Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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eine Stufe, um zu warten, bis die Stunde vorbei sei. Da konnte ich ihn außerdem sicher abfangen, wenn er sich drücken wollte. Doch wie ich so eine Weile in dem halben Dunkel saß, kam die Müdigkeit schwer über mich. Um den Schlaf zu verscheuchen, rief ich mir alles ins Gedächtnis zurück, was ich sagen wollte und murmelte es zwischen meinen gespreizten Beinen gegen die Diele: Noch Origines wußte nichts von der Hölle, nur von Gewissensqualen ... Paulus, der Apostel, warnt in Kolosser zwei, achtzehn, vor dem Glauben an Engel... Es war, als schraube der Schlaf schmerzhaft mein Hirn ein; aber ich riß mich auf und begann, die Geschichte von den Dekretalen des Isidorus zu sagen. Mehr weiß ich nicht.

      Nach vielleicht einer halben Stunde fühlte ich einen Druck auf meiner Achsel. Als ich die Augen aufschlug, gewahrte ich zunächst nichts als ein gelb-rötliches Schummern um mich. Ich versuchte vergeblich, es zu durchdringen und neigte dann den Kopf, um weiterzuschlafen. »Herr Faber,« sagte da eine feine, ängstliche Mädchenstimme, »was machen Sie denn hier?« Nun wurde ich des Schlafes Herr und schlug die Augen auf. Vor mir stand Wally Göppert, neigte sich so tief zu mir herab, daß der Rand ihres Strohhutes meine Stirn berührte und fragte bekümmert: »Sind Sie denn krank?« Ich konnte nicht begreifen, was geschehen sei, sah mich erstaunt um, und als ich neben mir die Traillen des Treppengeländers erblickte, erfaßte ich ungefähr die Ereignisse, die mich hierhergeführt hatten. »Ich warte«, sagte ich dumpf. »Was sagten Sie?« fragte das liebe, blasse Mädchen mit fliegender Stimme und neigte sich wieder zu mir. Da traf mich der Geruch ihres Haares. Eine heiße, schmerzvolle Betörung kam über mich. Denn ich dachte, sie sei mir nachgeschlichen und wolle mich nun erretten. »Wally,« flüsterte ich, »liebe Wally!« und streckte ihr verlangend beide Hände hin. Sie erfaßte meine Finger, zog mich sanft nach dem Ausgange zu und hauchte in großer Aufregung: »Um Gottes willen, wenn uns jemand hier trifft!« Eine dunkle Überzeugung, daß ich hierbleiben müsse, lehnte mich zurück. Da näherten sich droben im Flur hinter einer Tür Schritte. In höchstem Schrecken sprach sie: »Es kommt jemand!« und eilte die Treppe hinunter. Ich taumelte ihr nach. Als mich auf der Straße die kühlere Nachtluft anwehte, wurde ich ganz wach und wußte, daß ich meinem Vorsatz untreu geworden sei. Am liebsten wäre ich weggelaufen und hätte mich wieder auf die Lauer gelegt. Aber ein Bangen schnürte meine Brust ein. und so blieb ich an der Seite des Mädchens. Wir gingen den dunklen Stadtgraben hin und wider. Keines wagte ein Wort zu sprechen. Ich hörte auch sie von Zeit zu Zeit schwer atmen. Plötzlich rief sie: »Da fällt ein Stern!« und streckte die Hand nach dem Nachthimmel aus.

      Ich sagte: »Ja, es war ein weißer!« und blickte wie trunken auch hinauf. Dann begann sie mit weicher, ruhiger Stimme zu erzählen, wie sie auf dem Wege zu ihrer Schneiderin mich anfangs nicht recht erkannt und für einen Trunkenen gehalten, nach dem Verlassen der Brendelschen Wohnung sich aber überzeugt habe, daß ich es sei, der, wohl von plötzlichem Unwohlsein befallen, diesen absonderlichen Ort aufgesucht habe, um sich zu erholen. Die seltsamen Worte, die ich im Schlaf vor mich hingesprochen, hatten sie besonders erschreckt.

      Anfangs wiegte ich mich auf dem Tonfall ihrer stillen, sanften Stimme, ohne eigentlich recht dem Sinn der Worte zu lauschen. Je mehr aber ihre Erzählung fortschritt, desto mehr kam der kalte, unerbittliche Schmerz über mich, und als sie am Ende nach der Bedeutung meines Traumredens fragte, stand es kraß vor mir: ich müsse nach Hause, meinen Vater aufreißen und mit ihm in ein neues Leben gehen. Wir waren durch den Torbogen an der Ritterstraße geschritten und befanden uns am Anfange dieses kurzen, dunklen Schlundes. Mein Gram und der Schmerz der ersten Liebe, die Ersehnte, kaum gewonnen, wieder verlassen zu müssen, stürzten mich aufs neue in einen bitteren Rausch, und unvermutet ergriff ich ihre Hand, bedeckte sie mit Küssen und stammelte irgendwelche Worte, ließ sie stehen und lief dem Ringe zu, der mit seiner Ecklaterne fahl in die Gasse hereinblinzte.

