in dein Haus, du hast mir kein Wasser für die Füße gegeben, sie aber hat mit ihren Tränen meine Füße gewaschen und mit ihren Harren getrocknet; du hast mir keinen Kuß gegeben, sie aber hat nicht aufgehört, meine Füße zu küssen; du hast mir kein Salböl gegeben, sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Darum, sage ich dir, werden ihr viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig“242. Das will sagen: Du bist mehr krank, aber du hältst dich für gesund; du meinst, dir sei weniger zu vergeben, da du doch mehr schuldig bist. Gut hat jene, weil in ihr kein Falsch war, die Arznei verdient. Was heißt das: in ihr war kein Falsch? Sie bekannte ihre Sünden. Das lobt er auch an Nathanael, daß an ihm kein Falsch war; denn viele Pharisäer, die voll Sünden waren, gaben sich für gerecht aus und trugen Falschheit in sich, weshalb sie nicht geheilt werden konnten.
20.
Er sah also bereits jenen, in welchem kein Falsch war und sprach: „Siehe, wahrhaft ein Israelite, in welchem kein Falsch ist. Da sagte zu ihm Nathanael: Woher kennst du mich? Der Herr antwortete und sprach: Ehe dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen“, d. h. unter dem Feigenbaum. „Es erwiderte ihm Nathanael und sagte: Rabbi, Du bist der Sohn Gottes, Du bist der König Israels“. Etwas Großes konnte dieser Nathanael darin erkennen, daß gesagt wurde: „Als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen, ehe dich Philippus rief“. Denn er machte diese Äußerung: „Du bist der Sohn Gottes, Du bist der König Israels“, wie geraume Zeit später Petrus, worauf der Herr zu ihm sagte: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jona, denn Fleisch und Blut haben dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist“243. Und da nannte er ihn Fels und lobte den Grundstein (firmamentum) der Kirche wegen dieses Glaubens. Dieser sagt schon jetzt: „Du bist der Sohn Gottes, Du bist der König Israels“. Warum? Weil zu ihm gesagt wurde: „Ehe dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen“.
21.
Es ist zu untersuchen, ob jener Feigenbaum etwas bedeutet. Denn höret, meine Brüder. Wir finden, wie ein Feigenbaum verflucht wurde, weil er bloß Blätter und keine Frucht hatte244. Als beim Beginn des Menschengeschlechtes Adam und Eva gesündigt hatten, machten sie sich aus Feigenblättern Schürzen245; unter