Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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fest eingeschraubt schlief und sich nicht wehren konnte, die schönen Kugeln wegzunehmen. Und wirklich: Als Knaben und Mädchen anfingen zu singen und wegen des traurigen Liedes alle in schmerzliche Bewegung gerieten, riß er schnell eine Handvoll Kugeln ab und steckte sie ein. Aus Schmerz über diesen Diebstahl an Anna, und weil ich sie selbst gern gehabt hätte, begann ich so laut zu weinen, daß ich das leise Schluchzen der andern und das Lied übertönte und konnte durch nichts beruhigt werden. Endlich führte mich ein Mädchen fort, hinauf in den Garten. Weil sie schön angezogen war und lieb zu mir redete wie meine Schwester, ging ich mit ihr.

      Nach jenem Begräbnis begann ich meine Mutter zu sehen, vorher habe ich von ihr gelebt wie von der Sonne, der Luft, dem Wasser. Nun trat sie in mein Leben, noch nicht mit ihrem Schicksal, sondern als gütiger, liebegebender Mensch, dem jener sinnige Ernst und die etwas schwermütige Frohheit zu eigen war, die sie, wie meine Schwester Anna, geschickt machte. Anteil an meiner kindlichen Betrachtsamkeit zu nehmen und, soweit es ihre Zeit erlaubte, auf meine Fragen zu antworten. Unermüdlich trabte ich hinter ihr her, von Stube zu Stube, über die Stiegen, durch die Kammern, saß neben ihrem Waschfaß oder am Herde und spann meine einsamen, bunten Spiele, gefördert durch einen Blick, geleitet von einem Zuruf. And doch war mir Anna noch nicht entschwunden. Sie bildete noch lange die Gefährtin all meiner Unternehmungen. Ich redete zu ihr, schickte sie da- und dorthin und erduldete es ohne Schmerz, wenn sie vor mir zerrann. Denn ihr Tod war mir nichts als eine Verwandlung, eine andere Eigenschaft ihres Lebens. Nur auf die Tür der Großmutter-Stube, auf deren verhangene Fenster, durfte ich nicht sehen. Dann befiel mich jedesmal ein Bangen, ein so schmerzvolles Gefühl des Einsamseins, daß ich laut zu singen begann, und immer geriet ich durch diese langen, leidenden Töne, die ich hinausschrie, auf den Gedanken, Begräbnis zu spielen. Eine Schachtel, ein Kästchen, ein großer Stein stellte Annas Sargbett vor, kleine Steinchen, wirr und dicht umhergelegt, bildete das Grabgeleit. Ich klemmte mein Taschentuch am Halse fest, und so angetan mit dem schönen Spitzenhemd, sang ich tief und feierlich, oder rauh und laut, oder dünn und hoch, je nachdem ich dem Vorgange gemäß als Geistlicher, Kantor oder Singschule zu wirken hatte. Kaum daß mir die ersten Töne gelungen waren, verwandelte sich alles: ich sah in Wirklichkeit den Dorn-Schuster, den Rinke-Tischler, meine Eltern und alle Leute, roch die Zitronen in der Hand der Träger, hörte das Klirren des Sprengwedels, und meine Schwester lag in den Blumen, blaß und tief schlafend. Aber wie mein Gesang leidenschaftlicher wurde, verwandelte sich Anna, öffnete die Augen, stand aus dem Sargbett auf und wandelte hin. Die Kraft meiner Töne heftete Flügel auf ihren Rücken, und bald hob sie mein hohes, unermüdliches Lied auf, leitete sie ins Gewölk und führte sie endlich ins unergründliche Himmelsblau. In diesen Augenblicken war sie mir deutlicher und schöner als je zuvor. Darum übte ich dies Spiel immer von neuem, zuletzt auch ohne die schreckhafte Veranlassung durch Großmutters Stube. Ich nannte es auch nicht mehr Begräbnis, sondern das »Annaspiel«. Was Fernhintragendes in mir lebt, wurde in jenen Stunden geboren, die mir alle Weiten nahe und freundlich machten. Meine beiden Geschwister hänselten mich wegen dieses geistlichen Spiels und gaben mir den Namen Pastor. Dies taten sie wohl auch, weil ich immer lenksam, fromm und vertraglich war. Obwohl meine Mutter mich und mein Spiel vor ihnen zu schützen sich bemühte, wagte ich bald nur an verborgenen Orten Anna in den Himmel zu singen, und endlich begnügte ich mich damit, solange in die Höhe zu schauen, bis über mir in der Luft ihre schönen, stillen Augen erschienen und auf mich niedersahen.

      Sie sind mir geblieben in all den Jahren bis heutigen Tages. Wie oft leuchteten sie in unruhvoller, schlafloser Nacht vor mir auf und geben mir auf geheimnisvolle Weise ein kindliches Vertrauen in diesem zerstückten Leben.

      Die Augen, die Augen... ich glaube, es wird nichts nützen.« –

      Faber sah starr auf die Tür, als ob wer dastände, ihn bannend, von ihm gebannt.

      »Aber sie hat doch braune Augen«, sagte ich.

