Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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rang. Ihre Wangen waren weiß, und Mund und Augen öffnete sie so weit, daß ich meinte, sie wolle »Sterben« spielen. Doch sie erhob sich wieder, sammelte keuchend und übereilig Blumen auf ihre Schürze und begann sie zu ordnen. Ich sprang auf und holte auch Blüten, soviel meine kleinen Hände zu fassen vermochten. Anna saß und beugte sich über ihre Hände. Sie neigte sich immer tiefer auf ihren Schoß, und ich konnte gar nicht begreifen, daß sie so still blieb, ob ich auch immerfort auf sie einredete. Ihre Hände lagen schon ganz unter einem Berge von Blumen verborgen. Doch sie rührte die Finger nicht fleißig und geschickt wie sonst, sondern sank immer mehr vornüber und fiel endlich lautlos zur Seite. Anfangs glaubte ich, es sei auf einen Schrecken abgesehen und warf von weitem meine Blumen auf ihr Gesicht. Weil aber nichts, selbst nicht Kitzeln und Stoßen, ihre Ruhe stören konnte, kam eine solche Angst über mich, daß ich laut zu weinen begann und davonlief.

      Noch ehe ich das Haus erreichen konnte, stieß ich gegen meine Mutter, die, deutlicher durch meine Aufregung als meine Worte, von dem unglücklichen Ereignis unterrichtet, an mir vorüber in den Garten stürmte, um bald, beladen mit der schlanken, welken Last, zurückzukehren und in der Kinderstube zu verschwinden. Ich, der ich nicht begreifen konnte, auf welche Weise meiner Schwester so übel mitgespielt worden war, fürchtete, es möchte irgend jemand einfallen, mich für das Unglück verantwortlich zu machen. Deswegen verkroch ich mich hinter einen Haufen grober Bausteine, die neben Murrs Hütte lagen, suchte mir den dunkelsten Winkel darin aus und fühlte mich geborgen, sowie ich recht von allen Seiten eingezwängt darin saß. Während ich nun, um auch von vorn gegen Eingriffe gesichert zu sein, mich bemühte, einen Stein gegen meine Füße heranzuziehen, kam mir unversehens ein schrecklicher Gedanke. Meine Schwester hatte gezittert, als ich ihr von dem wilden Winde erzählte, vielleicht war sie gar aus Angst darüber umgefallen, und mich allein traf die Schuld an dem Unglück. Gleich darauf hörte ich die Mutter und dann den Vater nach mir rufen; ihre Stimmen irrten im Hause und dann im Hofe umher, kamen gegen den Garten, und je deutlicher ich das schmerzliche Beben in dem Tun hörte, um so furchtbarer erschien mir das Ereignis, das ich angerichtet hatte, und um so fester war ich entschlossen, mich nicht zu melden. Ich zog den Kopf ein, schloß die Augen, und als die Rufe mir gar zu weh taten, stopfte ich die Finger in meine Ohren. So sah ich lange zusammengeschnürt in einer brausenden Nacht. Vielleicht bin ich gar eingeschlafen. Als ich die Augen zu öffnen wagte, war ich entsühnt und dachte, wenn ich jetzt einen Strauß Blumen pflücke und sie meiner Schwester bringe, sei alles wieder gut. Die Blüten, die auf Annas Händen und Gesicht gelegen hatten, wagte ich aus Scheu nicht anzurühren. In großem Bogen ging ich um die Unfallstelle herum und wanderte dann, mein Sträußchen krampfhaft hinter dem Rücken verbergend, dem Hause zu. Annas Bett in der Kinderstube war zerwühlt, aber leer. Furchtsam schlich ich aus dem engen, schummerigen Raume und stand eine Weile auf dem kleinen Flur unschlüssig, ob ich der Beklemmung nachgeben, das Bukett eilig hinwerfen und fortlaufen solle, immer geradeaus, irgend wohin, daß ich nichts mehr sehe und höre, oder ob ich einem Schmerz gehorche, der mich in der Kehle würgte, und laut aufschluchze. Indem ich kleine fliehendsäumige Schrittchen machte, hörte ich aus der Stube der Großmutter gedämpfte Stimmen. Das Zimmer lag unserer Schlafstube gegenüber und wurde immer verschlossen gehalten. Nur der Vater betrat es manchmal im Dämmern von Sonntagsabenden, schloß hinter sich zu und erschien dann gerader und ernster als sonst. Deswegen war dieser geheimnisvolle Raum für uns Kinder der Inbegriff alles Begehrenswerten, und unsere Sehnsucht, die mehr aus Schauer als glückvoller Erwartung bestand, trieb uns gar oft an das Schlüsselloch, durch das wir, wenn mit dem Auge nichts zu erreichen war, hineinbliesen oder wohl gar Strohhalme hineinsteckten, um dann unter Herzklopfen zu warten, ob sie nicht von Geisterhänden weggezogen würden. Jetzt aber war der Tür, die gerade vor mir lag, wenn ich mich nur ein wenig herumwandte, ein gut Teil ihrer schreckhaften Besonderheit genommen, denn ein Schlüssel steckte in dem Schloß wie in allen andern und hielt gar seinen Griff verlockend schief, als sei es von ihm darauf abgesehen, daß ich hingehe und ihn vollends herumdrehe. Aber mein Mut, stark genug, diesen Gedanken zu fassen, reichte nicht hin, ihn auszuführen, und so ließ ich mich auf der Schwelle nieder, rückte recht bescheidentlich in die Ecke und faßte mein Sträußlein fest mit beiden Händen, in der Absicht, es bei ihrem Heraustreten Anna zu reichen, damit sie mich zu sich hineinnehme mitten in die Geheimnisse der Großmutterstube. Denn seit dies Unbegreifliche sich an meiner Schwester ereignet hatte, war der Bereich ihres Lebens gewachsen, mir köstlich, tief und wundersam geworden. Ein weniges hatte ich erst in meinem Eckchen gesessen, da ging die Tür auf, und eine wohltuend tiefe Männerstimme rief gedämpft: Ah, da sitzt ja wohl der kleine Ausreißer! Mutter und Vater traten auch herzu und wollten nun von mir wissen, wie es zugegangen sei, daß Anna unter den Strauch gefallen war. Ich klemmte meine Blumen fest zwischen die Knie und schwieg, obwohl sich jedes nach seiner Art bemühte, mich zum Sprechen zu bringen: Der Vater mit strengem Gebot, die Mutter mit Liebkosungen, der fremde Mann durch gütiges Zureden. Es war umsonst. Ich durfte doch nicht sagen, sie sei von meinen Windgeschichten so erschrocken. Aber als der unbekannte Mann sein Gesicht so nahe zu mir herneigte, daß ich nichts sah, als einen langen braunen Bart und zwei forschende Augen hinter großen Brillengläsern, verließ mich meine Standhaftigkeit, und ich wirbelte in Angst alles heraus von dem Winde, den Sternen, Blumen, Wolken und Totenengeln, von Sebalds Hacke und seinem Begräbnis. Inzwischen beteuerte ich immer und immer wieder, daß ich meine Schwester nicht umgestoßen habe, und da es mir nicht entgangen war, welch günstigen Eindruck meine Verteidigungsrede auf alle hervorgebracht hatte, stand ich am Ende auf und versuchte, zu Anna hineinzuschlüpfen. Der Fremde hielt mich zurück und sagte, wenn ich meine Schwester nicht schlafen lasse, so werde sie sterben, und ich selbst könne auch krank werden. Mutter schloß die Tür ab, nahm den Schlüssel an sich, und die drei gingen stumm die steile Steintreppe hinunter. Ich blieb in meiner Ecke sitzen, und als drunten aus der Werkstatt meines Vaters Hammerschlag ertönte, hob ich mich auf die Zehen, klopfte vorsichtig an die Tür und rief leise den Namen meiner Schwester. Ich rief sie immer dringender mit all den Kosenamen, die sie so gern hatte. Es blieb totenstill, meine Stimme klang mir fremd und ängstigend, und das Schlüsselloch stierte böse und drohend auf mich. Deswegen legte ich die Blumen auf die Schwelle und flüchtete in den Garten. Das Gras lag an der Stelle, wo meine Schwester umgesunken war, noch eingedrückt, die Blumen welk und wirr. Die Baumstämme steckten gleich schwarzen Pfählen in der Erde. Kein Vogellied klang mir; es war alles fremd und leer. Nur Murr kletterte an mir herauf. Seine Kette klirrte schwach, und er sah mich mit seinen braunen Augen bittend an. Darum setzte ich mich, da, wo ich stand, ein paar Schritte hinter dem Pförtchen, zu ihm ins Gras. Er legte sich neben mich, und ich hielt ihm meine Hände hin. Als seine weiche, warme Zunge über sie leckte, brach plötzlich all der Schmerz, der dunkel und schwer auf mir lastete, los, daß ich bitterlich weinen mußte.

