Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


Скачать книгу

zog er mich von der Ritsche und beugte sich zum Fenster hinaus. Sogleich rief auch schon der Bürgermeister: »Guten Tag, Meister Faber, ach, kommen Sie doch mal runter!« Mein Vater tartschte lachend die Mutter auf die Schulter und sagte: »Na also, Weib!« Die ersten Stufen nahm er laufend, auf dem zweiten Flur mäßigte er seine Eile, die nächste Stiege legte er säumend zurück und trat endlich in gemächlicher Festigkeit hinaus auf die Straße zu den Wartenden. Ich war ihm unbemerkt gefolgt, wagte mich aber nicht gleich hinaus ins Freie. Plötzlich lachte mein Vater laut auf. Da war ich draußen und lehnte von ungefähr an der Wand des gegenüberliegenden Pferdestalles, den dreien im Rücken.

      »Die Mauer da?« fragte mein Vater mit beißender Lustigkeit und deutete auf die ummauerte Senkgrube mit dem sehr schadhaften Bretterbelag.

      »Jawohl, das muß weg, auf jeden Fall, Herr Faber, da wäscht Sie kein Regen ab.«

      »Mich braucht kein Regen zu reinigen und auch sonst kein anderer. An der Grube aber rücke ich keinen Stein. Mir paßt sie noch, und wenn sie Ihnen nicht gut genug ist, dann meinetwegen ändern Sie's auf Ihre Kosten; aber stören Sie mich nicht im Geschäft.«

      Auf diese Worte ergoß sich Herr Schrader in langer Rede. Anfangs dämpfte er sein Organ, aber je mehr der Stadtgewaltige sich zügelte, desto mehr wuchs seine Erregung, und weil der Ratmann dastand und auf seine Stiefeln hinuntermurmelte, anstatt mutvoll für das Ansehen der Stadt einzutreten, wurde er immer blasser, immer dünner, immer länger, verlor endlich seine Beherrschung und blies meinem Vater etwas wütend unter die Nase, was ich nicht verstehen konnte, so nahe ich mich auch an die Gruppe laviert hatte.

      »Erregen Sie sich doch nicht, Herr Bürgermeister«, sagte mein Vater und berührte lächelnd mit der Hand seine Schulter. Der Angeredete wich mit deutlicher Mißachtung zurück und sagte drohend: »Vergessen Sie sich nicht!«

      »Haben Sie keine Angst. Vor Ihnen steht der Sattlermeister Faber und nicht Ihre Frau«, sprach mein Vater jetzt mit ruhiger Kälte und richtete sich kerzengerade auf. »Solange es Ihnen in Milkes Haus nicht stinkt, solange schadet Ihnen auch wohl nicht der Geruch aus meiner Latrine.«

      »Herr Ratmann, Sie sind mein Zeuge! Was meinen Sie, Herr Sattlermeister Faber, mit Milkes Haus?« fragte der Bürgermeister flüsternd und blaß bis in die Zähne.

      »Es stinkt«, beschied ihn mein Vater gelassen. Dann setzte er hinzu: »Sie sind der Herr der Stadt, gewiß; aber nur bis an die Traufe meines Hauses, und damit, holla!«

      Er lüftete seine Mütze und verschwand unter der Tür. Der Bürgermeister stach mit langen Beinen davon, ohne sich nach dem Ratmann umzusehen, der gedrückt und kopfschüttelnd folgte.

      Ich war damals weit entfernt davon, den Worten meines Vaters, die den Bürgermeister und seinen Begleiter in die Flucht schlugen, einen tieferen Sinn unterzulegen. Dazu trugen in jener glücklichen Zeit alle Dinge und Menschen für mich nur eine harmlos-glückliche Physiognomie, und mein Vater erschien mir als der Mittelpunkt des Lebens. So fand ich es nur zu natürlich, daß meinem Vater ein Fremder ebensowenig widerstehen könne als sonst jemand in unserer Familie. Erst später erfuhr ich, daß die tatenlustige Frau Schrader den Gemahl in einer kläglichen Knechtschaft hielt, wofür sich das Stadtoberhaupt an den Likören und Delikatessen in der Kaufmann Milkeschen Hinterstube schonungslos und gratis rächte, obwohl es aus allen Mundwinkeln der Stadt troff, der Chef des Hauses »Milkes sel. Witwe und Sohn« stehe in verbrecherischen Beziehungen zu seiner verwitweten Tochter. Das junge, kapriziöse Weib hatte nämlich im zweiten Jahre nach ihres Mannes Tode im Vaterhaus ein Kind geboren und sich geweigert, den Namen des Erzeugers anzugeben. Allerhand rätselhafte Andeutungen über okkulte Mächte, denen sie hatte gehorchen müssen, hatten die Stadt dahin gebracht, an blutschänderische Beziehungen zwischen Vater und Tochter zu glauben, trotzdem nichts zu beweisen war, als daß der einsame, wunderliche Alte seitdem sich ganz verborgen hielt und fast nur mit seinem Kinde hinter verschlossenen Türen oder in dem weiten, verwilderten Garten hinter dem Hause lebte. Dort sahen argherzige Späher die beiden oft innig verschlungen auf der Bank sitzen, und der Vater bemühte sich mit unermüdlichen Liebkosungen, seine Tochter von einer unheilbaren Trauer abzubringen, die sich dann und wann in einer Flut von Tränen und lauten Verwünschungen entlud. Sie riß sich in solchen Augenblicken wohl auch mit allen Zeichen des Entsetzens aus den Umarmungen ihres Vaters und eilte laut jammernd an das Grab des früh verstorbenen Kindes ihrer geheimnisvollen Schande. Dies war tief im Garten unter einem weitschattenden Nußbaum begraben worden. Dort warf sie sich dann nieder und wühlte ihre weißen, langen Hände tief in die Erde des kleinen Hügels. Anfangs war die Aufregung des Volkes über diesen schändlichen Zwang, in dem Milke das arme Weib hielt, so groß, daß nächtlich sein Haus mit Kot beworfen wurde und ein Hagel anonymer Denunziationen die Polizei bombardierte. Seit aber der Bürgermeister sich des verfemten Hauses angenommen hatte und Tag und Nacht vor vollen Flaschen und überladenen Schüsseln sich das endlose Murmeln des Ausgestoßenen anhörte, versiegte die gewalttätige Wut der Menge und verwandelte sich in beißenden Spott über den Hüter des Gesetzes. Daß sich mein Vater diese törichte Anschauung der Menge zu eigen machte und vor allem keine Bedenken trug, sie öffentlich auszusprechen, verstehe ich heute noch nicht völlig, da er doch der Tragik des Lebens, wo immer sie sich zeigte, eine einfache, tiefe Ehrfurcht entgegenbrachte.

