Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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Augen zu! Ein einziges Mal mach' sie zu, einen Tag und eine Nacht! Ich bitt' dich um alles in der Welt!« Er hatte zwei springende Schritte in die Mitte der Stube getan, toll seine Faust in die Luft gebohrt, war wieder starr geworden, und aus den Schächten seiner Vergangenheit kam es wieder hervor: »... sengen, morden, brennen – denn das Gericht ist für Lumpen – es würde so. Ein Rebeller, wie mein Vater, und mit Schande zugedeckt ...« Plötzlich stockte er, sah sich in höchster Aufgeregtheit um und stürzte, wo er stand, auf die Knie, hob seine ausgezehrten braunen Hände betend empor wie ein Kind und rief in inbrünstiger Qual:

      »Du meine Mutter, du hast mich im Leibe getragen, hilf mir! Mich packt die Wut! Es wird mir rot vor den Augen!«

      Meine Mutter war von der Ofenbank gerutscht und lag, die Hände über dem Kopf gefaltet, auf der Diele.

      Ich sprang in höchster Bestürzung auf.

      »Vater!« hauchte ich in Sorge.

      Da riß es ihm den Kopf herauf. Graue Scham im Gesicht, arbeitete er sich auf die Füße. Als er die schluchzend daliegende Mutter gewahrte, trat er zurück, beschattete seine Augen mit der Hand, stand eine Weile überlegend und drückte sich dann stumm wie ein Verurteilter durch die Tür.

      Hinter gütigem Zuspruch hob ich meine Mutter auf. Ihr Leib war welk, ihr Gesicht eingefallen. Während ich sie zum Sofa gängelte, murmelte sie fortwährend: »Nun hab' ich keine Hoffnung mehr ... nun hab' ich keine Hoffnung mehr ...«

      Gegen meinen Kuß wehrte sie sich mit steifen Armen, zusammengepreßten Lippen und großen, verzweifelten Augen. Sie bog den Kopf in den Nacken und stammelte kämpfend: »... Nein! ... Nicht! Nicht!! ...«

      Ich war selbst am Umfallen und wankte blöde und leer ins Bett.

      – – – – – – –

      Solange die Menschen Brot essen, bleibt ihr Leben irrational, und wenn ich die Welt meines Gemütes mit der Laterne meines Denkens durchleuchte, so werden für alle Zeit weite Strecken und gerade jene sich meinen Begriffen entziehen, in denen die Wurzeln unseres Schicksals liegen. Das Ich, das wir kennen, ist nicht identisch mit dem Ich, wie es ist; denn das Leben des Menschen verhält sich zu seinem Dasein wie die Bildsäule zu dem Berg, aus dessen Marmorbrüchen sie stammt. Aus dieser Erkenntnis rührt alle Hoffnung und Verzweiflung der Menschen.

      Als ich am Morgen erwachte, war es mir, als sei mein Dasein zu Schutt zerschlagen. Ich fand mich im zerwühlten Bett zusammengeringelt wie ein verwundetes Tier. Langsam, unter Schmerzen, zog ich meinen Leib auseinander. Da drang das ganze Leid meines jungen Lebens auf mich ein. und ich empfand nicht anders, als strecke ich mich in Martern hinein. Eilig schob ich mich deswegen wieder zusammen, die Knie unters Kinn, wie Kinder im Mutterleibe ruhen. Meine Seele suchte Schutz beim Körper. So hätte ich vielleicht den ganzen Tag gelegen, mit leeren Augen die gegenüberliegende Wand anstierend, wenn nicht der Schlag der Turmuhr an mein Fenster gefahren wäre, mich an meine Pflicht gemahnend. Ich stand auf und sagte mir, daß ich mich um der Eltern willen zusammenraffen müsse. Das war der dünne Faden, an dem ich mich in den Tag zurückgriff. Sonst hatte mich jede Widerstandskraft verlassen. Wie einer, der mit nacktem Leibe einem verheerenden Brande entronnen ist, kam ich in die Stube meiner Eltern. Auch sie traf ich, mit Handgriffen gegen eine Betäubung ankämpfend. Die Mutter diente, umständlich mit den Füßen die Schritte suchend, um den Ofen. Der Vater bastelte versunken am Werktisch. Bei meinem Gruß huschte ein Lächeln schwach nestelnd an den Mundwinkeln meiner Mutter auf, mein Vater sprang nervös-hastig von seinem Schemel und kam mir entgegen.

      »Na, guten Morgen,« rief er mit abgerungener Heiterkeit und gab mir die Hand, »auch guten Morgen. Kind!«

      Ich habe wohl die Trauer und Besorgnis wegen seiner lauten Herzlichkeit nicht ganz unterdrücken können, denn er schüttelte den Kopf und sagte: »Ach, ich bin alt. Das muß man sich eben endlich eingestehen. Wenn man jung ist, ängstet man sich in Träumen. Das Alter hat auch schwere Träume im Wachen; aber die gehn vorüber. Es geht überhaupt.«

      Dann trat er zu meiner Mutter, klopfte sie weich auf die Schulter und sprach mit Jucken im Gesicht: »Kümmert euch bloß nicht um mich! Ich war öfter grob wie Bohnenstroh, ich seh's ein. Aber nu wird's anders. Du vergehst mir ja sonst ganz. Mutter! So wer'n wir's machen: gut zu 'nander sein und fester zusammenrücken.