      Doch er hörte mich nicht in seiner Selbstversunkenheit, sondern fuhr fort: »Irgendwo, irgendwann ist mir etwas Notwendiges aus der Hand geglitten, und nun zeugt alles in mich hinein, wahllos und geil, und mein Glaube ist ohne Unterscheiden. Was irgend Klang, Farbe oder Rhythmus meiner Vergangenheit weckt, wirkt in mir, wirkt mich.«

      »Ich verstehe dich nicht«, sprach ich dürr.

      »Die tiefsten Worte sind auch nicht zu verstehen, sie sind nur zu glauben wie die Musik. Wir werden gespielt, es spielt aus uns, Kastner! Siehst du, ich wollte etwas anderes aus meiner Kindheit holen, einen silbernen, frohen Ton. Statt dessen weben diese weißen Mondschleier um den Bäumen, aus fast versunkenen Zeiten herstammend, das Huschen einer Seele um mich, von der ich nichts wollte und will, und doch lebt sie von mir wie der Atem meines Mundes. Allein ihre vollkommene Abhängigkeit von mir ist die Macht über mich. Spürst du nicht auch diese rätselhafte Verwandtschaft? Als sei die verwehte Seele meiner Schwester ins Leben zurückgekehrt und diene und glänze um mich in der Gestalt dieses zierlichen, stillen Mädchens. Und im tiefsten ist es nicht sie, sondern durch sie eine andere. – Die andere – ja...«

      »Das ist wohl Liese, der du die Garnhucke getragen hast«, sagte ich, nicht ohne heimliche Schadenfreude, ihn in seiner Verstiegenheit zu verwunden, und doch auch mit leisem Schmerz.

      »Ganz recht, sie ist es. Aber es leben zehn gleiche schwächliche, machtlose, bedürftige Mädchen ihres Alters in Wecknitz. Warum mußte ich mich ihrer gerade annehmen?«

      Ich lächelte ein wenig malitiös und antwortete: »Nun, aus dem uralten, neuen Grunde vielleicht.«

      »Kastner, ich wollte, es wäre Liebe«, sagte er. »Aber sie ist es noch nicht und ist es schon nicht mehr. Ich bin dessen nicht fähig. Und dann soll sich das Schicksal meines Vaters und meiner Mutter nicht wiederholen. Wenn es nicht anders sein darf, gehe sie an mir, aber nicht durch mich zugrunde. – Denn da ist noch etwas Finsteres ..., das stärker sein muß als mein stärkster Wille ...«

      »Du wirst fühlen, daß ich dich nicht verstehe«, sagte ich, um ihn dem Bohren zu entreißen.

      »Nein, nein! Das führt zu nichts. Es ist besser, ich erzähle weiter.

      Eine Reihe der folgenden Jahre, so vielfältige Veränderungen sie auch brachten, ging ohne tiefe Eindrücke an mir vorüber. Was ich aus ihr weiß, klingt von später und von anderen hinein, nicht aus mir. Der französische Krieg warf nur schwache Wellen in unser verlorenes Gebirgsstädtchen Heisterberg. Aber nach dem Siege schwamm ein Zucken des Milliardenrausches auch über unsere Dächer, wirbelte Staub aus alten Winkeln, riß Spinnweben von verträumten Augen und jagte die Leute eiliger durch die Straßen, in vielfältige Unternehmungen, vor denen sie sich sonst gewiß ängstlich gehütet hätten. Die meisten waren wohl der Meinung, ein wenig Wagemut und Skrupellosigkeit reiche hin, ihnen einen Teil der Reichtümer zu verschaffen, die plötzlich auf allen Straßen lagen. Die neue Eisenbahn, die man seit vierzig Jahren projektiert hatte, sollte endlich an der Neiße hin, nach der nahen Grenze geführt werden. Es war klar, daß dann der südöstliche Teil des Städtchens allen Verkehr auf sich ziehen mußte. Die Wiesenstraße lag auf der entgegengesetzten Seite, dort, wo die kleinen, ärmeren Häuser zögernd in stillen Reihen in die wellige Ebene hinausliefen. Die meisten waren unscheinlich, verhutzelt vor Alter und hätten in manchem Dorf durchaus kein Aufsehen erregt. Mein Vater sah ein, daß unter den neuen Verhältnissen diese Gegend noch mehr veröden müsse. Rasch und entschieden wie sein Gang waren auch seine Entschlüsse. Während die meisten sich noch an der wohligen Unruhe der Vermutungen und Befürchtungen gütlich taten, schloß er in einer Nacht den Kauf eines Hauses am Burgberge ab, und bald standen wir mitten im Trubel des Umzuges. Die an sich gewiß löbliche Sorge um das wirtschaftliche Wohl seiner Familie war nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund, warum er der alten Herdstelle untreu wurde. Wenn er auch alles in seiner breiten Brust verschloß, so war ich außer der Mutter wohl der einzige, der etwas von seiner geheimen Absicht erriet. Auch die Großmutterstube erlag der allgemeinen Auflösung, und wir Kinder, deren emsige Helferdienste mehr hinderten als fördersam waren, stürzten uns mit einer wahren Gier in den Raum, der so lange das Ziel unserer Sehnsucht gewesen war. Noch heute, wenn mich die modrige Luft stets verschlossener Zimmer trifft, liegt deutlich diese niedrige, lange Stube vor mir, die von der nahen, weißen Wand des Nachbarhauses ein lebloses Licht erhielt, in dem die wenigen Möbelstücke in fast drohender Stille standen, daß wir Kinder erst über