      In derselben Nacht hatte ich einen Traum, der mir immer als Beweis gilt, daß wir in jenen unergründlichen Tiefen der Seele, aus denen die Gesichte des Schlafes steigen, nicht nur teil haben an aller verborgenen Gegenwart, sondern auch unter den Schatten der Zukunft erschauern.

      Ich saß mit meiner Schwester Anna im ungewissen Lichte des niederen Bodens unseres Hauses und trieb mit ihrer Hilfe einen Kreisel über die ausgetretene Diele hin. Manchmal tanzte er rechts in das Dunkel hinein, aus dem die steile Holzstiege in den oberen Boden kletterte, manchmal fuhr er direkt gegen den Ausgang hin, um uns ins Freie zu entrinnen. Dabei stürzte er aber den Absatz hinunter, den er nicht gesehen hatte, sprang zuckend, als sei er verwundet, einigemal auf und ab und blieb dann ganz still liegen. Das machte mir ganz besonderen Spaß, und ich trieb ihn mit Absicht immer nach der Tür hin. Anna aber bat mich, davon abzulassen, denn wenn der Kreisel zu oft den Absatz hinunterhüpfen müsse, dann werde er sterben.

      Sie saß halb im Dunkel der Bodenstiege, trug ein weißes Kleid und hockte auf ihren untergeschlagenen Beinen. Das Dachfenster warf einen weißen, bebenden Lichtfächer in die Dämmerung über uns. Aus Trotz hatte ich den Kreisel doch wieder über den Absatz geschlagen und warf ihn nun mit übermütigem Lachen hinauf in den hellen Kreis vor den Schoß meiner Schwester. Sie erschrak davon so heftig, daß sie mit erbleichendem Gesicht sich jäh aufrichtete und starr auf den Kreisel sah. Dieser begann sich zu meinem Erstaunen plötzlich selbst zu drehen, erst langsam mit kaum vernehmbarem Geschnurr, dann schneller mit immer stärkerem Brummen, endlich raste er mit solcher Eile über die Diele, daß er ein hohes, schneidendes Heulen hervorbrachte. Von irgendwoher hörte ich das unbarmherzige Klatschen einer Geisel. Zugleich spritzten blasse Funken aus