floß wie ein graues Wasser vor mir, und der Griff war nicht zu finden.
Plötzlich fühlte ich mich an der Achsel gefaßt und wurde herumgezogen. Willmann stand dicht vor mir. Sein Gesicht strahlte in der tiefen Güte, die ich an ihm gewohnt war. »Nein, nein,« sagte er herzlich, »so war es nicht gemeint. Komm' und setz' dich, mein lieber Junge!« Er zog mir die Mütze aus der Hand, drückte mich auf die Bank und neigte sich so nahe zu mir Erschüttertem, daß sein Bart meine Wange streifte. »Hat die Ohrfeige sehr weh getan. Faberlein?« fragte er liebreich.
»Herr Willmann, wenn Sie alles wüßten«, stammelte ich vorwurfsvoll und griff nach seiner Hand.
Er erwiderte den Druck mit voller Herzlichkeit und sagte: »Faß dich nur jetzt! Wenn du älter geworden bist und daran zurückdenkst, hoffe ich, wirst du mir nicht mehr zürnen deswegen, denn wer sich gegen seine Vorgesetzten auflehnt, muß ein Recht dazu haben in der Notwendigkeit seines Lebens. Der Aufsässige aus bloßer Leidenschaft wird ein unfreier und knechtischer Mann.«
Ich hob den Kopf, um etwas zu erwidern. Er ließ mich nicht beginnen, sondern fuhr fort: »Nein, nein, ich weiß schon. Was die Lehrer dir angetan haben, war töricht und hart. Abzubitten gibt es da natürlich nichts. Doch nun sage mir alles, was du sonst auf dem Herzen trägst, vielleicht kann ich dir helfen.«
Das erstemal in meinem Leben kam die Wollust des Ausströmens über mich, die eine Angst und neues Beladen ist. Wie man aus einer dunklen Stube in die andere flieht, so entrann ich mit meinem Wort der Gebundenheit unabwendbarer Tatsachen, um mich zum Schlecken in meinem Leben erst recht als in einer weglosen Fremde wiederzufinden. Mein Erzählen wurde ein Jagen, ein Wirbel leidenschaftlicher Ausrufe. Wie Stößer, vom Sturm getrieben, taumelten meine Worte, und mir ging die Empfindung ganz verloren, was zu verschweigen und was zu bekennen sei. Ich vergaß, wo ich war und was das Neben sollte, das wie ein Rausch mit mir arbeitete. Als säße ich einsam am fremden Tisch in einsamer Stube, niemand zum Genossen, als den Klang meiner zerhackten, freudlos heißen Stimme, so redete ich von meiner Frömmigkeit und ahnungsvollen Kindersehnsucht nach Licht, dem Kampf meines Vaters mit dem Tischler und Pfarrer, von Zimbals Härte, von Kaliske, Hirzels Tod und dem Pfarrer Nitsche. Die Zweifel an meinem Glauben, die ich vor mir verheimlicht und doch alle getreulich aufbewahrt hatte, tauchten herauf wie grelle Sicherheiten, und da es für mich damals noch keinen anderen Standpunkt gab denn den, die Kirche wirklich als eine Institution Gottes und jeden Priester als seinen geheiligten Diener anzusehen, einen Himmelsmittler, hocherhoben über die Menschen: Ward ich nicht nur tiefer ratlos in meinem Leben und mutlos im Herzen, während ich erzählte, sondern sogar irre an Gott selber, weil gerade von der Kirche mir das schwerste Unrecht widerfahren war und ihre Gewalten meine Not wie eine Schande behandelt, mich verlassen, von sich gestoßen und verfolgt hatten.
Als ich geendet hatte, erwachte ich wie aus einem Traumwandeln und wußte nicht, sei es der Nachhall meiner Stimme, der sich lang und singend durch die Stube dehnte, oder sei es der Laut des Windes, der sich aufgemacht hatte und um die Fenster strich. Willmann sah mir gegenüber, finster und leidenschaftlich, seine Augen groß und kochend, und sein Mund bewegte sich in leisen, stoßenden Worten, die ich nicht verstand.
»Herr Willmann«, sagte ich zaghaft und bittend. Er rührte sich nicht aus seinem bösen Bann. »Herr Willmann«, bat ich dringender. Der Greis verharrte noch eine Weile versunken und entstellt. Dann richtete er sich schwer auf und lenkte seinen Blick auf mich. Sein Auge war tastend und unsicher, als sitze ich in großer Ferne, oder als liege dichter Nebel zwischen mir und ihm. Während er mich so zu suchen schien, sank die Härte ganz aus seinem Gesicht, und jener trauervolle Ernst kam in den Zügen auf, der mich von ihm geschreckt hatte, wenn ich früher mit Fragen über den Sinn des Lebens in ihn gedrungen war.
