der beklemmten Brust reißen konnte, wirbelte der ganze Niederboden, das Dach, die Stiege, die Kammertüre und die hölzerne Mangel in der Ecke rundumher. Meine Schwester streckte hilfesuchend die Arme nach mir aus, wurde aber von dem schrecklichen Tanz ergriffen und fortgerissen. Die Wucht der Drehung zog ihren Leib immer länger auseinander. Ihr Gesicht war blaß und tief eingesunken, die blauen Augen schmerzvoll weit geöffnet. Jedesmal, wenn die unsichtbare Geisel klatschend niederfuhr, ging ein Zucken durch den langen, dünnen Leib. Endlich entzündete sich das Kreisen noch mehr, es ward ein brennender Trichter, in dem Anna umhergetrieben wurde. Mit dem Pfeifen der Windsbraut verschwand alles in die Höhe. Nur die Augen meiner Schwester hingen noch lange in der Luft und schimmerten in großer Liebe auf mich nieder, bis sie mit ganz leisem Wehlaut auch erloschen. In Angst erwachte ich. Aus dem Garten ertönte das lange, klagende Heulen unseres Hundes, endete wimmernd, setzte schwach ein und schwoll dann wieder laut an, daß es klang wie der verzweifelte Schrei eines fernen Menschen.
Am Morgen war meine Schwester tot; in wildem Fieber, wie in Flammen, war sie gen Himmel gefahren. Die Blumen lagen zertreten und verstreut um die Schwelle. Dann kam eine alte, häßliche Frau und kehrte sie zusammen. Sie richtete nach manchen Besenstrichen den vielhöckerigen Leib auf und brach in ohnmächtig brodelndes Husten aus, schrumpfte ein und kehrte unter fortwährendem Murmeln wieder weiter. Mich überkam ein schmerzender Zorn, als ich das sah, und da sie die Blüten, die nun wie grüner Unrat aussahen, auf der Schaufel in den Müllkasten auf dem Hofe trug, schlich ich mich hinter sie und gab ihr einen Stoß, daß ihr Kopf ein wenig gegen den Deckel des Kastens fuhr. Mit rotgeränderten Äugen und Schimpfwort«« vertrieb sie mich. Doch ich fühlte weder Furcht noch Reue, auch als mir Mutter diese Unart verwies, sondern empfand im Gegenteil eine starke Genugtuung.
»Warum hat sie der Anna die Blumen verdorben«, sagte ich trotzig.
Das war in der Werkstelle, die zugleich unser Wohnzimmer bildete. Ich saß am Tisch hinter meinem Töpfchen Milch; der Vater füllte ein großes Lederkummer mit Stroh. Auf meine Worte brach die Mutter in Tränen aus und setzte sich auf die Ofenbank. Der Vater unterbrach seine eifrige Tätigkeit und blickte sie ernst an.
»Laß das Weinen sein; sie muß Ruhe haben«, sagte er dann, und sein Gesicht erblaßte dabei.
»Warum haben wir sie in die Stube der Mutter gelegt«, antwortete sie.
»Nicht wahr, damit auch die andern noch krank würden«, erwiderte der Vater.
»Auch. – du weißt ja selbst, daß es nicht gut war«, entgegnete die Mutter.
Der Vater aber antwortete darauf nicht, sondern ergriff den Schlägel und hieb aus Leibeskräften auf das Kummet. Er ließ nicht nach, obwohl es schon dünn wie ein Kuchen war. Plötzlich warf er alles von sich und trat an das Fenster, das die Straße hinuntersah bis zu dem roten Wasserturm. Er stand hoch aufgerichtet und stemmte die Knöchel seiner großen Fäuste auf den Werktisch.
Mich beklemmte das Schweigen meiner Eltern. Ich glitt vom Sofa und spielte mich zur Tür hinaus. Keines wußte, daß ich die abergläubische Furcht meiner Mutter verstanden hatte, und ich mochte es ihnen nicht sagen, sondern ging in den Hof auf den Sandhaufen. Und während ich saß und immer den Sand aus meinen Händchen rinnen ließ, sann ich darüber nach, wie es möglich wäre, daß Anna in meinem Traume feurig in die Höhe gefahren, nach ihren eigenen Worten vom Engel geholt und zugleich nach der Meinung meiner Mutter von der Ahne getötet worden sei. Murr machte so kluge Augen, als wisse er es, ruckte an der Kette und mühte sich dann bis an den Zaun, streckte die Schnauze durch das Staket und schnob so sehr durch die Nase, daß sich davon der Staub auf der Erde rührte. Aber ich mochte ihn weder fragen, noch traute ich mich in den Garten. Denn wenn ich lange auf den Hund sah, so hatte er das Gesicht eines alten Menschen, und ich mußte mich wegwenden, weil mir die Furcht kam, er könne meine verzauberte Großmutter sein. Durch die Bäume hingen durchsichtige Nebel wie ausschwebende Gewänder. Ein Brausen war in der Höhe, wo die Sonne wie ein kreisender Feuerwirbel stand. Alles um mich ward ein buntes Schwinden und Auftauchen. In dieser grenzenlosen Unsicherheit fand ich kein Entscheiden zu einem Spiel: das eintönige Greifen und Rinnenlassen des Sandes entsprach zu sehr dem Nahen und Verwehen aus Unergründlichkeiten in Unergründlichleiten, das um mich und in mir lebte und doch nie die eindeutigen Züge eines schon Geschauten trug. Es ist ja wahr, unsere Jugend hat den