      In wenigen Augenblicken trabte ich schon den Burgberg hinunter.

      In der Stube meiner Eltern kam ich wieder zu mir.

      Meine Mutter bemühte sich, mich Erschöpften aufzurichten, der auf dem Schemel am Werktisch zusammengekauert saß. Ich konnte nicht sprechen und strengte mich fortwährend an, den Hut zu erlangen, der neben meinen Füßen lag. Die Hände meiner Mutter zitterten, und sie drang mit aller schonenden Liebe in mich, zu sagen, was mir fehle.

      Mein Vater stand am Fenster: steif, stumm und bleich. »Nun, was hat's also?« brach er endlich los.

      »Nichts hat's – nichts – nichts – rein gar nichts!« antwortete ich dumpf.

      »Aha!« sagte er nach einer Pause, kam mit langen, leisen Schritten auf mich zu, blieb vor mir stehen und musterte mich durchdringend vom Kopf bis zu den Füßen. »Siehst du.« rief er dann mit wankender Stimme an mir vorüber der Mutter zu, »so muß es kommen! So – so – man hat ja einen breiten Rücken. Nun ladet der Junge noch seinen Pack darauf. – – – Zum Donnerwetter, also was gibts?«

      Drohend wartete er eine Weile auf Antwort.

      Ich konnte nur schlingen und bebte am ganzen Leibe. Da sah ich, daß er ein langes Messer vom Tisch raffte. Ich sprang auf. Er aber packte mich an der Brust, rüttelte mich und sprach so nahe in mein Gesicht, daß mich sein kochender Atem ganz übergoß: »Rede! Auf der Stelle! Und wenn du, Hund, Schande in mein Haus gebracht hast, so stoß' ich dir das Messer zwischen die Rippen. – Nun, wird's?!«

      »Wenn du mich nicht losläßt, schon gar nicht«, stotterte ich.

      Er ließ mich fahren, trat zurück und rief: »Haha, nun wird's gut! Also doch, wie?«

      Ich aber sank wieder auf den Schemel. Mein Herz wogte müde, und mein Leben lag wie ein verwüstetes Land in mir. Ich war schwach wie ein Kind, das eben die Krämpfe verlassen haben.

      Warum stirbt man in solchen Momenten nicht, da alle innersten Lichter erlöschen.

      Stier und tonlos, die Dielen mit leeren Augen betrachtend, sagte ich endlich: »... Du hast recht. Vater ... Hunde, ja Hunde ... es ist alles Lüge, alles ... der Gott der Kirche ist ein Wahn ...«

      Und obwohl ich das heute schon so oft gesagt hatte, kam jetzt, da ich es vor meinen Eltern wiederholte, eine verzweifelte Angst über mich, und ich schrie qualvoll: »Wir müssen den wahren Gott suchen!«

      Dann sank mir der Kopf auf die Brust, und ich fühlte auf meinen Händen, daß ich weinte.

      Der Vater trat herzu und hob mir sanft das Gesicht herauf.

      »Franz. um Gottes willen, rede«, sagte er weich. Aus seinem Antlitz war alles Blut gewichen, und feine schmalgenagten Lippen bebten.

      »Ich bin nicht schlecht. Vater.« sprach ich schwach, »und wenn ihr ein wenig Geduld mit mir habt, will ich alles sagen.«

      Der Vater trat zurück und lehnte sich mit aufgestützten Armen so an den Tisch, daß er das Licht der Lampe verdeckte. Ich war froh, daß er mein Gesicht nicht sehen konnte.

      Dann begann ich zu erzählen.

      Mein Vater rührte sich nicht. Seine Gestalt schien sich unhörbar auseinanderzurecken.

      Als ich von meiner Sehnsucht, seiner Bedrängnis zu helfen, redete, breitete er die Arme nach mir aus und rief erregt: »Kind! Mein Kind!« Aber er ließ sie bald wieder sinken, neigte den Kopf so tief, daß sein Kinn auf die Brust stieß und murmelte: »Weiter! Weiter!«

      Es wurde wie ein Eisgang in mir und alles strömte heraus, was mich bis zur Zerstörung gepeinigt hatte, nur von Willmann und Wally Göppert schwieg ich. Dann war ich am Ende.

      Mein Vater hing zusammengeschrumpft am Tisch und hielt seine Augen auf etwas Unsichtbares gerichtet. Das schien ganz fern zu liegen. Dann schüttelte er sein Haupt, und der Flug eines bitteren Lächelns zerknitterte seine Züge. Er hob seine Faust vor die Augen, öffnete und schlug sie wieder ein. Dabei begann er, das Ferne anzureden:

      »O ja, die schlügen wohl noch, o ja! – Aber, was würdet ihr dann sagen, ihr zwei toten Augen, die nicht tot sind!? Ich weiß, ihr seht alles. Nein, ich hab' dir gefolgt, ich hab' sie dir nicht zugedrückt, und überall gehen sie mit mir wie Engel ... wie Engel? ... doch nun ... dein Herze muß das wohl wissen. – – Aber, müssen die Toten nicht tot sein, und wären's Mütter? Muß mein Leben immer über deinen Sarg stolpern?