Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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ich Unseliger ließ mich wirklich übertölpeln und antwortete: »Ich dachte im Moment an Alexander den Sechsten und Benedikt den Achten.«

      »Schweigen Sie, schweigen Sie!« fistelte er in höchster Wut. »Jetzt habe ich Sie erkannt, und alles ist wahr. Setzen Sie sich«, fügte er nach einer Weile voll Verachtung hinzu und nahm zögernd den Vortrag wieder auf.

      Plötzlich aber brach er ab und sagte gequält: »Nein! Nicht! Die Luft ist mir zu verdorben hier«, ergriff mit bebenden Händen den Hut und stürmte hinaus, wobei das Haarmäuschen auf seinem Kopfe ein entrüstetes Männchen machte.

      Furchtsam sahen mich meine Mitschüler an, denn sie begriffen offenbar den Vorgang nicht. Mir aber kam alles schrecklich komisch vor, und ich begann laut zu lachen. Doch die Reue folgte.

      Zu Hause saß mein armer Vater am Werktisch, den Nähkloben zwischen den Beinen und zog emsig den Faden durch den Lederbesatz von Hosenträgern. Bei meinem Eintritt in das Zimmer warf er die verhaßte Arbeit hin.

      »Na, wie is?« Er stand auf und erwiderte mit diesen Worten meinen langen, trauervollen Blick.

      »Gelt ja, immer Hosenträger – Hosenträger – Hosenträger!

      Ja, und noch einen Pfennig weniger pro Stück. Man möchte sich aufknüpfen am ersten besten ... aber was will man machen? Junge, Junge!«

      »Wie wär's, Vater, wenn du in der Zeitung ...«

      »Haha!« Er fiel mir mit Hohnlachen ins Wort. »Junge! Weiter nichts.« Das sagte er bitter und machte eine abwehrende Handbewegung durch die Luft. »Nicht wahr? In den Zeitungen, so etwas wie versteckte Bettelei treiben, damit alle sagen dürfen: dem Faber lauft das Wasser in die Mundwinkel. Niemals! Na, und?«

      Er stand vor mir und wartete spöttisch auf einen neuen Einwurf. Eine ferne, leise Angst vor schwerer Verantwortung, die ich durch die unbedachte Antwort an den Religionslehrer auf mich geladen hatte, brachte mich dazu, einen andern Vorschlag zu äußern.

      »Oder wie wär's.« sagte ich. »wenn du die Waren weniger genau und aus leichteren Zutaten herstelltest, damit du mit den Fabrikwaren der Geschäfte konkurrieren könntest?«

      »Die Waren!« höhnte er. »Wer fragt mich nach Waren!« Dann trat er an seinen Meisterbrief, der eingerahmt an der Wand neben der Tür in dem Laden hing, fuhr über das Glas und murmelte bitter: »Meister. Meister ... ha!«

      Darauf wandte er sich wieder zu mir und sprach: »Was ich aus der Hand gebe, muß so redlich und gut sein, wie jedes Wort aus meinem Munde. Wer lumpige Arbeit macht, wird langsam selber ein Lump!« Darauf verfiel er in Brüten.

      Meine Mutter aber stand geknickt an der Ofenbank und wagte nicht, die Wassersuppe auf den Tisch zu tragen.

      Das Fenster war halb geöffnet. Das Schüttern eines Lastwagens tönte vom Stadtgraben herauf, dumpf und hohl, wie die Bässe eines Trauermarsches. Dazwischen hörte man den leisen Gesang spielender Kinder aus dem Spitalgarten:

      Ringel, ringel Kasten,

       morgen müss' mer fasten ...

      Die Wanduhr tickte hüstelnd in unseren Kummer. Da scholl der schrille Pfiff einer Lokomotive vom Bahnhof herüber.

      Mein Vater fuhr herum, stürmte über die Stube und schlug das Fenster zu.

      »Ich kann das Pfeifen für meinen Tod nicht leiden«, murmelte er und ging an seinen Platz auf dem Sofa.

      Ich aber hätte weinen mögen vor Trauer über meine Voreiligkeit gegen den Pater Neumann.

      Eine große Unruhe und unbezwingbare Furcht, als stehe mir die Auflösung und Zerstörung meines ganzen Lebens bevor, bemächtigte sich meiner und trieben mich umher.