      Vielleicht stand er in jener Zeit stark unter dem Einfluß des Tischlers Rinke, der damals öfter und länger als sonst, oft bis tief in die Nacht hinein, an unserm Tisch hockte. Und wenn ich auch allen Grund habe zu glauben, daß mein Vater in seinen Maßnahmen sich nicht von dem Rat des alten Walzkollegen leiten ließ, so wird ihm wohl der bittere Widerspruchsgeist dieser scheelen Seele eine Zeit geschadet haben. Denn Förderndes ist aus dem Zwiespalt mit dem Bürgermeister uns nicht erwachsen. Trotzdem der Postbote und der Polizist fast alle Tage lange Briefe ins Haus schleppten, obwohl mein Vater immer und immer wieder in knirschender Geduld große Bogen Papier mit seinen ungelenken Buchstaben füllte, die Senkgrube mußte verschwinden, und als Zugabe zu seiner Niederlage bekam er die unversöhnliche Feindschaft des Herrn Schrader. Ich habe nicht bemerkt, daß mein Vater betrübt darüber gewesen wäre, konnte er sich doch immerhin mit dem Gedanken trösten, sein scharfes Zupacken habe dem Magistrat den Mut zur Vernichtung der ganzen Burgzeile genommen, die tatsächlich unterblieb, aber wohl nur deshalb, weil sie allein in dem heimlich wimmelnden Nest der Träumer und Phantasten ausgebrütet worden war.

      In diesem Trost, der doch eine Täuschung war, bestärkte ihn Rinke, ein von meiner Mutter instinktiv wenig geschätzter, einsiedlerischer Mann. Er war sicher der einzige Mensch, dem mein Vater in Freundschaft verbunden war, obwohl er in allem Äußeren und Inneren seinen ärgsten Gegensatz bildete. Nein Vater, ganz der Mann freier, zuversichtlicher Kraft, mit einer hohen Stirn, die an jeder Seite in einem tiefen Winkel in sein glänzend schwarzes, immer kurzgehaltenes Haar schnitt. Den Kopf herrisch getragen, den starken Schnurrbart stets wie energisch seitwärts gerissen, mit leidenschaftlich-sicherem Schritt, wandelt er durch die Erinnerung an jene und frühere Zeit. Nur über dem schwarzen Augengrund lag manchmal eine blinde Wolke, wenn er versonnen sich verlor, und seine Mundwinkel sahen dann bitter eingesägt aus.

      Der Tischler Rinke hatte ganz das Wesen eines Gnomen. Der Mann war irgend einmal im Leben zerbrochen und dann notdürftig wieder zusammengeleimt worden. Seinen Oberkörper trug er stets geneigt, den Nacken gekrümmt. Die Augen in dem mageren, stets glattrasierten Gesicht, das durch den Ausdruck einer fatalen Güte entstellt wurde, sahen scheu bohrend von unten her. Seine Bewegungen, nicht unedel, wirkten doch unangenehm, denn es haftete ihnen eine Sanftmut an, die nicht überzeugte. Die Stimme klang wie aus einer eingeschlagenen Brust.

      Das war der Mann, mit dem mein Vater am Stecken einen großen Teil Deutschlands und Italiens durchwandert hatte, ein Mensch, der sicher in den Grundwassern des Lebens wohnte und dem es, nach dem Feuer seiner oft gesenkten Augen zu schließen, eine Leidenschaft war, sich an dem Dasein immer und immer tief zu verwunden. Möglich, daß diese Gewalt seiner Schwäche das innerste Band zwischen den grundverschiedenen Männern bildete. Denn er war um zehn Jahre älter als mein Vater, und die Haare, obwohl noch ungebleicht, lagen als dünne, glanzlose Schicht über die Schläfe hin, immer peinlich geordnet, nach der Art pedantischer Greise. Sein Lachen konnte zu Zeiten jung klingen, und er erhielt sich in seinen abseitigen Winkeln vielleicht nur um dieses beseelten, schönen Tones halber, den eine lange