Sinn, den ihr unser späteres Leben gibt, und Erinnerung und Vorgang eines Erlebnisses sind zwei verschiedene Erfahrungen. Aber ich täusche mich doch nicht über jene Empfindungen aus früherer Kindheit, die, lange vergessen, mir erst vor Tagen deutlich geworden sind. Von meinem Schulfenster aus beobachtete ich das versunkene Spiel eines kleinen, noch berockten Jungen am Schulbrunnen. Er fing das vom Steintroge triefende Wasser in seinen Händchen auf und ließ es wieder laufen. Die ganze Lebhaftigkeit seiner bunten Einbildungen spiegelte sich aus dem Gesicht und den Gebärden. Plötzlich sanken seine Händchen in den Schoß; wie unter dem Einfluß eines Schreckens saß er regungslos, das Gesicht bekam den Ausdruck tiefer Melancholie, und die Äugen wurden unbeweglich, blicklos und fernhingebunden, wie die eines alten, zerschellten Menschen, der rundum nichts als Trümmer und Ratlosigkeiten sieht. Nichts Schreckhaftes oder Störendes war um ihn: das Mailicht spielte zitternd über den Stufen, die summende Wolke der Bienen stäubte um die blühenden Kronen. Wie ich dem Grunde der seltsamen Verwandlung dieses Kindes nachsinne, sehe ich mich plötzlich als kleinen Jungen im Hofe meines elterlichen Hauses sitzen und Sand mahlen und wußte, was an mir in jener Stunde geschehen ist. Die grauen Tücher des Todes wehten um mich. Da habe ich nicht weinen können, denn Tränen kommen uns erst, wenn der Schmerz ins Enge spielt.
Das Begräbnis Annas befreite mich von dieser großen Verlassenheit. Meine Schwester lag in einem weißen Sargbett im Hause und schlief einen tiefen, schönen Schlaf unter Blumen. Die vielen Leute, die herbeikamen, vermochten sie nicht zu wecken, obwohl alle herzutraten und aus einem Teller ihr Wasser in das Gesicht spritzten. Sie warteten immer ein wenig und sprachen leise zu ihr. Dann gingen sie in die Stube, deren Tür weit ausstand und aßen von den großen Bergen Kuchen. Dazu tranken sie Kaffee aus Krügen, die nie leer wurden. Alle sprachen, es sei schade »um das junge Ding«. Davon wurden sie immer hungriger, lobten das gute Gebäck, und ein alter Mann mit einem langen Rocke weinte immerzu und hörte gar nicht auf zu essen. Ich war sehr stolz, daß so viele Menschen zu meiner Schwester kamen. Nur ärgerte es mich, daß jeder sie mit Wasser bespritzte. Endlich mochte das auch meinem Vater zuviel sein. Denn er gab einem Manne ein Zeichen. Dieser deckte einen schönen Deckel auf sie, an dem rings weiße und rote Quasten hingen, die rund wie Murmeln waren. Dann schraubte er ihn fest, damit ihn niemand mehr herunternehmen und meine Schwester erschrecken könne. Die Schrauben quietschten ein wenig im Holz. Da weinten alle, die so 'was nicht hören konnten, am meisten meine Mutter. Man mußte sie gar halten; sonst wäre sie umgefallen. Ich machte mir aus dem Quietschen gar nichts, sondern zählte die weißroten Kügelchen am Deckel und dachte, wenn ich mir alle nehmen könnte, so hätte ich wohl zwei Hosentaschen voll. Plötzlich liefen die Leute vor dem Hause und auf den Stufen: »Sie kommen!« und alle, die nahe am Sarge standen, traten etwas Zurück. Der alte Mann in der Stube hörte auch auf zu essen und kam gegen die Tür, sich mit einem geblümten Taschentuch die Stirn wischend. Dort versteckte er sich hinter dem breiten Rücken meines Vaters, der, noch gerader als sonst, alle überragte und mit blassem, finsterem Gesicht den Sarg betrachtete. Meine Mutter weinte nicht mehr so sehr. Mir zur rechten Hand hatte sich der Dorn-Schuster eingefunden, der an vielen Abenden zu meinem Vater kam und mit ihm plauderte. Er hielt seinen hohen Hut mit beiden Händen gegen den Leib gepreßt, weinte still vor sich hin, bewegte fortwährend die Lippen und nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Der Dorn Robert, sein großer, rothaariger Junge, aber betete gar nicht, obwohl er dem Vater bis über die Achseln ging, sondern starrte auch immerfort auf die schönen Kugelquasten. Deshalb stieß ihn der alte Dorn manchmal mit dem Arme in die Seite, bis der häßliche Junge von ihm wegrückte, gegen den Tischler Rinke hin, der krumm, mit vorgeneigtem Gesichte und ein wenig spöttisch eingekniffenem Auge von einem zum andern sah. Der Geistliche saß schon eine Weile in seinem weißen Hemde, rechts und links Ministranten, und sprach mit lauter, langer Stimme aus seinem Buch. Ein anderer Mann, dem ein weißer Bart aus dem Gesicht weit über den Nock herunterhing, machte es dem Geistlichen genau nach, wenn er aufhörte. Ich achtete auf all das aber nur halb, sondern richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf Dorn Roberts Hände. Mir war es nicht entgangen, daß er immer näher an den Sarg