      Die Straßen des Städtchens wurden mir oft zu eng, und ich irrte draußen in den Feldern umher. Aber überall schreckten mich meine Einbildungen: Die Berge zitterten grau und erschöpft, wie Aschenhaufen in dem Dunst der mittsommerlichen Luft; die Bäume wagten kaum ein Blatt zu wenden, und die Sträucher lauerten wie verendetes Wild auf den Raien. Und einst sah ich fern von mir einen Mann auf der Straße, der blieb von Zeit zu Zeit stehen, fingerte erregt zum Himmel, trabte in komischer Eile ein Stück weiter, den Rücken gekrümmt, als suche er etwas Verlorenes und begann dann über den Graben zu springen. Dabei hörte ich ihn laut rufen, als feuere er sich an, und meckernd lachen. Neugierig spielte ich mich zwischen den Ährengassen heraus auf die Chaussee und sah ihn bald vor mir. Es war der irre Dorn-Schuster. Noch immer sprang er herüber und hinüber. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen weit und erregt, seine Mütze saß ihm im Nacken. Ich rief ihn an. Da stand er still, ging an den nächsten Baum, kratzte mit den Fingernägeln an der Rinde umher und kam dann unvermutet so schnell auf mich zu, daß ich zur Seite treten mußte, damit er mich nicht umrenne. »Kennen Sie mich denn nicht. Herr Dorn? Ich bin ja der Faber-Franz, der Sohn des Sattlermeisters Robert Faber, Robert«, sprach ich. Er richtete sich stier auf und horchte wie auf ein rätselhaftes Geräusch aus der Ferne.

      »Aha,« sagte er und streckte mir seine mehlweiße, große Hand hin. »ein Sohn, haha, ein Sohn! Wissen Sie, ein Sohn! – Ein Sohn!«

      Er schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Gebärde mit der Hand. Dann schaute er finster auf die Erde und atmete aus wie ein überwachtes Tier. Bald aber erholte er sich zu seiner kindhaften Fröhlichkeit und begann unbändig zu lachen: »Also, hähähä. Sie sind also ein Sohn. Komisch! Das ist wie mit dem Könige von Serbien. Wie der aso die Leute – und auf der Heinoldhöh' stürzte ein Wagen, pardautz, samt 'm Bauer über den Rand nunder. Jaja, der Wind, der Wind! Es is mit 'm Bürgermeester sei'm Hunde auch nie anders. Da hat der Pfarrer gesagt: Recht muß Recht bleiben; aber das Wasser, das Wasser –! Das kümmert sich um nischt. Das geht bergunter. Ja. Na, ich muß gehen. Die Schwester Marianne hat nämlich die Raupen eingesperrt. Adje!«

      Er wandte sich ab, sprang zehnmal über einen Straßenstein und tollte dann gestikulierend und lachend in die Stadt zurück, ins Spital.

      Mir lösten sich die Knie. Ich mußte mich auf den Grabenrand setzen. Nach langem fiel es auf meine Seele: Wenn es deinem Vater geht wie dem Dorn-Schuster, dann bist du schuld. Du! Du!

      Ich blieb erstarrt sitzen, bis die Abendschatten mich nach Hause trieben.

      – – – – – – –

      So kamen die großen Ferien heran.

      Drei Tage vor Beginn der Freiwochen, zum Schluß der letzten Unterrichtsstunde, verlas der Direktor die Namen der mit einer Unterstützung Bedachten.

      Jener seltsame Instand, in dem man mit Inbrunst die Erfüllung einer Hoffnung ersehnt und sich zugleich sagen muß, daß jede Erwartung töricht sei; jenes Herzklopfen schlotterte in meiner Brust, das heiße, kurze Atemstöße loslöst, während das Denken eine kalte Starre im Bann hält.

      Nichts als das Bestreben, unter allen Umständen eine würdige Haltung zu bewahren, verleitete mich, meinen Nachbar zu fragen, wann er abzureisen gedenke, als der Direktor hinter seiner Kopfbedeckung in der Klasse erschien. Ich erhielt keine Antwort. Der Gefragte sah gespannt auf das Katheder, wo Doktor Bode seine Brillengläser putzte und indessen schiefen Kopfes nach dem Bogen schielte, der vor ihm lag. Ich fühlte mich allein und verlassen und glaubte, auf dem Rücken von den schadenfrohen Augen meiner Mitschüler ein Brennen zu spüren. Am den Direktor nicht ansehen zu müssen, ergriff ich in meiner Verlegenheit und Aufgeregtheit ein Tintenglas, neigte es zu mir her und blickte gespannt hinein.

      Derweil begann der Mann mit dem Kanzleibart die einleitenden Worte.

      »Es gereicht mir zur Freude,« so sprach er etwa, »den meisten von Ihnen eine Freude bereiten zu können. Sie werden heut' die Stipendien erhalten. Fleiß und Bedürftigkeit sind auch diesmal wieder die ausschlaggebenden Faktoren, beziehungsweise Gründe für die Bemessung der Höhe der Unterstützung gewesen. Daß daneben die Führung sehr schwer ins Gewicht gefallen ist, versteht sich von selbst. Nur ein Fall ist bei der diesmaligen Verteilung als Novum vorgekommen. Wir mußten einen Schüler trotz guter äußerer Führung und tadelloser Leistungen wegen einer Gesinnung ausschließen, die die Grenze des Erträglichen