      Und du,« wandte er sich von neuem an mich, »wisch das Wort aus dem Kopf. Du weißt, welches. Ich habe es aus meinen Ohren gewischt. Das mit dem Gelde muß ertragen werden wie schlechtes Wetter.«

      Bei diesen Worten kehrte mir die Mutter ihr entfärbtes Gesicht zu und sah mich furchtsam an. Deswegen fand ich nicht den Mut, mein Heiligstes vor ihnen zu retten, sondern senkte den Kopf und schwieg. So, den Kopf geneigt und schweigend saß ich auch die letzten Stunden bis zu den Ferien in der Klasse und duldete das Getriebe des Unterrichts, das wie belangloses Gesurr um mich lief. Die Lehrer ließen mich in meiner Abgeschiedenheit sitzen, nur der Pater Neumann fragte mich gleich am nächsten Tage, was ich am Abend bei ihm gewollt habe.

      »Ich weiß es nicht mehr«, antwortete ich und sah gleichgültig vor mich hin.

      Der Geistliche forschte lange in meinem Gesicht und sagte dann verwundert, aber doch mit einem leisen Beben in der Stimme. Wohl wegen meiner stillen Verstörtheit: »Komisch!« und bewegte wiegend seinen Kopf. »Ja, es ist komisch«, antwortete ich und versank wieder in stumme Verschlossenheit. Denn meine Entwickelung schien abgebrochen und zerschlagen zu sein. Von all den inneren Erleuchtungen und leidenschaftlich heißem Planen waren nichts übrig geblieben als leise Geräusche, die mich weltfern, gleichsam außer Hörweite umschwebten: Klopfen, Hämmern. Fallen wie von Brettern, und die nur wahrzunehmen waren, wenn ich die Augen eindrückte und gleichsam in mich zurückkroch. So ging und saß ich umher wie im Schlafwandeln. Meine Eltern sahen diesem seltsamen Gebaren ratlos zu, hüteten sich aber aus Takt, mir mit Fragen und voreiliger Sorge wehe zu tun. Mich hielt Scheu ab, ihren notvollen Zustand durch das Geständnis meiner Lage zu erschweren, weil ich mich schuldig an dem Zusammenbruch meiner Eltern fühlte. Eine Seele gab es, die sich meiner Verfinsterung tätig angenommen und dies Kauern an den verworrenen Straßen meines Lebens in klare Einsicht umgewandelt hätte: Das war der alte Willmann.

      Aber seit dem Tage, an dem ich gegen den Pater Neumann unrechten Gebrauch von meinem verborgenen Wissen gemacht und damit das feierliche Versprechen an Willmann gebrochen hatte, betrachtete ich nicht bloß den Weg zur Turmpforte für mich auf immer verrammelt, sondern ich arbeitete mich endlich zu dem Entschluß durch, solange alle Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Welt, alles Suchen nach Wahrheit zu unterlassen, bis ich die Schuld gegen meine Eltern und die Untreue gegen den ehrwürdigen Greis abgebüßt hätte. Nichts sollte mehr in mir Raum haben als die Sorge für meine Eltern. Durch dieses selbstgeschaffene Gelübde hoffte ich auch den Allgeist Willmanns Zu versöhnen, gegen den ich freventlich gesündigt hatte. Ich glaubte seine Nähe oft zu fühlen im Brausen des Windes, in einem fast redenden Rauschen der Bäume, in einem großen Schatten, den ich, vom Schlafe auffahrend, neben meinem Bett empfand, und nahm diese Beklemmungen und rätselhaften Heimsuchungen für Beweise seines Daseins. So verwandelte sich unmerklich die stille Verlorenheit meiner Seele in stille, ahnungsvolle Sicherheit, und während ich noch als Unwürdiger und Abgedrängter trauerte, näherte ich mich, ohne es zu wissen, schon schüchtern und furchtsam meinem Gott. Allein das Schicksal meiner Eltern war zu weit gediehen. Fall folgte auf Fall, und der Fortgang dieser geheimen Bildung wurde schon im Anfang wieder in Frage gestellt.

      Meine Mutter schien sich am ehesten von uns allen der Folgen jenes Abends erwehrt zu haben, der keinen Zweifel mehr zuließ, welche schicksalsvollen Verkettungen das Glück von unserem Hause fernhielten. Ihre Augen glommen oft in einem Glanz, der mich restlos erfreut hätte, wäre er nicht manchmal in starres Brennen übergegangen. In solchen Momenten faßten ihre Hände, was sie auch hielt, krampfhaft und drohend wie eine Waffe. Aber schnell, wie diese schreckhafte Veränderung kam, ging sie auch wieder, und ich legte ihr leine Bedeutung bei; denn eine obwohl umwölkte, doch tiefe Liebe und Zärtlichkeit verschönte dann tagelang ihr emsiges Schaffen.

      Nach einer schlaflosen Nacht trat ich ungewöhnlich früh in unsere Wohnstube. Das Grau des ersten Lichtes lag wie ein schwerer Dunst in dem Gemach, daß die Gegenstände nur schwach hervortraten. Ich setzte mich an Vaters Platz