Nachdem er mich lange sinnend betrachtet hatte, sagte er: »Faber, und wenn ich dir nun den Rat gebe, gehe nach Hause und versuche mit ernstem Willen, ob du es über dich bringst, daß dein zerschlagener Glaube wieder zusammenheilt, könntest du das, mein lieber Junge?«
»Herr Willmann,« antwortete ich, »wenn ich nur vergessen könnte, was ich erfahren habe und gegen meine Absicht sinnen mußte. Aber wenn ich sitze und im Katechismus lese oder in der Bibel, so steht es in mir auf und mäkelt an allem, und Zweifel fressen an mir. Ich kann nicht mehr beten, und selbst von den Sakramenten kommt kein Frieden in mich. Denn sehen Sie, die Priester lehren anders und handeln anders, und gar vieles aus den Naturwissenschaften stimmt auch mit ihrem Wort nicht überein. Ist es falsch, warum lehrt man es uns? Ist es wahr, warum muß ich anders glauben? Ich kann nicht! Ich kann das nicht, was sie von mir wollen.«
Wieder verging eine lange Pause. Willmann saß regungslos da und sann schwer vor sich nieder. Dann begann er in demselben fast drohenden Ernst: »Ich wollte, es stünde anders um dich. Aber es läßt sich wohl nicht mehr auswischen. Das sehe ich. Ja, es ist finster um dich, und wenn ich dich gehen lasse in deiner Not, so kannst du stürzen, und ich müßte mir Vorwürfe machen, daß ich dir nicht beigesprungen bin mit der Hilfe, die ich habe.«
Darauf fuhr er entschlossen in die Höhe und sagte fest: »Gut, es muß sein!«
Ich hatte mich auch erhoben. Willmann packte mit festem Blick in meine Augen, streckte mir die Hand über den Tisch entgegen und sprach: »Aber Faber, hier versprich mir's, daß du in deinem Leben keinen unrechten Gebrauch machen willst von dem, was sich dir nun öffnen soll. Denn viele sind schon zugrunde gegangen daran. Und ich weiß nicht, was mir geschähe, wenn es zu deinem Verderben ausschlüge. Nun geh' nach Hause, und morgen, wenn du Zeit hast, wollen wir den Vorhang wegziehen.«
Stumm und tief ergriffen tastete ich mich durch den finsteren Vorraum, und Willmann schloß hinter mir ab. Eben schlug die Uhr auf dem Ratsturm zwölf. Der hohe Wind blies die Schläge ineinander, daß sie sich anhörten wie ein einziges mächtiges Signal.
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Am andern Abend fand ich mich bei guter Zeit in dem Turmzimmer ein, und der Alte begrüßte mich mit ernster, vertrauter Freundlichkeit. Mit keinem Wort kam er auf die Vorgänge der vergangenen Nacht zurück. Nach einigen belanglosen Fragen schob er den grünen Vorhang von der Nische und enthüllte seine kleine Bücherei. Da standen die Werke von Renan, Feuerbach, Strauß, Spinoza, Darwin, Kant, Gibbon, Ranke und mancher anderer großer, freier Männer. Dies und jenes der Bücher nahm ich mit ehrfurchtsvoller Erregung in die Hand, wog und betastete es, kurz, sättigte in jugendlich überschwänglicher Weise meine sinnliche Neugier, bis er mit Lächeln den Vorhang wieder zuzog. »Das sind nun die Bösewichte,« sagte er dann, »die dir bis jetzt den Zutritt in meine Stube verwehrt haben. Aber wenn ich dich mit ihnen nun bekannt mache, so warne ich dich im voraus, ihnen aufs Wort zu glauben und so in ähnliche Abhängigkeit zu geraten, wie die ist, aus der du dich lösen willst. Den Gott können sie dich so wenig lehren, wie irgendwer auf der Welt, den mußt du in deinem eigenen Herzen erleben. Aber den Schutt wollen wir aus der Seele räumen und niedrige, unwürdige Dächer einreißen, daß du zu dir gelangen kannst, denn der einzige Weg zu Gott ist der Mensch selbst!«
Er saß eine Weile und sann. Darauf fuhr er fort: »Rühme dich auch deines neuen Wissens keinem Menschen gegenüber. Man soll keinem Brot reichen, der an Brei gewöhnt ist, und wenn du deinen Mund nicht hältst, so werden sie dich verfolgen und nicht ruhen, bis sie dich zugrunde gerichtet haben. Bist du reif und sicher, magst du tun, wozu dein Herz dich treibt. Denke an deinen Vater!«
So oder doch ähnlich so redete er zu mir, und ich versprach, ganz nach seinen Worten zu handeln.
In der gleichen, ernst-würdigen Art lehrte und handelte er alle die vielen Stunden und vergaß auch nicht, mich immer und immer wieder zu treuem Fleiß in der Schule zu ermahnen. Seine Unterweisungen sollten zwei Teile umfassen, einen negativen und einen positiven. Leider haben die Ereignisse nur die Abhandlung der ersten Hälfte zugelassen. Aber das wußten wir ja damals nicht. Voll Begeisterung und einem Eifer, als gelte es die Welt aufs neue zu erobern, gingen wir an die Arbeit. Teils trug Willmann an der Hand von Aufzeichnungen, die er sich tagsüber gemacht hatte, vor, teils las er aus diesem oder jenem Werke vor, das den Gegenstand, um den es sich gerade handelte, in wissenschaftlich gründlicher Weise beleuchtete. Manchmal mußte auch ich vorlesen. Seine Absicht ging dahin, mir den Beweis zu liefern, daß die Kirche nichts als eine geschichtlich gewordene Institution